Christina Kessler: Die Liebe als Klang der Wahrheit

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Christina KesslerFoto: Renato Gerussi
Von 2. Dezember 2012

Die Kulturanthropologin und promovierte Religionsphilosophin Dr. Christina Kessler gehört seit vielen Jahren zu den Meisterinnen der spirituellen Herzensöffnung. Ihr erstes Buch „Amo ergo sum – ich liebe, also bin ich“ wurde vor 10 Jahren im Oktober 2002 im Beisein des XIV. Dalai Lama in München vorgestellt und ist ein Bestseller geworden. Ihre nachfolgenden Publikationen „Herzensqualitäten: Die Intelligenz der Liebe“ sowie „Wilder Geist – Wildes Herz: Kompass in stürmischen Zeiten“ sind Weisheitsratgeber einer erfahrenen Frau, die die Fallstricke der verführerischen Psychoszene kennt. Christina Kessler hat weltweite Erfahrungen für Ihre Arbeit gesammelt auf zahlreichen Reisen in die USA, Lateinamerika, Afrika und Indien.

Unser Autor Roland Ropers traf Christina Kessler zu einem Gespräch.

Roland R. Ropers: Wir leben in einer fortschrittsgläubigen Welt, in der sich der Mensch von seinem innersten Zentrum zu entfernen und an einer sensationsbeladenen Peripherie im Außen zu verlieren droht. Frau Kessler, Sie sehen den echten Fortschritt unserer Zeit in der Rück- und Heimkehr des Menschen zu sich selbst. Der legendäre Münchner Komiker und Philosoph Karl Valentin hatte einen wunderbaren Ausspruch geprägt: „Ich muss jetzt mal nach Hause gehen, um nachzuschauen, ob ich überhaupt da bin!“

Christina Kessler: Karl Valentins humorige Weisheit ist wirklich köstlich und trifft den Kern der Sache genau. Aber welchen Weg müssen wir einschlagen, um den Himmel auf die Erde zu holen, um heimzukehren?

Die Sehnsucht nach Vollkommenheit ist die Urantriebskraft des Menschen – Eros im Platon’schen Sinne. Es ist jene Energie, die Wachstum, Entwicklung und Kreativität ermöglicht.

Im Zeitalter des Materialismus und der Ratio wurde die Erfüllung dieser Sehnsucht fast durchweg im Außen gesucht: in Besitz, Geld, Macht, Sex, Konsum, aber auch in Ideologien oder übertriebenem Körperkult. Dadurch verlor der Mensch die Anbindung an seinen innersten Wesenskern. Er spaltete sich von sich selbst ab, verstrickte sich in Äußerlichkeiten und wurde zunehmend abhängig davon.

Es lässt sich wohl mit Recht sagen: Der moderne Mensch lebt in einem Bewusstseinszustand der Trennung. Er hat seine eigene Hölle geschaffen. In der Hölle schmoren die Sünder, so heißt es. Das Wort „Sünde“ kommt von „sondern“, sich absondern. Aber nicht nur von sich selbst ist der heutige Mensch getrennt, auch von seinen Mitmenschen und der Natur.

Heute sind wir am äußersten Ende der Trennung angelangt. Auch haben wir alle möglichen Formen der Suche nach Erfüllung im Außen erforscht und können nun mit Sicherheit sagen, dass wir am falschen Ort gesucht haben. Folglich treibt uns die unablässig drängende „Sehnsucht“ nun fast von selbst in die andere Richtung – nämlich nach innen. Der Evolutionsimpuls schlägt die umgekehrte Richtung ein und wird zur „Involution“.

Ropers: Sie bezeichnen die Liebe, die weit mehr als ein Gefühl ist, als die Grundstruktur des Universums. Eine wunderschöne Metapher. Welche Voraussetzungen müssen wir schaffen, damit wir die bedingungslose Liebe des Kosmos ständig im Blick haben?

Kessler: Ganz einfach: wir müssen die Trennungsillusion erkennen und alle trennenden Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster in verbindende verwandeln. Wenn ich „einfach“ sage, dann meine ich die Theorie. Im tatsächlichen Leben erweist sich diese Aufgabe als eine der größten Herausforderungen, denen ein Mensch begegnen kann. Geht es dabei doch buchstäblich darum, über sich selbst hinauszuwachsen. Über sein kleines, mentales Ich, das ihm ständig vorgaukelt, ein vom Ganzen getrenntes Etwas zu sein.

