Steht „Amok“ am Ende eines langen Leidensweges? Ein Film sucht Antworten

Titelbild
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„Amok“ Hansi geht´s gut – ein Film der ganz anderen Art und Weise, und verbunden damit die Frage, wie ist die Psyche eines Amokläufers zu verstehen?

Premiere heute Abend, 28. Mai 2015, in den Kant Kinos um 20 Uhr in der Kantstrasse 54 in 10627 Berlin-Charlottenburg.

Wie kann man diese seelische Deformation kreativ umsetzen? Zoltan Paul, Drehbuchautor und Filmregisseur des Films „Amok“, hat sich mit genau diesem Phänomen und der Frage auseinandergesetzt: Wieviel „Amok“ steckt in jedem von uns? 

Herausgekommen ist ein Film eines erschreckend normalen Lebens von einem Menschen, den es jeden Tag wahrscheinlich zu Tausenden gibt und geben wird. Tilo Nest spielt den Lorenz Fuchs mit extrem sparsamen Mitteln.

Dieser normale, introvertierte und einsame Mann verdeutlicht einem umso mehr, dass ein Amoklauf letztendlich das i-Tüpfelchen eines ganz langen Leidensweges sein kann, der nicht laut und brutal daherkommt, sondern der den Sinn des Lebens im Laufe der Jahre Stückchen für Stückchen zerbröckeln kann, bis nichts mehr übrig bleibt als der Tod. Und nur ein letztes Aufbäumen kann dieses Gefühl der Leere sprengen.

Dieses Gefühl der Ohnmacht, das dermaßen Außer-sich-zu-sein, sodass man am liebsten um sich schlagen möchte, spüren wir das nicht alle irgendwann einmal im Leben? Was ist mit aufgestauter Wut, die sich dermaßen steigern kann, die dann in blinden Hass umschlägt, sodass man am liebsten auch gezielt töten möchte?

Rein physiologisch sind diese Zustände leicht zu erklären: Der Körper baut in Extremsituationen einen hohen Anteil des Stresshormons Cortisol auf. Mussten wir früher noch vor dem Mammut fliehen, oder es sogar jagen, baute sich diese Angst, Wut und Lust nach dem Jagen und Töten allmählich ab.

Muss das Ganze in einem Blutrausch enden?

Was geschieht aber heute mit einem, wenn man nur den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt? Es ist längst erwiesen, dass die meisten von uns das Stresshormon Cortisol überhaupt nicht mehr abbauen können. Schlaflosigkeit, Depressionen bis hin zu Angstzuständen sind mittlerweile als normale gesellschaftliche Krankheiten akzeptiert. Wenn diese irgendwann in das Gegenteil umschlagen, dann endet das Ganze nicht selten in einem Blutrausch.

Doch was geschieht mit einem Menschen, der dermaßen explodiert und Menschen mit in den Tod reißt?

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man, dass Amokläufer nur im Vollrausch ihre Tat begingen. In Meyers Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1888 heißt es dazu:

„Amucklaufen (Amoklaufen, vom javan. Wort amoak, töten), eine barbarische Sitte unter mehreren malaiischen Volksstämmen, zum Beispiel auf Java, besteht darin, dass durch Genuss von Opium bis zur Raserei Berauschte, mit einem Kris (Dolch) bewaffnet, sich auf die Straßen stürzen und jeden, dem sie begegnen, verwunden oder töten, bis sie selbst getötet oder doch überwältigt werden.“

Demgegenüber steht mittlerweile die Erkenntnis, dass ein Amoklauf auch eine gezielt geplante Tat sein kann, wie eben bei Lorenz Fuchs im Film Amok, die nicht in geistiger Umnachtung und Vollrausch begangen wird, sondern wach, mit klarem Verstand und sehr ruhig.

