In einem demokratischen China hätte es viel weniger Opfer gegeben

Über den Zusammenhang zwischen dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und den Folgen des Erdbebens in Sichuan sprach die Epoch Times mit dem Führer der Studentenbewegung von 1989, Juntao Wang in New York.
Titelbild
Juntao Wang (Maria Zheng/ETD)
Von 6. Juni 2008

Wenige Monate bevor vor 19 Jahren die Mauer zur ehemaligen DDR und den kommunistischen osteuropäischen Ländern fiel, endete in Peking die Aussicht auf ein demokratisches China mit einem Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Wäre China damals demokratisch geworden, wäre die Zahl der Opfer bei den jüngsten Erdbeben in Sichuan wesentlich geringer ausgefallen. Das menschliche Versagen bei der Bergung und Versorgung der Opfer gründet in dem gleichen, weiterhin existierenden diktatorischen System, so die Meinung des prominenten Führers der damaligen Stundentenbewegung Juntao Wang.

Während die ganze Nation Chinas um die Erdbebenopfer trauerte, stand am 4. Juni auch wieder der Gedenktag des Tiananmen-Massakers an. Jahr für Jahr unterbindet das Pekinger Regime jede Erinnerung an die Ermordung der Studenten. Sogar noch schärfer waren die diesmaligen Kontrollen, da die Olympischen Spiele bevor stehen. „Ein patriotischer chinesischer Bürger soll sich nur auf der Rettung der Erdbebenopfer konzentrieren“, so die KPCh. „Das Erdbeben kann kein Grund sein, nicht über Demokratie zu reden“, sagten dagegen die Teilnehmer an der alljährlichen Gedenkveranstaltung in Hongkong. Der Politologe und Führer der Studentenbewegung im Jahr 1989, Juntao Wang, trauert um beide Katastrophen. Für ihn liegt es auf der Hand, zu hinterfragen, was für einen Zusammenhang zwischen den beiden Katastrophen besteht.

ETD: Welche Wirkung hat Ihrer Meinung nach das Massaker vom 4. Juni auf die chinesische Gesellschaft?

Wang: Zur Bedeutung des 4. Juni gibt es unterschiedliche Interpretationen. Die allgemeine Bevölkerung meint, dass das Regime ein Verbrechen beging, weil das Regime das eigene Volk getötet hat. Diejenigen, die das Regime unterstützen, meinen dagegen, dass es zwar eine Tragödie war, diese aber für die Bewahrung der politischen Stabilität Chinas notwendig gewesen ist. Die Gruppen, die in dem Massaker am 4. Juni unterdrückt wurden, sind sich schon seit geraumer Zeit darüber einig, dass man darüber nachdenken muss, welche politischen Aussichten für China mit diesem Ereignis abgewürgt wurden.

Vor dem Hintergrund der derzeitigen politischen Entwicklung in Ostasien und Osteuropa bin ich der Meinung, dass die wesentlichen Ziele und Forderungen der damaligen Studentenbewegung auch in eine konstitutionell demokratische Regierungsform in China hätten münden können, wenn die Bewegung nicht von dem Regime niedergeschlagen worden wäre. Das Massaker hat diese politische Aussicht im Keim erstickt.

ETD: Das Erdbeben ist Ihrer Meinung nach nicht nur ein Naturgeschehen sondern auch ein politisches Verhängnis?

Wang:
Für die Mehrheit des chinesischen Volks ist das Erdbeben in Sichuan wahrscheinlich nur eine Naturkatastrophe, die man nie vergessen wird. Aber immer mehr Chinesen werden sich darüber bewusst, dass es sich bei dem Erdbeben nicht nur um eine Naturkatastrophe handelt, sondern auch um ein menschliches Versagen. Die menschlichen Faktoren haben den Schaden durch die Naturkatastrophe enorm verschlimmert. Wenn man die ganze Sache durchschaut, wird man alle Probleme finden, die bei vergleichbaren Katastrophen in der Vergangenheit in China auftraten und die auch in anderen diktatorischen Regimen bestehen.
Wäre China ein demokratischer Rechtsstaat, wären die Folgen des Erdbebens keinesfalls so katastrophal gewesen.

Viele Kinder kamen beim Erdbeben unter den Trümmern ihrer Schulen ums Leben. Diese überlebten. (AFP Photo/Teh Eng Koon)
Viele Kinder kamen beim Erdbeben unter den Trümmern ihrer Schulen ums Leben. Diese überlebten. (AFP Photo/Teh Eng Koon)

ETD: Was sind die menschlichen Faktoren? Welche Verantwortung trägt das Regime?

Wang: Bei diesem Erdbeben kann man die Verantwortlichkeiten des Regimes für die Verschlimmerung der Katastrophe anhand von fünf Aspekten aufzeigen.

