Zum 80. Geburtstag der Dalai Lama im Exklusiv-Interview: „Liebe überbrückt alle trennenden Mauern“

Titelbild
Der Dalai Lama 1990 in Amsterdam.Foto: Roland R. Ropers

Exklusiv veröffentlchen wir zum 80. Geburtstag des Dalai Lama ein Interview, das Roland R. Ropers im Jahr 2014 geführt hat. Ropers, der Sprach- & Kulturphilosoph, Gastautor der Epoch Times, kennt den Dalai Lama seit Jahrzehnten von diversen Begegnungen. Es wurde ein sehr tiefgehendes Gespräch:

Roland R. Ropers: Alle religiösen Traditionen und heiligen Schriften betonen die Wichtigkeit der Liebe. Liebe kann nicht bloß zu bestimmten Zeiten auf bestimmte Objekte projiziert werden, sondern muss dauerhaft, hier und jetzt erlebt werden. Wie können wir bedingungslose und endlose Liebe im Jetzt erfahren? Welche täglichen Übungen brauchen wir, um Zugang zum göttlichen Urgrund, zur göttlichen Quelle in uns zu finden?

Dalai Lama: Erstens ist jeder von uns eingeladen, diese bedingungslose Liebe auf sein eigene, einzigartige Weise als etwas zu erfahren, das allen gegeben ist – bereits vor unserer biologischen Geburt, von dem anfangslosen Anfang an und über unseren biologischen Tod hinaus; als die Tatsache, die uns zu demjenigen macht, der wir sind. Die Erfahrung dieser Liebe, dieser kosmischen Umarmung, die unser Sein bedingungslos bejaht, ermächtigt uns, diese Liebe jedem in unserem Umfeld zurückzugeben. Das befähigt uns, einander bedingungslos zu lieben. Stellen Sie sich vor, wie unsere Erdengemeinschaft aussehen würde, wenn wir alle in gegenseitiger Liebe leben und wirken könnten! Dadurch könnten wir die tiefen Wunden und zerstörerischen Tendenzen, die unsere globale Gesellschaft kennzeichnen, heilen und überwinden.

In Stille zu sitzen, auf den Atem zu achten, voll da zu sein im Hier und Jetzt, in den Tiefen des Schweigens, ist eine einfache Praxis, die uns für diese kostbare Erfahrung, für das Erhören jener Stimme im Kern unseres Wesens öffnen und unsere Lebensweise transformieren kann.

Wir Buddhisten sprechen von den „drei Giften“Gier, Hass und Unwissenheit – als den Faktoren, die unsere ursprüngliche Buddha-Natur beflecken, die an sich rein und klar, leuchtend und transparent ist. Die Wurzel dieser drei Gifte liegt in dem mentalen Konstrukt „Ich-mein-mich“, das ist unser egohaftes Selbst, das wir in den Mittelpunkt des Universums stellen. Dieses egohafte Selbst fühlt sich unsicher und ohne festen Stand und versucht sich deshalb zu stärken durch Freude, Macht und Besitz (daher Gier). Wenn es das, was es haben will, nicht bekommt, verhält es sich verbittert, feindselig und zornig gegenüber denen, die der Erfüllung seiner Wünsche im Wege stehen (daher Hass). Alle diese Regungen des egohaften Selbst rühren von einer grundlegenden Unwissenheit bezüglich seiner wahren Natur her, die rein, transparent und wirklich mit anderen verbunden ist.

Christlich ausgedrückt, sind wir alle als Ebenbild Gottes (Imago Dei) geboren und empfangen im Kern unseres Wesens grenzenlose und bedingungslose Liebe, aber diese unsere wahre Natur wird von dem egohaften Selbst verdeckt, das sich in Gier, Hass und Unwissenheit verfangen hat. Diese existenzielle Situation des egohaften Selbst entspricht dem, was Christen „Erbsünde“ nennen, die Trennung vom innersten Wesenskern.

Wie können wir das Hindernis der drei Gifte, das im egohaften Selbst wurzelt, überwinden? Die Anweisung des Buddha lautet schlicht: „Kommt und seht“ –Kehrt zurück zu eurem wahren Selbst und seht mit voller Klarheit und Transparenz. In stiller Meditation zu sitzen, in einer passenden Haltung, achtsam zu atmen und den Verstand zu beruhigen ist ein sehr direkter und abgekürzter Weg, um das Hindernis zu überwinden.