Ropers: Sie weisen immer wieder darauf hin, wie bedeutungsvoll der Denkmusterwechsel vom „entweder oder“ zum „sowohl als auch“ ist; erst im Letzteren ist Ihrer Meinung nach eine kollektive Heilung jener tiefen Wunden möglich, die das Patriarchat in unserem Menschsein hinterlassen hat. Wie stellen Sie sich die Heilung von Mensch und Kosmos zukünftig vor?

Kessler: Alle Formen von „entweder-oder“ führen zu Spaltung und in der Folge zu Ablehnung, Intoleranz und Dominanzstreben, zu Absolutheits- und Machtansprüchen. Entweder-oder ist ein Synonym für Spaltung. Es wurde zum typischen Merkmal einer Epoche, die durch die Vorherrschaft der Ratio geprägt wurde – und noch immer wird. In meinen Büchern spreche ich von der Epoche des Patriarchats, denn die Vorherrschaft der Ratio ging Hand in Hand mit der Vorherrschaft des Mannes in Wirtschaft, Gesellschaft und Religion.

Jedwede Entweder-oder-Einstellung begünstigt ein lineares, ausgrenzendes Denken, verleitet zur Konstruktion von künstlichen Hierarchien, zur Fixierung auf Unterschiede und individuelle Interessen. Krieg, Gewalt und Ausbeutung sind die Folgen. Dies trifft nicht nur auf das Kollektive zu, sondern ebenso gut auf das Individuum. Der patriarchale Mensch entbehrt einer natürlichen Integrität. Er hat keinen Kontakt mehr zu seiner inneren Stimme, und daher ist er sich selber Feind. Durch das Entweder-oder hat er sich zu seinem eigenen Opfer gemacht.

Ein gesundes Sowohl als auch dagegen lässt uns das Gemeinsame hinter dem Unterschiedlichen, das Universale hinter dem Individuellen, das Immer-Gleiche hinter dem Sich-ständig-Verändernden, das Ewige im Hier und Jetzt erkennen. Dies führt nicht nur zur Rückverbindung des Menschen mit der äußeren Natur und seiner inneren Wesensnatur, sondern auch zu neuen, nie da gewesenen Bindungen zwischen Völkern, Nationen, Kulturen, Konfessionen, Generationen und wissenschaftlichen Disziplinen.

Ropers: Können Sie in wenigen Worten die Essenz Ihrer Weg-Begleitung zum Urgrund eines Menschen skizzieren?

Lesen sie weiter auf Seite 2: Die Wurzeln einer kulturellen Konditionierung

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Kessler: Jeder spirituelle Weg ist eine via purgativa, ein Reinigungsweg, der auf die Befreiung – das Leer-Werden – von geistigen Begrenzungen abzielt. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass es sich bei diesen Begrenzungen vor allem um Trennungsmuster handelt.

Neu ist wahrscheinlich die Sichtweise, dass die meisten dieser Muster gar nicht durch unsere eigene Erfahrung entstanden sind, sondern ihre Wurzeln in einer kulturellen Konditionierung haben. Wir müssen uns vorstellen, dass jeder Erdenbürger in ein bestimmtes Weltbild und Denkmodell hineingeboren wird und von Geburt an die dort vorherrschenden Anschauungen übernimmt, ohne jemals deren Herkunft oder Stimmigkeit zu hinterfragen.

Früher suchte man in der Familie, bei Eltern und Erziehern nach den Ursachen für Muster, Blockaden, Ängste und Neurosen. Nehmen wir jedoch eine etwas erweiterte Perspektive ein, so erkennen wir, dass auch Eltern und Erzieher lediglich Überträger kultureller Konditionierungen sind, dass das Begrenzungspotential also im System selber liegt. Die Erforschung der typischen patriarchalen Denkstrukturen spielt daher eine zentrale Rolle bei Amo ergo sum.