Erstens: Es gibt eine Ignoranz gegenüber dem Leben und mangelnde Präventionsmaßnahmen.

Man kann die berechtigte Frage stellen, ob das chinesische Regime die Vorwarnungen des Erdbebens ignoriert und unterdrückt hat. Immer mehr Fakten bestätigen, dass es zu diesem Erdbeben Voraussagen von Experten gegeben hat und dass das Volk auch eine Vorausahnung gehabt hat. Es gab bei manchen Lokalregierungen sogar interne Mitteilungen. Aber all diese Bemühungen wurden von der entscheidenden Institution unterdrückt. Manche Menschen versuchen diese Unterdrückung als wissenschaftliche Meinungsverschiedenheit oder als Unreife der Technik zu interpretieren, um die Frage nach der politischen Verantwortung zu umgehen. Aber solche Argumente sind keinesfalls haltbar, weil das Institut für Erdbebenforschung und Erdbebenvorhersagen, das die Entscheidung gefällt hat, auch eine staatliche Behörde ist, die sich nach den politischen Regeln richten muss. Ihr Versäumnis ist eben das Versäumnis der Regierung. Ihre Ignoranz gegenüber der Vorwarnung spiegelt genau die verdorbene Denkweise in den politischen Organen Chinas wider.

Für die Funktionäre ist es viel wichtiger, die eigenen Posten und ihre Macht zu sichern, als das Leben anderer Menschen. Das größte Problem ist nicht nur, dass die Vorwarnungen nicht bekannt gemacht wurden, sondern dass das Regime gar keine Präventionsmaßnahmen gegen das vorausberechnete Erdbeben ergriffen hat. Außerdem sind sich die Wissenschaftler darüber einig, welche Regionen Chinas stark erdbebengefährdet sind. Aber in der Realität werden in den zuständigen Verwaltungsebenen in solchen Regionen weder Überwachungsmechanismen noch Rettungssysteme eingerichtet. Auch gibt es für das Volk keine Belehrungen über das Verhalten bei Erdbeben oder Training zum Selbstschutz. Noch schlimmer ist, dass in gefährdeten Erdbebenregionen auch noch Bauprojekte durchgeführt werden, die Erdbeben auslösen können.

Zweitens: Es wurde versäumt, die Erdbebenopfer rechtzeitig zu retten.

Mit der anscheinend viel offeneren Berichterstattung über die Erdbebenregionen und dem persönlichen Einsatz des chinesischen Prämierministers Wen Jiaobao für die Rettung der Erdbebenopfer, konnte die Kommunistische Partei Chinas ein gutes Image als „Diener des Volks“ erzeugen. Die Menschen danken der Partei wie einem Retter. Die Leistungen des Regimes sind aber mangelhaft, wenn man den Einsatz sachlich und fachkundig betrachtet. Zunächst hat das Regime nach dem Erdbeben nicht rechtzeitig ein professionelles und effektives Rettungssystem eingerichtet. Bis heute ist die Koordination vor Ort immer noch ein Chaos. Das Regime hat die beste Gelegenheit verpasst, die Menschen zu retten. Die ganze Aktion war katastrophal. Es scheint, als seien alle mobilisiert worden. Aber diese Soldaten und auch die freiwilligen Helfer sind unausgebildet, haben keinerlei Ausrüstung. Zum Beispiel wenn man den Opfern Wasser gibt, muss es salzig sein. Gibt man hingegen normales Wasser, sterben die Menschen sofort.

Während der Rettungsaktion gab es nicht einmal eine minimale Trainingseinheit. Hätte man einen Teil der Zeit darauf verwendet, sie kurz einzuweisen, hätten viele Menschen gerettet werden können, hätte man ihnen noch etwas Ausrüstung mit auf den Weg gegeben, hätten noch mehr Menschen gerettet werden können. Dem Regime war es schlichtweg egal. Stattdessen haben sie die Soldaten fotografiert, wie sie arbeiten, um sie in einem guten Licht zu zeigen. Keine Regierung und keine Soldaten sind so dumm. Keine Menschen sind so naiv. Und keine Regierung so böse. Darüber hinaus hat das Regime die Hilfe von professionellen Fachkräften der internationalen Gesellschaft abgelehnt und behindert. Diese Versäumnisse des Regimes haben direkt den Tod von vielen Verschütteten verursacht. Viele Überlebenden sind später gestorben, weil sie medizinisch nicht richtig behandelt wurden.

Peking, Platz des Himmlischen Friedens, 3. Juni 1989: Ein Student bittet die Soldaten, nach Hause zugehen. Doch einer friedlichen Lösung des Konflikts wurde kein Raum gegeben. Mehrere hunderte oder sogar einige tausend Menschen starben. (AFP)Peking, Platz des Himmlischen Friedens, 3. Juni 1989: Ein Student bittet die Soldaten, nach Hause zugehen. Doch einer friedlichen Lösung des Konflikts wurde kein Raum gegeben. Mehrere hunderte oder sogar einige tausend Menschen starben. (AFP)

Drittens: Die Tatsachen wurden unter der herrschenden Korruption verfälscht.

