Indien ist nicht bereit, sich für Investitionen zu öffnen

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Am 30. November 2010 protestieren Mitglieder der indischen nationalen Vereinigung von Straßenverkäufern in Neu-Delhi gegen direkte Auslandsvestitionen im Einzelhandel. Viele Inder befürchten, der Markt öffne sich auch für große multinationale Unternehmen.Foto: Raveendran/AFP/Getty Images
Von 11. Januar 2012

Jetzt zeigen sich die Auswirkungen vier jahrzehntelanger sozialistischer Wirtschaft. Jedes Mal, wenn Indien einen Schritt in Richtung Wohlstand macht, tut es das gleichzeitig nur mit Widerwillen, weil es sich in der Opferrolle sieht und der festen Überzeugung ist, der ganzen Welt, besonders den Vereinigten Staaten und dem Westen, einen Gefallen zu tun.

Die zeigte sich zuletzt im November, als Indiens von der Kongresspartei geführte Koalitionsregierung versuchte, Investitionen ausländischer Gesellschaften im organisierten Einzelhandel zu liberalisieren. Proteste der Opposition führten schließlich dazu, dass die Regierung diese Maßnahme wieder zurückzog.

Sein Rückzug und seine Reformblockade erklären, wie Indien in drei Jahren vom Paradebeispiel der Globalisierung zum Nachzügler unter den Ländern mit einer aufstrebenden Volkswirtschaft wurde. In den Jahren 2008 und 2009 hatten Indien und China die Finanzkrise gut überstanden, wurden an den hohen Tisch der G20-Staaten geladen und sollten die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts steuern. Als das Jahr 2011 zu Ende ging, lagen jedoch harte Zeiten vor den Interessenvertretern der indischen Wirtschaft.

Die Regierung von Premierminister Manmohan Singh hatte vorgeschlagen, 51 Prozent ausländische Direktinvestitionen im Bereich des Multimarken-Einzelhandels zuzulassen. Das hätte Gesellschaften wie Walmart und Carrefour, die nicht einen einzigen US-Dollar in großen Einzelhandelsgeschäften in Indien investieren durften, ermöglicht, Geschäfte in Asiens drittgrößter Volkswirtschaft zu eröffnen.

Die Singh-Regierung gab die Entscheidung bekannt, eine Erhöhung der ausländischen Direktinvestitionen im Einzelmarkenhandel, zu denen Marks & Spencer und Apple zählen, von 51 Prozent auf 100 Prozent zuzulassen. Mit dem Rückzug der Regierung ist die Entscheidung hinsichtlich der Multimarken-Anbieter hinfällig, wobei die Änderungen in der Einzelmarkenpolitik stattfinden werden.

Der Streit um die ausländischen Direktinvestitionen

Aus drei verschiedenen Gründen kommt es zum Streit um die ausländischen Direktinvestitionen im Einzelhandel.
Erstens: obwohl das Land seit den vergangenen zwei Jahrzehnten zu den größten Nutznießern des Globalisierungsprozesses zählt, bleiben wichtige Teile der indischen Gesellschaft tief misstrauisch gegenüber den Auslandsinvestitionen und glauben zu sehr an völlig bizarre Verschwörungstheorien.

In den vergangenen vierzehn Tagen verglichen einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Multimarken-Einzelhandelsketten wie Walmart tatsächlich mit der ostindischen Kompanie. Zu ihnen zählt auch der Bürgerrechtler Kisan Baburao „Anna“ Hazare, der ein Anhänger der Lehre Ghandis und seit 2011 Indiens führender Antikorruptionskämpfer ist. Die ostindische Kompanie trat in Indien Anfang des 17. Jahrhunderts als Handelsunternehmen auf, gründete schließlich ihre eigene Armee und Regierung und wurde Mitte des 18. Jahrhunderts zur stärksten Macht in Indien.

Zweitens machte der Aufschrei deutlich, wie schwierig es ist, sogar offensichtlich notwendige Wirtschaftsreformen und einen Politikwechsel in Indiens außerordentlich streitbarer und widerspenstiger Demokratie durchzuführen. Beschränkungen von Auslandsinvestitionen im Einzelhandel werden in Durchführungsverordnungen entschieden und erfordern keine parlamentarische Billigung oder Gesetzesänderung.

Wegen des großen Widerstands musste die Regierung kapitulieren. Denn er reichte von den Kommunisten bis zur national eingestellten rechtsstehenden Bharatiya Janata Partei, die beim Thema Wirtschaft keine klare Stellung bezieht. Außerdem wurde sie von kleineren Parteien in der herrschenden Koalition, besonders der Trinamool Kongresspartei Ostbengalens, erpresst.

Schließlich wurde erneut Druck auf die Regierung von Singh ausgeübt, um Indiens Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Denn sie wies vor drei Jahren noch ein Wachstum von etwa zehn Prozent auf, zeigt jetzt aber beunruhigende Anzeichen eines Rückgangs. Das BIP-Wachstum 2011/12 (das indische Geschäftsjahr dauert von April bis März) wird wahrscheinlich das Ziel der Regierung von neun Prozent verfehlen und unter sieben Prozent fallen. Das Defizit bei den Steuereinnahmen wird sicherlich die im Haushaltsplan 2011 vorgesehenen 4,6-Prozent übersteigen und eher sechs Prozent erreichen. Die Rupie fällt gegenüber dem US-Dollar in ein historisches Tief.

Im Regierungsbericht veröffentlichte Statistiken belegen, dass im Oktober 2011 die Industrieproduktion im Vergleich zum selben Monat des Jahres 2010 um 5,1 Prozent abnahm. Der Rückgang im Investitionsgüter-Sektor lag bei erstaunlichen 25,5 Prozent, was auf Geschäftspessimismus und Zurückhaltung bei der Investition in neue Kapazitäten hinweist. Die Abnahme der ausländischen Direktinvestitionen und des Vertrauens der Kapitalanleger auf Indiens Kapitalmärkten geben auch Anlass zur Sorge.