Damit einher geht die Suche nach neuen – verbindenden! – Denk- und Ausdrucksformen. Amo ergo sum ist eine Philosophie der Liebe und jede Liebesphilosophie ist immer auch eine Gegenwartsphilosophie. Es geht darum, die Liebe zu leben, hier und jetzt.

Liebe lässt sich weder nachholen noch auf die Zukunft vertagen. Hier und jetzt will sie gelebt werden, um ihre Wirkung entfalten zu können. An dieser Stelle kommen die Herzensqualitäten ins Spiel. Herzensqualitäten sind Eigenschaften, die uns befähigen, das Leben, uns selbst und die anderen liebevoll anzunehmen, aus Leid zu lernen, unter allen Umständen zu wachsen, Negatives in Positives und Schmerz in Freude zu verwandeln. Tatsächlich geht es in erster Linie um die Erfahrung der Selbstliebe, denn erst wenn wir uns selbst annehmen und wertschätzen, erst wenn wir es uns selbst erlauben unser Leben zu leben, können wir andere dauerhaft lieben.

Auf diese Weise findet Rückverbindung und Transformation statt. Wir erkennen uns selbst als GEIST, der sich in Liebe verströmt. Zuallererst strömt dieser Geist in unsere individuellen Anlagen, Talente und Persönlichkeitsmerkmale, beatmet und befeuert unser individuelles Potential. Inspiration findet statt. Wir werden lebendig. In der Folge lernen wir dieses Potential Schritt für Schritt zu entfalten, bis hin zur Verwirklichung unserer höchsten Vision, einer Vision, die stets dem Wohl des Ganzen dient.

Christina KesslerChristina KesslerFoto: Renato Gerussi

Ropers: Welche Herzqualitäten sind Ihrer Ansicht nach bisher unentdeckt oder unterentwickelt gewesen?

Kessler: Generell würde ich sagen, dass in der bisherigen Menschheitsgeschichte all jene Herzensqualitäten, die zur Autonomie und Selbstverantwortung des Individuums führen, unentdeckt blieben, ja vom System absichtlich beschnitten wurden. Die traditionelle patriarchale Gesellschaft, die auf Macht und künstlicher Autorität beruhte, funktionierte nur, indem sie gefügige, kleinlaute, stereotype Bürger heranzüchtete. Unter Gehorsam verstand man das Befolgen von Befehlen, Vorschriften, Gesetzen und Dogmen. Demut war gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Selbsterkenntnis und Selbstachtung wurden schlichtweg verhindert, geistige Freiheit nicht selten mit dem Tode bestraft. Die Fähigkeiten der Wertschätzung und des Mitgefühls blieben auf die eigene Familie beschränkt.

Wirkliche Akzeptanz ist den meisten Menschen fremd, und Toleranz muss kollektiv erst noch entwickelt werden. Auch Fähigkeiten wie Lebensbejahung – ein unbedingtes Ja zum Leben und zu allem, was es bringt – waren nicht im Interesse des Systems: hätten sie uns doch mutig, ja sogar übermütig werden lassen können!

Vor allem aber wurden uns die spirituellen Herzensqualitäten vorenthalten, jene Qualitäten, die uns an das Transpersonale anzubinden und die Intelligenz der Liebe zu erschließen vermögen. Diese wurden geschickt in ihr Gegenteil verkehrt, um ihr Potential unkenntlich zu machen und im Verborgenen zu halten.

Gehorsam, Demut, Hingabe und Bedingungslosigkeit zählen zu diesen spirituellen Qualitäten. Gehorsam ist die Fähigkeit, auf die eigene innere Stimme zu hören und ihr zu folgen. Demut ist der Mut, seinen persönlichen Willen in den Dienst des überpersönlichen, göttlichen Willens zu stellen. Erst durch die Eigenschaft der Demut vereinen sich das Persönliche und das Über-persönliche. Erst dadurch werden wir empfänglich für die Wahrheit. Und erst die Hingabe an die Liebe ermöglicht uns wirkliche Selbstrealisation.

Lesen Sie weiter auf Seite 3: Herzensqualitäten sind ein Synonym für Tugenden

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Herzensqualitäten sind ein Synonym für Tugenden. Der Sinn der Tugenden lag bisher in der Vermeidung des Bösen, und dieses Böse wurde von außen definiert. Herzensqualitäten sind aber viel mehr. Sie erschließen uns den Zugang zum Wahren, Guten und Schönen, zum kosmischen Bewusstsein, zur impliziten Ordnung und den universalen Gesetzen. Sie führen in unser eigenes Herz, an die Quelle unseres ursprünglichen Potentials, die gleichzeitig die Urquelle aller Existenz ist.

