REZENSION – die Gefahren werturteilender Schätzung

Von 26. November 2012

 

Kulturkritiker werden landläufig auch als Rezensenten bezeichnet, die künstlerische Leistungen (Literatur, Musik, Theater, Malerei u.a.) in oftmals anmaßend-selbstherrlichen Berichten zensieren, bewerten. Leider sind viele Feuilletonisten (frz.: la feuille, lat.: folium = Blatt) zu notwendiger und aufrichtiger Wertschätzung, engl.: appreciation, kaum fähig. Versierte Kritiker sollten die Gabe der Unterscheidung besitzen, griechisch: κρίνειν (krínein) = trennen, aber keine destruktive Analyse betreiben. J.W. Goethe schrieb bereits im Jahr 1795 an K.A. Böttiger: „Des Kritikers Beruf ist, aufzulösen, trennen, das gleichartigste Ganze in Teile zu zerlegen.“

Wer den Künstlern mit dem Herzen seine Aufmerksamkeit schenkt, entfernt sich von intellektuell dominierter Bewertung und findet den Weg zu einer Wertschätzung, die von Wissen und sicherem Geschmacksempfinden bestimmt ist. Der Künstler möchte die Herzen seiner Zuhörer, Zuschauer, Betrachter erreichen und benötigt keine Zensuren, die von Rezensenten als Wertung (lat.: censere = beurteilen, abschätzen) vergeben werden.

Zu den Wundern zählt der euphorisch-tragische Lebensweg des ungarischen Pianisten György Cziffra (1921-1994). Umjubelt und verehrt in der 1950er- und 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als er nach schmerzensreichen Kriegserlebnissen gleichsam aus der künstlerischen Versenkung auftauchte und sich vor allem als Liszt-Interpret Respekt und Ansehen verschaffte, geriet der früh begabte Sprössling einer Zigeunerfamilie in die ästhetischen Mühlen einer Charakterbeurteilung, die sich nicht scheute, uralte rassistische Vor-urteile mit klischeehaften Verunglimpfungen pianistischer Zielsetzungen und Leistungen zu verknüpfen. Als Cziffra 1967 in Berlin spielte, schrieb die Presse: „Es gibt sieben Weltwunder; nachdem wir Cziffra gehört haben, wissen wir, dass es ein achtes gibt….“

Wenige Tage später spielte Cziffra dann zum ersten und letzten Mal auf deutschem Boden in München. In der Süddeutschen Zeitung vom 10. Dezember 1967 schrieb das ungekrönte Oberhaupt der Kulturkritiker Professor Dr. Joachim Kaiser u.a.: „Er ist ein Virtuose alter Schule, jedoch ohne Grandeur, ohne majestätische Kantilene, ohne rhythmischen Nerv (trostloser kann man etwa die As-Dur Polonaise Chopins nicht verfehlen) ohne Härte, Allüre und bannende Gewalt. Bleibt nun Cziffras Technik, schon als Technik genommen, ein gleichsam neutrales Vermögen, so ist er als Interpret, von manchen hübschen, sentimentalen Einfällen abgesehen, erschreckend arm: ein grifftechnischer Krösus und eine interpretatorische Kirchenmaus zugleich … Doch da die Freude an Virtuosität, an manueller Hexerei nach wie vor nicht etwa ausgestorben, sondern groß ist, dankte Cziffra enthusiastischer Jubel Begeisterter. Die anderen entfernten sich kopfschüttelnd.“

Vernichtender geht es kaum.

