Zwei Lebenswege – ein politisches System

Zwei Männer, zwei Wege. Doch so unterschiedlich die nach­folgend geschilderten Lebenswege auch erscheinen mögen, eines haben sie gemein­sam: Beide Wege waren gekenn­zeichnet von Unterdrückung, Ausgrenzung, Einschüchterung und Schmerz. Beide Wege beinhalten politische Haft. Beide Lebenswege führten sie über das politische System hinaus, das ihre Zukunft nachhaltig prägte.
Titelbild
Von 15. Juli 2008

Raimund Anjust, Jahrgang 1935, geriet in der noch jungen DDR bereits mit 13 Jahren in die Mühlen totalitärer Staatsführung, basierend auf einer Ideologie, die die „Arbeiter und Bauernklasse“ stark betonte und andere Gesellschaftsschichten diskriminierte und herabsetzte. Anjust, der aus einer bürgerlichen Familie stammt, bekam dies frühzeitig durch seinen Klassenlehrer und gleichzeitig Parteisekretär der Schuleinrichtung deutlich zu spüren. Der Klassenlehrer griff ihn gezielt vor der Klasse durch Beschimpfungen, Beschädigung seiner Schulmaterialien und andere diskriminierende Handlungen an. Er bezeichnete ihn mehrmals als jemanden, der zu einer absterbenden Klasse gehöre. Aufgrund dieser Erlebnisse setzte sich Anjust intensiv mit den Werken von Marx und Lenin auseinander, um das entwürdigende und ihn als minderwertig ausgrenzende Verhalten des Lehrers zu verstehen. Dabei empfand er gerade Lenins Werke „als eine Vergewaltigung der bürgerlichen Philosophie, insbesondere der von Hegel“. Als Sohn eines selbstständigen Anwalts wurde ihm 1952 der Besuch der weiterführenden Schule mit der Begründung, das Kontingent sei erschöpft, verwehrt. Somit war er vollständig von einer weiteren Schulausbildung ausgeschlossen. Diese Verfahrensweise war in der DDR nicht die Regel, wurde jedoch häufig als gezielte Diskriminierung bürgerlicher Familien und Pfarrerfamilien eingesetzt.

Mitarbeit bei der Organisation „Gehlen“

Diese Einschränkungen nahm Raimund Anjust zum Anlass, abends selbst hergestellte Flugblätter in seinem Umfeld anzubringen. Diese sollten aufdecken, dass die propagierte Bildung friedlicher Kräfte in der DDR – wie etwa der kasernierten Volkspolizei – einzig einer neuen Militarisierung und dem Aufbau einer neuen Armee diente. Außerdem wies er auf die allgemein schlechte Versorgungslage und ihre Folgen hin. Nach einem Kontakt mit der Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienst der Organisation „Gehlen“ schloss er sich ihr im Jahr 1953 an. Seine Hauptaufgabe war nun, Informationen zu militärischen und gesellschaftlichen Vorgängen in der DDR aufzunehmen und weiterzuleiten. Dazu gehörten Meldungen über russische Truppenbewegungen oder Veränderungen. Darüber hinaus sollte er die Flucht eines russischen Majors von Ost-Berlin in die Bundesrepublik unterstützen.

Ein Freund wechselte jedoch die Seiten und verriet Anjust. Dieser Freund gab auch weitere Namen an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das Gegenstück zur Organisation „Gehlen“, weiter. Dadurch wurden Anjust und andere Mitarbeiter festgenommen. Außerdem kam es durch die Weitergabe von Informationen durch den Überläufer zur Entführung eines Verbindungsmannes, der durch MfS-Mitarbeiter mittels Betäubung aus der Bundesrepublik in die DDR verschleppt wurde. Nach der Festnahme wurde Anjust zunächst in der damaligen Kreisdienststelle des Ministeriums des Innern, in der auch die Staatssicherheit saß, in Cottbus festgehalten. Hier durfte er eine Zeit lang weder am Tage noch in der Nacht schlafen, denn nachts wurde er stundenlang vernommen, und tagsüber war es nicht gestattet, sich hinzulegen.

Später folgte ein Aufenthalt in einer Dunkelzelle, in der sich Anjust aufgrund der geringen Zellengröße weder hinlegen noch hinsetzen konnte, sodass nur eine stehende Haltung möglich war.

Durch diese Foltermethoden wollte man Geständnisse erzwingen und aus ihm Informationen herauspressen. Die Essensversorgung, so erinnert er sich, war sehr schlecht. Auch wurde ihm vier Monate lang jegliche Art von Körperpflege untersagt. Außerdem gab es monatelang keinen Ausgang, was dazu führte, dass er in seiner Zelle Achten zu laufen begann, um die Bewegungseinschränkungen zu ertragen und um sich körperlich betätigen zu können.