Echte Herzensqualitäten kommen aus dem Herzen der Menschheit. Sie ermöglichen Bewusst-Werdung und Bewusst-Sein, echtes commitment, konstruktive Kommunikation, wirklichen und dauerhaften Frieden. Sie machen uns zu Schöpfern unserer eigenen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die auf einer Kultur des Herzens beruht. Folglich können nur Herzensqualitäten die echte Grundlage eines global verbindenden Wertesystems bilden.

Ropers: Es wird sehr viel von Bewusstsein gesprochen, vom alten wie vom neuen. Die neuesten Forschungen zeigen, dass man das Bewusstsein mit Sicherheit nicht im Gehirn lokalisieren kann. Wo würden Sie den Platz für unser Bewusstsein ansiedeln?

Kessler: In der Tat wird viel über Bewusstsein gesprochen. Es ist daher wichtig zu unterscheiden, was im heutigen Sprachgebrauch damit gemeint ist.

Zunächst: Das kosmische Bewusstsein durchdringt als „implizite Ordnung“ alles was da ist, sämtliche Formen der Existenz, selbst unbelebte Materie. Auf den Menschen übertragen würde dies heißen: „Bewusstsein“ befindet sich in jeder einzelnen Zelle und stellt sozusagen die Grundinformation des Lebens dar. Daraus geht auch hervor, dass universales kosmisches Bewusstsein immer an die individuellen Zellinformationen gebunden sein muss.

Des Weiteren sprechen wir vom kosmischen Bewusstsein als der Fähigkeit des Menschen, die implizite Ordnung wahrzunehmen. Diese besondere Fähigkeit geht über die reine Sinneswahrnehmung weit hinaus und erschließt sich erst durch die Liebe. Die Liebesintelligenz wird seit jeher dem Herzen zugeordnet. Man spricht sogar schon vom Herzen als dem zweiten Gehirn.

Meinen wir das „neue Bewusstsein“ als Zeitgeist, so würde dies besagen, dass die Inhalte des sich im Individuum neu erschließenden Bewusstseins zu einem neuen kollektiven Paradigma, einer neuen Entwicklungsstufe der Evolution heranreifen. Die typischen Merkmale des „neuen Bewusstseins“ sind Vernetzung und Integration.

Ropers: Sie bezeichnen die Liebe als den Klang der Wahrheit, der seit Urzeiten in uns schwingt. Was können wir konkret tun, um stärker in das Kraftfeld von Wahrheit und Wirklichkeit hineinzugeraten? Welchen Beitrag können wir zu einer universellen Weltordnung leisten?

Kessler: Lieben, lieben, lieben. Lieben ohne Ende. Die Liebe leben. Nicht nur denken. Liebe lässt sich nicht erdenken. Hier und jetzt, in jedem Augenblick und unter allen Umständen will sie gelebt werden. Liebe leben heißt: Herzensqualitäten entwickeln. Herzensqualitäten sind die Facetten der Liebe. Dadurch stehen sie in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander. Sie bilden ein Mandala. Dieses Mandala ist das genaue Spiegelbild des kosmischen Mandalas auf der Ebene des menschlichen Bewusstseins.

Das will sagen: Wenn wir die Liebe leben, erhalten wir Zugang zu den kosmischen Harmoniesignalen, die dann durch uns zu wirken beginnen; einfach deshalb, weil wir sie nicht mehr durch egoistische Strukturen blockieren. Liebe als das Prinzip und die Energie der Verbindung verknüpft unser individuelles mit dem kosmischen Bewusstsein. Dadurch entsteht ein Energie- und Informationsfeld, welches ich das Kraftfeld von Wahrheit und Wirklichkeit nenne.

Erst wenn ich bedingungslos liebe, bin ich frei. Erst wenn ich frei bin, kann ich bedingungslos lieben.

Weitere Informationen: www.christinakessler.com

Offener_Brief_von_CK.pdf

 



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