Der Begriff Amoklauf erfuhr eine Bedeutungsveränderung, da er für Taten benutzt wird, die keinesfalls spontan erfolgen, sondern geplant und gelegentlich auch durch sogenannte „Leakings“ angekündigt werden können. Unterschieden werden zudem zwei Formen von Gewalttaten, die als Amokläufe bezeichnet werden: die rein fremdgerichtete Aggression und der erweiterte Suizid, der Repräsentanten der ihm verhassten Welt mit sich reißen. Und einer der Repräsentanten für diese verhasste Welt ist für Lorenz Fuchs sein Chef, gespielt von Charly Hübner.

Charly Hübner gelingt es mit einem süffisanten Lächeln, den Sinn eines Lebens einfach wie eine lästige Schmeißfliege zu zerquetschen. Während er Lorenz Fuchs anscheinend befördern will, ihn anscheinend mit in das neue Projekt hinüber nehmen will, müssen viele Hunderte von Menschen sich damit abfinden, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Eine Aufgabe, die Lorenz Fuchs schon wie mechanisch erledigt hatte, das Abwickeln von Abfindungen und Kündigungen. Die Macht des Geldes und die Sucht, nach noch mehr Profit zu schaufeln, reißen viele Menschen in den wirtschaftlichen Ruin. Letztendlich sieht Lorenz Fuchs sich nicht in der Lage, dieses Spiel weiter mitzuspielen.

[–Lorenz Fuchs möchte nicht als Kopie sterben–]

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Während seiner Beförderung bemerkt er, dass er schon längst nicht mehr Teil dieser globalen Welt ist. An irgendeinem Punkt seines Lebens hatte er den Anschluss verloren, war über die Jahre hindurch an seinem Schreibtisch, zwischen seinen Aktenordnern, seelisch verkümmert. Eine gescheiterte Ehe, eine seltsame Beziehung zu seiner Mutter, die in einem Altersheim lebt, all das, mit sparsamen Mitteln filmisch umgesetzt, verdeutlicht, dass hier ein Individuum auf der Strecke geblieben ist.

In der sozialwissenschaftlichen Forschung gilt es heute als empirisch abgesichert, dass eine Vielzahl der Taten nicht impulsiv stattfindet, sondern oft sogar über mehrere Jahre hinweg detailliert durch die Täter geplant wurde.

Um Gewalthandlungen wie beispielsweise in Erfurt oder Emsdetten zu erklären, wird folgende Neudefinition vorgeschlagen: „Bei einem Amoklauf handelt es sich um die (versuchte) Tötung mehrerer Personen durch einen einzelnen, bei der Tat körperlich anwesenden Täter mit (potenziell) tödlichen Waffen innerhalb eines Tatereignisses ohne Abkühlungsperiode, und das zumindest teilweise im öffentlichen Raum.

Während früher ein Amoklauf als direkte Folge einer individuellen psychischen Störung angesehen wurde, gilt diese Erklärung heute als widerlegt. Als Auslöser eines Amoklaufs gelten eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung des Täters, der Verlust beruflicher Integration durch Arbeitslosigkeit, Rückstufung oder Versetzung, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte. Meist spielen vor einem Amoklauf mehrere Faktoren eine Rolle. Dabei sind diese nicht unmittelbar direkt vor dem Ereignis gelegen, sondern können bereits seit längerer Zeit bestehen.

Zoltan Paul war es wichtig aufzuzeigen, dass jeder Mensch als Original geboren wird, aber eventuell als Kopie stirbt. Seine Figur Lorenz Fuchs möchte nicht als Kopie sterben, möchte mit einer finalen Tat (Amoklauf) seine Lebensmarke setzen.

Letztendlich steht Hansi, der kleine Vogel, zeitlebens in einem Käfig gehalten, für die verlorene Seele, die sich aus dem Käfig nicht befreien konnte. Lorenz Fuchs hatte seine Seele längst verloren und war in dem Käfig dieser Gesellschaft zeitlebens ein Gefangener gewesen.

[–Gespräch mit dem Hauptdarsteller Tilo Nest–]

Tilo Nest.Tilo Nest.Foto: Jim Rakete

Jacqueline Roussety: Wie schwer waren die Recherchen, sich mit der Psyche eines Amokläufers auseinanderzusetzen? Denn meistens bringen sich diese Menschen selber um und nur aus den Erzählungen anderer und durch das Deuten von Verhaltensmustern können einem erst im nachhinein Einblicke in die Seele eines solchen Menschen gewährt werden.