Das Urteil: Zehn Jahre Zuchthaus

Nach etwa fünfmonatiger U-Haft erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit die „Verhandlung“, bei der er in einer wiederum öffentlichen Urteilsverkündung wegen Gefährdung der allgemeinen öffentlichen Sicherheit zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Anjust 18 Jahre alt. Daraufhin wurde er in die Haftanstalt Cottbus in eine Einzelzelle von zwei mal fünf Metern Größe, die mit sechs Personen belegt war, überführt. Die Zelle befand sich in einem Gebäude, das heute zwar nicht mehr existiert, dessen Haftgelände jedoch weitestgehend erhalten geblieben ist und besichtigt werden kann. Politische Gefangene waren jedoch nicht die einzigen Insassen, auch zu lebenslanger Haft und zum Tode verurteilte Gefangene waren in dem Gebäude und dem Haftgelände untergebracht.

Die folgenden zwei Jahre durfte sich Anjust ausschließlich in der besagten Zelle aufhalten, bevor er zur Zwangsarbeit in einer auf dem Gelände befindlichen Polsterfabrik zumindest für die Arbeitszeit die Zelle verlassen durfte. In der Fabrik wurde bis zu 24 Stunden in drei Schichten gearbeitet.

Alle zwei Monate konnte er 20 Zeilen schreiben. Davon fiel vieles der Zensur zum Opfer. Eine Sprecherlaubnis wurde alle drei Monate für 30 Minuten erteilt. Sie ermöglichte den Austausch mit jeweils einem Angehörigen, einem Eltern- oder ein Geschwisterteil in einem „Besuchszimmer“. Ein Wärter saß als Aufseher direkt dabei, um das Gespräch zu überwachen.

Anjust erfuhr, dass es aufgrund des politischen Einflusses der BRD zu Haftverkürzungen bei politischen Häftlingen in der DDR kam, wenn sie einen Antrag stellten. Er bat seine Mutter, einen Haftverkürzungsantrag bei Wilhelm Pick, dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, einzureichen. Die Haftstrafe wurde danach auf fünf Jahre verkürzt.

Nach drei Jahren Inhaftierung und Zwangsarbeit in Cottbus wurde er in das Arbeitslager „Schwarze Pumpe“ überführt. Dort begann gerade der Aufbau eines der später bedeutendsten Industriestandorte zur Energie- und Wärmegewinnung in der DDR. Untergebracht waren die Häftlinge dabei in Barackenlagern. Sie erinnerten ihn an ein Konzentrationslager. Nach einem schweren Arbeitsunfall im Arbeitslager „Schwarze Pumpe“ und dem nachfolgenden Aufenthalt im Krankenhaus der Haftanstalt Bautzen wurde er im Januar 1958 entlassen.

Erster Fluchtversuch nach Westberlin

Bereits während der Haft nahm er sich vor, aus der DDR zu flüchten und bereitete sich nun gezielt darauf vor. Der erste Fluchtversuch, bei dem er mit einem Zug nach West-Berlin gelangen wollte, misslang allerdings. Daraufhin wurde er zunächst wieder in Cottbus inhaftiert. Anschließend fand eine Überführung in ein Arbeitslager nach Lübbenau statt. Nach der Entlassung November 1959 startete er seinen zweiten Fluchtversuch nach West-Berlin, diesmal erfolgreich. Dort angekommen ging er zunächst auf die Schule und holte seinen Schulabschluss nach.

Seit der Flucht aus der DDR ist der heute 72-jährige Lichterfelder, Vater zweier mittlerweile erwachsener Kinder, Berlin treu geblieben. Was er am unangenehmsten an den Erlebnissen in der DDR empfand? „Die Einschränkungen in der Persönlichkeitsentwicklung durch den Vorzug einzelner Gesellschaftsschichten wie der sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Klasse.“

Und genau der Umkehrschluss aus den zuvor genannten Aussagen ist für Raimund Anjust das Wichtigste in einer Gesellschaft. Er führt genauer aus: „Wenn man sich in der Haftzeit moralisch nicht niederknüppeln ließ, gerade als junger Mensch, so konnte die Haftzeit eine wertvolle Lehrzeit sein, die einen im moralischen Sinne stärkt und Erfahrungen und Erkenntnisse ermöglicht, die sonst so nicht zu erwerben sind“. Gerade der Kontakt zu vielen Menschen und ihren Schicksalen während seiner Haftzeit war eine wertvolle Bereicherung. Viele Insassen wurden unter den Haftbedingungen wahnsinnig. Was ihn davor bewahrt habe, sei die innere Gewissheit, im Recht zu sein und auf der richtigen Seite zu stehen, was ihm moralisch und seelisch die Kraft gab, die Haft durchzustehen.

Teil 2 folgt

Text erschienen in Epoch Times Deutshland Nr. 29/08




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