Der chilenische Pianist Claudio Arrau (1903-1991) gehört zu den herausragendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts, der über das damals größte Konzertrepertoire verfügte. Ein untadeliger und feiner Künstler und Mensch von allerhöchstem Niveau. Aber der Münchner Scharfrichter Joachim Kaiser, wagte, dem makellos spielenden Meisterpianisten Claudio Arrau Mogelei zu unterstellen. In seinem für Laien verfassten Bestseller „Große Pianisten“ (große Auflagen) schreibt Kaiser:

„Wie ernst Claudio Arrau seinen Beruf nimmt, wie nobel er reagiert, selbst wenn er sich ärgert und missverstanden glaubt, dafür soll jetzt ein Brief sprechen, den er schrieb, nachdem ich in einer Kritik seine Interpretation des B-Dur-Konzertes von Brahms folgendermaßen charakterisiert hatte: ,Immer wieder staunt man, wie er… die in den Akkorden gefrorene Polyphonie zum Sprechen bringt. Gewiss, Unmögliches, wie die Leggiero-Doppelgriffe in der Durchführung, wie die Sechzehntel-Triolen im letzten Satz, die weder Horowitz noch Richter und Backhaus spielen, vermag auch er nicht zu bewältigen. Da mogelt er, wie jeder anständige Mensch. Doch im Übrigen ist er den halsbrecherischen Schwierigkeiten des späten Brahms wunderbar gewachsen.“

Der vornehme Claudio Arrau erwiderte Joachim Kaiser auf diese ungeheuerliche Unterstellung:

„Nach reiflicher Überlegung sehe ich mich gezwungen, zu Ihrer Äußerung Stellung zu nehmen … Im Gegensatz zu Ihrer Behauptung versichere ich, dass ich Mittwoch Abend keine der bestehenden Schwierigkeiten zu meiner Erleichterung umgestaltet habe, was durch unzählige Bandaufnahmen und Grammophon-Platten bewiesen worden ist. Ich habe jeden einzelnen Ton schriftgetreu gespielt, weder Töne fortgelassen noch bestehende Notenbilder verändert, so dass das Wort mogeln unangebracht ist … Ich kann mir diese Auslegung eines so hervorragenden und scharfhörigen Kritikers wie Sie, lieber Herr Doktor, nur folgendermaßen erklären: wäre es möglich, dass Sie der von Ihnen wiederholt aufgestellten These von der Unmöglichkeit (Unausführbarkeit?) besagter Passagen zum Opfer gefallen sein dürften und dadurch das gehört haben, was Sie sowieso zu hören erwartet hatten? Ähnliche psychologische Phänomene haben uns alle schon oft zu Trugschlüssen geführt …“

Im Finale des 2. Brahms-Klavierkonzerts steht ein fast unspielbarer Terzenlauf der rechten Hand, die Linke ist gebunden. Arrau, der diese schwierige Passage beherrschte, ärgerte sich über Kaisers Anmaßung, obwohl er im Allgemeinen Kritiken nicht sehr ernst nahm.

Der „Piano-Kaiser“ fühlte sich nicht veranlasst, sich für seine infame Kritik gebührend zu entschuldigen.

 

Bei Lao Tse lesen wir im 70. Kapitel des „Tao Te King“:

„Meine Worte sind leicht zu verstehen
und leicht zu befolgen,
und doch kann niemand auf der Welt sie verstehen
oder sie befolgen.
Worte haben einen Urheber
und Taten einen Herrn.
Weil die Menschen unwissend sind,
können sie mich nicht verstehen.
Es gibt nur wenige, die mich verstehen,
und die, die über mich schimpfen,
sind angesehene Leute.
Deshalb trägt der Weise keine feinen Kleider,
aber hat den Edelstein im Herzen“.

 

{R:2}Der Religionsphilosoph Roland R. Ropers ist Autor und Herausgeber etlicher Bücher:

Was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Hans-Peter Dürr im Gespräch mit bedeutenden Vordenkern, Philosophen und Wissenschaftlern von Roland R. Ropers und Thomas Arzt; 2012 im Scorpio Verlag

Eine Welt – Eine Menschheit – Eine Religion von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Gott, Mensch und Welt. Die Drei-Einheit der Wirklichkeit von Raimon Panikkar und Roland R. Ropers

Die Hochzeit von Ost und West: Hoffnung für die Menschheit von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle zum 100. Geburtstag von Roland R. Ropers

 

 



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