Nach dem Erdbeben sind bei den Rettungsarbeiten die typischen Probleme der allmächtigen Staatsorgane aufgetaucht. Spendengelder und Hilfsmittel werden unterschlagen. Um sich der Verantwortung als Behörde zu entziehen, werden Regierungsdokumente nachträglich geändert und die Wahrheit vertuscht.

Viertens: Die Zensur von Informationen.

„China hat sich für die Presse und in der Berichterstattung über das Erdbeben geöffnet.“ Diese Meinung scheint im Moment weit verbreitet, auch unter den ausländischen Medien. In der Tat hat das Regime nach SARS seine Lektion gelernt. In der Zeit der Globalisierung und Informationsfreiheit kann eine völlige Blockade von Informationen viel Raum für Gerüchte schaffen. Das chinesische Regime hat daher die Strategie bei der Kontrolle der Presse geändert und versucht diesmal aktiv mit sehr vielen Berichten beim Volk das Gefühl der Verbundenheit mit der Erdbebenregion aufzubauen.

Die eigens ausgewählten und herzergreifenden Bilder und Geschichten bedienen perfekt die Gefühle der Zuschauer in dieser besonderen Zeit. Die Menschen fühlen sich nun vom Regime angesprochen. Nach einer bestimmten Zeit wird das von dem Regime gewünschte Image von selbst aufgebaut. Die Menschen werden so dazu gebracht, die Fragen, die man stellen müsste, nicht mehr zu stellen. Nur die Leute in den Erdbebenregionen nehmen wahr, wie absurd die von dem Regime erschaffene Stimmung ist und wie weit sie von der Realität vor Ort entfernt ist. Die Pressekontrolle und die Zensur der Informationen durch das Regime ist keinesfalls lockerer, als in der Vergangenheit. Ihre neue Strategie macht die Propaganda noch verheerender, weil sie jetzt die Emotionen der Menschen steuern.

Fünftens: Die Baukonstruktion der Schulen weißt große Mängel auf.

Schlecht gebaute Schulen haben mindestens zehntausend Kindern das Leben gekostet. Hier geht es nicht allein um die Korruption der Bauunternehmen und der zuständigen Beamten. Es handelt sich um das Problem der gesamten Entwicklung der chinesischen Gesellschaft. Den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft gibt es nur in der Propaganda der Partei. Von einer tatsächlichen Änderung des Systems und der Politik ist nichts zu sehen.

Wäre China kein diktatorisches Land, in dem sich alle Macht und alle Ressourcen nicht vollständig in den Händen der Machthaber konzentrieren; hätte China eine gesund entwickelte bürgerliche Gesellschaft, wären die Politiker aller Ebenen, statt ihren Vorgesetzten, den Wählern gegenüber verantwortlich; hätte China freie Medien, unabhängige Forschungsinstitute und bürgerliche Vereinigungen, welche die Arbeit der Regierung überwachen können, würde der entstandene Schaden des Erdbebens in Sichuan nicht so groß sein! Eine konstitutionell demokratische Staatsform kann die Wahrscheinlichkeit und den Schaden einer solchen gesellschaftlichen Katastrophe vermindern. Darin besteht auch der Zusammenhang zwischen dem Massaker am 4. Juni und dem Erdbeben in Sichuan.

Zur Person:
Juntao Wang (geb. 1958), wurde vom chinesischen Regime als „Schwarze Hand“ hinter dem „konterevolutionären Studentenwiderstand“ bezeichnet, weil er in der Studentenbewegung der Hauptkoordinator für die Zusammenarbeit zwischen den studentischen Organisationen der verschiedenen Hochschulen in Peking und den selbstverwalteten Organisationen der Pekinger Intellektuellen gewesen ist. Gleich nach dem Blutbad auf dem Platz des himmlischen Friedens am 4. Juni vor 19 Jahren wurde gegen ihn ein Fahndungsbefehl erlassen. Im Oktober 1989 wurde er festgenommen und im Februar 1991 wegen „versuchtem Umsturz der Regierung und Anstiftung zur Konterrevolution“ zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Aufgrund der Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft schob ihn das Pekinger Regime zur „medizinischen Behandlung“ in die USA ab. Nach dem Master-Abschluss im Fach Öffentliche Verwaltung in der Harvard-Universität erhielt er im Jahre 2006 den Doktortitel für Politische Wissenschaft der Columbia-Universität in den USA. Im Jahre 2005 gründete Juntao Wang mit einigen führenden Persönlichkeiten der 89er-Studentenbewegung das Institut zur Förderung des Aufbaus der konstitutionellen Demokratie in China.



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