Ropers: Auf welcher Erfahrungsstufe wird der riesige Kosmos mich akzeptieren und anerkennen, so wie ich bin? Woran erkennt man das authentische Gefühl des Eins-Seins mit der Schöpfung?

Dalai Lama: Das Problem mit uns Menschen besteht darin, dass wir vielleicht nicht demütig genug sind, um zu akzeptieren, dass wir akzeptiert werden, so wie wir sind, und dass wir unseren Selbstwert nicht erst durch Taten oder Lebensleistungen zu beweisen brauchen. Unser Stolz, ein weiteres Kennzeichen des egohaften Selbst, ist uns im Weg. Wenn wir uns selbst einfach und wirklich in aller Demut so, wie wir sind, mit all unseren Schwächen und Fehlern, aber auch mit all unseren gnadenreichen Begabungen akzeptieren würden, dann könnten wir vielleicht diese zentrale Botschaft, dieses kosmische JA hören, das zu unserem Wesen gesprochen wird.

Foto: Roland R. Ropers

Als der Buddha an jenem frühen Morgen die Augen öffnete, nachdem er die ganze Nacht unter dem Bodhi-Baum meditiert hatte, soll er ausgerufen haben: „Unter den Himmeln und hier auf Erden bin ich allein heilig.“ Dies ist keine exklusive Aussage, die von dem egohaften Selbst eines gewissen Menschen namens Siddhartha Gautama gemacht wird, sondern dies sagt das Wahre Selbst von uns allen.

Ropers: Der Benediktinermönch und Mystiker Bede Griffiths (1906 – 1993), den Sie sehr verehrt haben,  sagte immer wieder: „Jesus Christus ist einzigartig, aber nicht der einzige.“ Wie würden Sie Christus mit dem Buddha vergleichen? Meiner Meinung nach gibt es einen großen Unterschied zwischen dem historischen Jesus von Nazareth und dem historischen Gautama Siddhartha, die im Gipfelpunkt der Erleuchtung als Christus und Buddha aufeinander treffen.

Dalai Lama: Es besteht in der Tat ein großer Unterschied zwischen dem historischen Jesus aus Nazareth, den man Christus, den Gesalbten Gottes, nennt, und Siddhartha Gautama, den man als Buddha, den Erwachten, bezeichnet. Wir dürfen die Unterschiede zwischen diesen zwei Figuren nicht herunterspielen, noch die Unterschiede in den Lehren und Praktiken der zwei religiösen Traditionen des Christentums und Buddhismus bagatellisieren. Jesus lebte, starb und stand wieder auf und öffnete für alle Wesen den Weg, um den Christus in uns wiederzugewinnen.

Gautama erwachte und zeigte uns den Weg, um den Buddha in uns wiederzuentdecken.

Ropers: Viele Christen leben in der Hoffnung und dem Glauben, nach dem Tod ins Paradies Gottes einzugehen. Wie kann man solche Gottsucher von ihrer Illusion befreien?

Dalai Lama: Wer kann sagen, dass das eine Illusion ist? Nur wer gestorben und wieder zurückgekommen ist, kann uns sagen, ob dem so ist oder nicht. Aber wirklich bedauernswert ist es, wenn Menschen so leben, als ginge es darum, für das angenommene Leben nach dem Tod Verdienste anzusammeln oder Strafe zu vermeiden, und sie darüber das Leben im jetzigen Moment verpassen, wo wir die Fülle all dessen, was wir sein können, finden können.

Ropers: Ist das eigentliche Leben nicht doch frei von Gegensätzen? Meiner Meinung nach umfasst Leben die Dualität von Geburt und Tod, so wie Liebe die Kluft zwischen der Schöpfung und dem Schöpfer umspannt.

Dalai Lama: Das Leben, wie wir es in unserem menschlichen Zustand leben, ist von Gegensätzen gekennzeichnet – gut und böse, richtig und falsch, Liebe und Hass, Geburt und Tod. Authentisches Leben geschieht, wenn wir diese Gegensätze durchschauen können und mit der Weisheit leben, die die Dinge so sieht, wie sie sind, und die in ein grenzenloses Mitgefühl mündet. Ja, Liebe ist, was alle trennenden Mauern überbrückt.

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