Tilo Nest: Ich glaube, es wäre zu einfach gewesen, sich hinter einer fremden Geschichte zu verstecken. Ich wollte auch vermeiden, dass man sofort an den oder die denkt und ich glaube, damit hätte der Zuschauer sich entspannt zurücklehnen können und sagen: Ach ja das ist nur seine, oder ihre Geschichte.

Ich wollte erreichen, dass jeder sich während des Films irgendwann mal fragt: Wäre auch ich dazu in der Lage? Ich fand es viel wichtiger, in meiner eigenen persönlichen Struktur zu suchen, was und wo sind bei mir die schwachen Momente, wo der Punkt erreicht sein könnte, in so einer ausweglosen Situation sich zu befinden und dann öffnet sich plötzlich ein Ventil und es geschieht einfach.

Denn Lorenz plante seine Tat nicht wirklich, es sind Bilder, die sich in seinem Gehirn festsetzen und letztlich wie eine Kettenreaktion die finale Tat auslösen. Sein Gang am Waffenladen vorbei, nachdem er das Gespräch mit seinem Chef geführt hatte, das war zufällig. Aber dieser zufällige Blick in den Laden hat andere Bilder wachgerufen. Und das ist es doch eigentlich. Wie viele verschiedene Stationen muss diese Reise haben, dass man dann letztendlich an seiner festgelegten Endstation aussteigen will?

Jacqueline Roussety: Lorenz Fuchs ist ja wirklich eine Figur, die jeden Tag überall anzutreffen ist. Ein Mensch wie du und ich. Wieviel eines Amokgefühls schlummert vielleicht tatsächlich in jedem von uns?

Tilo Nest: Es ist längst erwiesen, dass diese Art von Gewaltausbrüchen, Gewalttaten und Rachegedanken zugenommen haben. Ich denke, dass es in den meisten von uns schlummert. Es ist immer nur die Frage, welche Bilder, welche Verkettungen müssen zusammenkommen, dass es dann bei dem einen oder anderen tatsächlich zum Ausbruch kommt. Bei Lorenz waren es eigentlich jahrzehntelang falsch gelebte Lebensstationen. Aber die waren ihm zu den jeweiligen Zeitpunkten nie wirklich bewusst. Das alles kommt eben an einem Tag zusammen.

Jacqueline Roussety: Inwieweit spiegelt die Situation von Lorenz Fuchs auch unsere globale Gesellschaft wider? All die Einzelkämpfer, die sogenannten Individualisten und Selbstverwirklicher, Profit um jeden Preis, und dabei bleibt das Menschliche eben auf der Strecke.

Tilo Nest: Zoltan Paul hat ganz bewusst Szenen gewählt, die eine Alltäglichkeit zeigen. Übervolle Einkaufsstraßen, ein gut gefülltes Restaurant, der graue Alltag in einem hässlichen Bürogebäude, das Altersheim der Mutter usw. usw. Durch all diese normalen Situationen wandelt Lorenz Fuchs und ist nie wirklich Teil dieser Gesellschaft, obwohl er unter ihnen weilt. Aber diese Gesellschaft hat er auch mit seiner Arbeit, seinem Leben mitgestaltet, und ist auch von ihr geprägt. Und irgendwo bleiben jeden Tag Menschen auf der Strecke. Und er ist an diesem einen Tag eben einer davon.

Jacqueline Roussety:  An welchem Punkt hätte es eine Wende, einen so genannten turning point, geben können? Was genau hätte Lorenz vielleicht gebraucht, um gestoppt zu werden?

Tilo Nest: Es gibt den Augenblick, an dem Lorenz einen Aktenordner zuklappt. Hier wäre vielleicht ein Moment gewesen, dass er auch ein Kapitel seines Lebens zuklappt, einfach aufsteht und seinem Chef sagt: Du kannst mich mal!