Die ununterbrochene Inflation und der Versuch der Regierung, sie durch fiskalische Maßnahmen zu kontrollieren – die Landeszentralbank Indiens hob die Zinssätze in den vergangenen 20 Monaten 13-mal an – erzeugten einen Teufelskreis. Am 12. Dezember 2011 twitterte Anand Mahindra, Chef der Mahindra Group, der zu Indiens bekanntesten Wirtschaftsmagnaten zählt: „Die Wirtschaft befindet sich in einem echten Unwetter.“

Drittens: Um die Vorteile eines vernetzten Wirtschaftssystems zu optimieren, darf sich ein Land nicht nur auf die Globalisierung ausrichten, sondern muss auch auf ein weiteres „g“ ­- Governance (Internationalem Ausgleich) Wert legen. Und hier kam Indien ins Schleudern. Selbstzufrieden über die Unvermeidbarkeit schnellen Wachstums steckt die kongressgeführte Regierung hinsichtlich der Notwendigkeit und politischen Gesetzmäßigkeit von Deregulierung, Aufhebung von Kontrolle und marktfreundlichen Reformen in einem inneren Dilemma.

Während Premierminister Singh dem Wachstum offensichtlich eine hohe Priorität einräumt, ist seine Parteipräsidentin und politische Chefin, Sonia Gandhi, anderer Meinung. Die steigende Rechnung für eine Reihe von Sozialfürsorge- und Beihilfeprogrammen, für die sie sich einsetzt, wirken sich verheerend aus. Paradoxerweise hätte die ländliche Anhängerschaft, die sie ja schützen möchte, am meisten von der jetzt verpfuschten Reform profitiert.

Ein indischer Wirtschaftswissenschaftler warnt davor, Indien leichtfertig zu einem zweiten Brasilien werden zu lassen: „Wir hörten seit den 1960er-Jahren davon, Brasilien könnte die nächste Großmacht werden. Alle paar Jahre gibt es Anlass zu dieser Hoffnung, doch es kommt nie dazu.“

Pro und Kontra

Die Initiative, größere ausländischen Direktinvestitionen im Einzelhandel zu erlauben, wurde nach einer beträchtlichen reformistischen Pause ergriffen. Singh versuchte auf diese Weise, den Eindruck von politischer Lähmung zu widerlegen. Es kam dazu, dass sich seine Regierung im vergangenen Jahr mit einer Reihe von Bestechungsskandalen herumschlagen musste und ihr restliches politisches Kapital verspielte. Wie Indiens Finanzminister zugab, könnten eine Aufschiebung der FDI-Entscheidung und eine weitere Öffnung des Einzelhandels zu diesem Zeitpunkt den Verlust einer Zwischenwahl bedeuten. Eigentlich schwenkte die Regierung damit die weiße Fahne.

Ironischerweise könnte ein starker Einzelhandel Indien mittelfristige Lösungen für einige besonders einschneidende Herausforderungen bieten – wie bei der Inflation bei Nahrungsmittelpreisen, dem Mangel an landwirtschaftlicher Produktivität und der Müllerzeugung. So könnten zum Beispiel Lohnverhandlungen, wie sie im Bereich der Informationstechnologie stattfinden, die indischen Bauern eines Tages zu wichtigen Nahrungsmittelexporteuren machen.

Außerdem würden die transkontinentalen großen Versorgungsketten wie Walmart indischen Verbrauchern auch Gewinne einbringen, da die Hälfte von Indiens Bruttoinlandsprodukt durch den privaten Verbrauch erzeugt wird.

Stattdessen diente das ewige Henne- oder Ei-Rätsel als Hindernis für ausländischen Direktinvestitionen im Einzelhandel. Kritiker behaupteten, Globalisierung führe zur Überschwemmung indischer Märkte und schade der indischen Industrie. Andere meinten, dass ein Netzwerk von politisch einflussreichen Vermittlern – die letztendlich die Nahrungsmittelerzeuger und -verbraucher unterdrücken, schlecht wegkämen und Schutz verdienten.

Die Wahrheit ist wohl: nach jedem Politikwechsel zeigen sich sofort Sieger und Verlierer. Doch ohne kurzzeitige Turbulenzen und Risikobereitschaft kann das langfristige Potenzial vielleicht nie erreicht werden.

20 Jahre, nachdem sich die Wirtschaft ihres Landes der Welt öffnete, sollten sich Indiens Politiker mit dieser elementaren Wahrheit im politischen Geschäft auseinandersetzen. Aus irgendeinem Grund taten sie es nicht beziehungsweise lehnten es wahrscheinlich absichtlich ab. Folglich sind sie nicht dazu bereit und auch nicht dazu in der Lage, einer größeren Anhängerschaft im Land Wirtschaftsreformen und Globalisierung zu verkaufen.

Indiens politische Führer nehmen wohl an, der Rest des Planeten warte darauf, dass sie diese Feinabstimmung vornehmen. Doch inzwischen könnte sich der Rest des Planeten dafür entscheiden, das Leben einfach so fortzuführen und Indien links liegenzulassen.

Ashok Malik ist ein führender Journalist und Kolumnist in Neu-Delhi. Er schreibt für indische und ausländische Medien über Indiens Wirtschafts- und Außenpolitik sowie ihre zunehmende Vernetzung. Mit der Erlaubnis von YaleGlobal Online.

Artikel auf Englisch: India’s Unwillingness to Open Doors to Investment

 



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