Faust ins Gesicht – auf der Straße tobt der Verteilungskampf

Alle gegen alle: Auf Deutschlands Straßen geht es aggressiver zu als früher. Das liegt auch daran, dass mehr Radfahrer einen sicheren Platz einfordern. Ohne Abstriche für Autofahrer wird das kaum gehen.
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Tödlicher Fahrrad-Unfall (Archivbild).Foto: Sebastian Iwersen/dpa
Epoch Times10. August 2017

„Schlampe“ und „Hure“ gehören zu den gängigen Beleidigungen, die Frauen in der Hektik des Berliner Straßenverkehrs zu hören bekommen. Männern geht es dann um Lappalien wie die Pole Position an der Ampel.

Mehr als 15 600 Berliner haben schon eine Petition gegen „Automachos“ im Internet unterzeichnet. Sie ist ein kleiner Seismograph dafür, dass das Verkehrsklima in der Hauptstadt immer rauer wird.

Wie in vielen deutschen Innenstädten nehmen Verteilungskämpfe um den Straßenraum zu. Mit dem ersten Mobilitätsgesetz will der rot-rot-grüne Senat Berlin wieder in die Spur bringen. Das Experiment gefällt nicht allen – es wird Verlierer geben.

Dass sich auf Berlins Straßen etwas verändert hat, spürt Rechtsmedizinerin Saskia Etzold fast jeden Tag. In der Gewaltschutzambulanz der Charité dokumentiert sie Verletzungen. „Autofahrer reißen die Autotür auf und greifen Passanten an. Oder sie schlagen Radfahrer an der Ampel durch das geöffnete Fenster“, sagt sie. Wenn sich Fußgänger bei Radfahrern beschwerten, bekämen manche als Antwort eine Faust ins Gesicht. „Das geht über Rücksichtslosigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwelle sinkt“, sagt Etzold.

Die aufgeladene Stimmung registrieren Verkehrsforscher auch in bundesweiten Umfragen. Die Folgen reichen über Aggressivität bis zur völligen Missachtung des ersten Paragrafen der Straßenverkehrsordnung: gegenseitige Rücksicht und Vorsicht.

„Die Akzeptanz von Verkehrsregeln ist nicht gerade auf dem Vormarsch, besonders wenig bei Radfahrern“, urteilt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer. „Die rote Ampel ist so ziemlich das einzige, wo ich noch sagen würde: Da halten sich zumindest Autofahrer dran.“ Die Frage sei allerdings, wie lange noch.

Die Lage ist für Brockmann oft hausgemacht. Wenn Politik den Radverkehr laut propagiere, dann komme er auch. „Doch die meisten Kommunen sind darauf gar nicht vorbereitet“, bilanziert der Forscher. Infrastrukturplanung fürs Rad sei nicht selten irgendwo in den 70er Jahren stehen geblieben, selbst in Hochburgen wie Münster. Welche deutsche Stadt hat ein modernes, attraktives, sicheres und gut durchdachtes Radwegenetz? Brockmann muss überlegen. „Freiburg“, sagt er schließlich.

Berlin will umsteuern – getrieben von einer wachsenden Radlobby, die ihre Rechte selbstbewusst bis hin zu Volksbegehren einfordert. Die Pläne sind ehrgeizig. Mit dem neuen Mobilitätsgesetz, das bis Ende des Jahres in Kraft treten soll, haben öffentliche Verkehrsmittel und das Rad künftig Vorrang vor Autos. „Je mehr Menschen auf Bus, Bahn oder Fahrrad umsteigen können und wollen, desto schneller kommen auch die voran, die auf das Auto angewiesen bleiben“, argumentiert Berlins Umwelt- und Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos/für Grüne. Die Autolobby grollt schon hörbar.

Beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat ist klar, dass Veränderungen nicht leise vonstatten gehen. „Es wird in den Kommunen Auseinandersetzungen um den Platz auf der Straße geben“, prognostiziert Hauptgeschäftsführer Christian Kellner. „Konflikte treten bundesweit vor allem dann auf, wenn es Städte lange versäumt haben, eine gute Rad-Infrastruktur zu schaffen.“

Für Unfallforscher Brockmann ist es mit breiten Radwegen auf den Straßen nicht getan. Autofahrer parkten sie zu oft zu und zwängen Radfahrer damit zu riskanten Ausweichmanövern – oder sie öffneten abrupt die Fahrertür. Das kostete in Berlin jüngst einem Radfahrer das Leben. 17 tote Radfahrer gab es in der Hauptstadt 2016 insgesamt – deutlich mehr als in den Vorjahren. Bundesweit kamen fast 400 Radfahrer ums Leben.

Attraktive Radwege auf verbreiterten Bürgersteigen hält Brockmann für sicherer. Auch dafür müssten Autofahrer eine Spur abgeben. Dazu kommt die Technik. „Möglich sind in der Innenstadt eigentlich nur separate Ampeln für Radfahrer – ein eigenes System“, sagt der Forscher. Das sei allerdings mit Geld und sehr hohen Anforderungen an die Ampelschaltungen verbunden. Denn grüne Wellen wollen Rad- und Autofahrer.

Städte müssten auch überlegen, wie sie mit ruhendem Verkehr umgehen, ergänzt Christian Kellner. „Fahrzeuge stehen zu lange nutzlos am Straßenrand, zum Beispiel während der Arbeitszeit“. Es sei gesellschaftlich gewollt und sinnvoll, dass immer mehr Menschen Rad fahren. „Das Auto wird Anteile verlieren. Das heißt, wir werden es intelligenter nutzen müssen“, folgert Kellner. Zum Beispiel durch Carsharing, Parkmöglichkeiten außerhalb der Stadt und einen besser vernetzten Nahverkehr. „So, dass auch Pendler eine Chance haben, zur Arbeit zu kommen – und dafür nicht um vier Uhr morgens aufstehen müssen.“

Die Berliner Opposition spricht von „Klientelpolitik“ auf Kosten der Autofahrer. Wirtschaftsverbände warnen davor, den Lieferverkehr auszubremsen. Der Senat will trotzdem, dass an allen Hauptstraßen Berlins sichere Radwege entstehen, dazu Radschnellwege für Pendler. Für Verkehrsforscher ist das der richtige Weg – aber auch ein Risiko. „Wenn es der Senat nicht schafft, den Radverkehr in punkto Sicherheit und Komfort voranzubringen, wäre das ein verheerendes Signal. Berlin hat eine Modellfunktion“, sagt Siegfried Brockmann.

Wie das Umsteuern im Detail aussehen kann, bekam Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller vor kurzem persönlich zu spüren. In der Nähe seines Wohnhauses wurden mehrere Parkplätze abgeschafft, um mehr Platz für Radler zu schaffen. Müller protestierte beim Bezirksamt gegen die „überzogene Maßnahme“. Genützt hat es nichts. Das Parkverbot blieb. (dpa)



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