Aber das ist ein Schritt, den viele Amokläufer nicht finden. Sie alle hätten doch den Punkt finden können, an dem sie hätten Stopp rufen können! Aber genau das ist doch das Problem. Sie schaffen es nicht mehr. Und das erstaunlichste ist bei den meisten: Alle Nachbarn und Freunde und Familienmitglieder, die später gefragt werden, sagen doch alle immer am Ende: Das hätten sie nie von ihm gedacht. Er war doch immer so nett, freundlich und höflich. Das ist doch das Verrückte daran.

Deshalb war es mir so wichtig, dass Lorenz ein ganz normaler Mann ist, dem einfach an einem Tag alles zu viel wird und er nur noch den Ausweg findet, um sich zu schießen. Ich habe als Zivildienstleistender gearbeitet und tatsächlich einige solcher Szenen erlebt. Es war immer ganz seltsam, dass die Betroffenen wirklich bis zu diesem Moment nicht geahnt haben, dass ihr Partner oder Partnerin zu so einer Tat fähig gewesen wäre.

Jacqueline Roussety: Die beobachtende und subjektive Kamera, geführt von Harald Mellwig, die immer an Lorenz zu kleben scheint. Ein ganz besonderes ästhetisches Filmmittel. Was glaubst du, was diese Art von Kameraführung bewirkt hat, um das Thema „Amok“ darzustellen?

Tilo Nest: Das zwingt den Zuschauer natürlich die ganze Zeit, die Welt aus Lorenz Augen zu sehen. Und ich hoffe, dass der Zuschauer sich dann dabei ertappt und sagt: Mein Gott, das ist wirklich nicht zu ertragen. Es war auch als Schauspieler ein ganz eigenes Gefühl, permanent die Kamera zu spüren. Denn normalerweise soll der Schauspieler ja die Kamera vergessen können. Aber das war natürlich bei diesen Dreharbeiten überhaupt nicht machbar.

Die Kamera klebte an mir, und ich hab es auch ganz oft benutzen können, als den ständigen Blick von außen. Das ständige Beobachten meiner Mutter, meiner Exfrau, meines Chefs, nie konnte Lorenz sich einfach mal frei fühlen. Von daher war diese sehr originelle Kameraführung ein großer Gewinn, um die Geschichte so zu erzählen, wie sie dann letztendlich im "Amok" zu sehen sein wird.

Jacqueline Roussety: Statistiken belegen, dass ein sehr großer Prozentsatz unserer Gesellschaft Amoklauf-gefährdet wäre, verbunden mit einem Alkoholproblem und der Lust und Sucht nach Waffen. All diese Themen spielen in irgendeiner Form auch im Film "Amok" eine Rolle. Alles Zustände, die zeigen, dass man irgendwann doch eigentlich die Hilfe von außen gebraucht hätte. Was sagt dir das?

Tilo Nest: Das sollte uns doch alle nachdenklich stimmen. Sollten wir nicht alle öfter mal neben uns blicken und schauen, wie geht es eigentlich meinem Nachbarn? Was ist mit meinem Arbeitskollegen mir gegenüber? Hier vielleicht einfach mal nachfragen: Hallo, wie geht‘s dir? Kein Mensch fragte Lorenz: Hey, was ist los? Und das macht wohl einen Menschen irgendwann mal kaputt. Ich kann nur hoffen, dass wir mit dem Film „Amok“ einen Beitrag leisten, dass wir alle nicht nur vor uns selber, sondern auch für die Gesellschaft mitverantwortlich sind, die wir mitgestalten. Und zwar jeden Tag.

„Amok“, Hansi geht´s gut. Ein Film von Zoltan Paul.

Premiere heute Abend, am 28. Mai 2015, in den Kant Kinos in der Wilmersdorfer Straße. 20:00 Uhr. Ebenso Auftakt im Kino Babylon um 21:30 Uhr.

Weitere Infos unter: www.darlingberlin.com/amok-hansi-gehts-gut.



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