Pippi Langstrumpf und die Arbeitslosigkeit

Wie man die Arbeitslosenzahlen verschwinden lässt
Von 9. November 2006

Das politische Deutschland, wenn es denn zur Regierungsseite gehört, sonnt sich in den jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg: Zum ersten Mal seit langem konnte die Arbeitslosenrate unter die 10% gedrückt werden. Vergessen sind Airbus, Siemens/BenQ, AEG und was da sonst noch täglich an Meldungen über Arbeitsplatzabbau, Verlagerung ins Ausland oder Lohnsenkungen über den Ticker läuft. „Auch notorische Nörgler und Miesmacher können es nicht mehr ignorieren: Der Durchbruch am Arbeitsmarkt ist da. Wir haben Grund uns zu freuen“, sagte Müntefering in einer Pressemitteilung. Die im deutschen Bundestag verbliebene Opposition ist auch still geworden, wer möchte denn als Quertreiber gelten, der das Schulterklopfen stört.

Bei näherem Hinschauen kann man sich aber doch des Eindrucks nicht erwehren, dass man, was die Arbeitslosenstatistik angeht, nach dem Pippi Langstrumpf-Motto verfährt: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“

Ein genauer Blick auf die Statistik

Was erkennt man, wenn man einen genaueren Blick auf die Zahlen aus Nürnberg wirft, die den Rückgang der Arbeitslosigkeit verkündeten?

Saisonal bereinigt sank die Zahl der Arbeitslosen im Oktober um 67.000 im Vergleich zum Vormonat, nicht saisonbereinigt um 153.000.

Zunächst einmal muss man den Status eines Arbeitslosen in Deutschland klären. Arbeitslos ist nach allgemeiner Definition jemand, der weniger als 15 Stunden in der Woche arbeitet, aber mehr als 15 Stunden arbeiten will und jünger als das jeweilige Rentenalter ist. Darüber hinaus muss die Person dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Letztere Bedingung aber ist der Dreh- und Angelpunkt bei der Frage nach der Höhe der wirklichen Arbeitslosigkeit. Mit Verweis auf die Verfügbarkeit zählt nicht als arbeitslos, wer an Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit teilnimmt (z.B. Trainingsmaßnahmen, ABM, 1-Euro-Job) oder wer eine Ich-AG gegründet hat. Denn in der Realität werden alle in Beschäftigungsmaßnahmen der Arbeitsagentur stehenden Arbeitslosen einfach nicht mehr als arbeitslos gezählt und fallen aus der Statistik.

Wurden viele sozialpflichtige Arbeitsplätze geschaffen? Die bittere Wahrheit hinter dem so plötzlich bejubelten Jobwunder ist, dass gegenwärtig 1,6 Millionen Personen in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nach SGB I und SGB II verschoben wurden, die jetzt nicht mehr als arbeitslos zählen. Ebenso fehlen in dieser Zahl all jene Personen, die nicht die Bedürftigkeitsmerkmale des SGB II erfüllen, aber dennoch arbeitslos sind. Als Beispiel seien genannt: unter 25-Jährige mit vermögenden Eltern, Arbeitslose mit Vermögen oder vermögendem Partner, sofern sie länger als ein Jahr arbeitslos sind, alle diese Personen verschwinden ebenfalls auf wundersame Weise aus der Statistik der Arbeitssuchenden.

Die oben genannten Maßnahmen sind außerdem oft fragwürdig. So bildete ein Jobcenter ohne Berücksichtigung des Bedarfs in der Gegend Arbeitssuchende als Gabelstapelfahrer aus, leider völlig am Bedarf vorbei. Ein anderes Jobcenter in einer Kreisstadt im nördlichen Oberfranken lässt eine junge Arbeitslose, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen hat und Excel und Word beherrscht, in einem auf fünf Monate angelegten Kurs Excel und Word neu „erlernen“. Sinnlose Tätigkeiten, aber der Sinn ist dennoch klar: Raus aus der Statistik.

Nach dieser neuen Zählweise gibt es allein im Oktober 2006 über 1.6 Mill. Arbeitslose, die nicht mehr als arbeitslos gelten, weil sie in den genannten arbeitspolitischen Maßnahmen zu finden sind. Im Sept. 2006 gab es hingegen erst 1,42 Mill. Betroffene, die in diese Maßnahmen verschoben wurden, allein binnen Monatsfrist stieg deren Zahl also um 168.000 Personen an. 168.000 Menschen, die aus der Statistik wegfallen und somit die offiziell verkündete Arbeitslosigkeit um 168.000 senken. 168.000 Menschen, die dennoch keine Arbeit haben. Noch drastischer ist das Ausmaß, wenn man es mit 2004 vergleicht, als Mitte des Jahres lediglich 868.000 Menschen in diese Maßnahmen verschoben wurden. Vergleicht man nun die zwischen September 2006 und Oktober 2006 statistisch Verschwundenen mit dem offiziellen Abbau der Arbeitslosigkeit um 153.000, so stellt man fest, dass die real existierenden Arbeitslosen auf Monatsfrist um 15.000 mehr wurden. Das ist die traurige Quintessenz hinter den Zahlen aus Nürnberg.

Das ist nicht alles

334.000 Arbeitslosengeldempfänger, die nicht als arbeitslos geführt werden, weil sie die vorruhestandsähnliche Regelung des § 428 SGB III in Anspruch nehmen oder arbeitsunfähig erkrankt sind, müssen eigentlich auch noch hinzu gerechnet werden, wenn man ganz genau sein wollte. Dabei ist die geschätzte stille Reserve überhaupt nicht einbezogen, eben weil diese nicht statistisch erfassbar ist. Experten schätzen sie auf etwa zwei Millionen.

Struktur der Arbeitslosigkeit

Die Anzahl derjenigen, die Anspruch auf das herkömmliche Arbeitslosengeld I haben, geht ständig zurück. So wurden die Ausgaben für Alg II sowohl im Vergleich zum September wie auch im Vergleich zum Vorjahresmonat erhöht. Die Ausgaben für ALG I hingegen fielen um 19,5 %. Arbeitslose über 58 werden überhaupt nicht mehr als arbeitslos gezählt, auch wenn sie noch arbeiten wollen oder wegen des erhöhten Renteneintrittsalters sogar müssten. Das widerspricht der allgemein anerkannten Definition, dass jemand, der mehr als 15 Stunden arbeiten will und jünger als das jeweilige Rentenalter ist als arbeitslos zählt. Wie von Betroffenen zu erfahren ist, werden viele ältere Arbeitnehmer von Arbeitsämtern bedrängt, eine Erklärung nach § 428 SGB III zu unterschreiben. Damit würde keine weitere Arbeit mehr vermittelt werden, Meldepflicht und Urlaubsregelung würden sich im Gegenzug vereinfachen.

Die Diskrepanz zwischen offiziellen Zahlen und der Realität wird aber jetzt immer öfter kritisiert. So bezeichnete die Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB) die Arbeitsmarktanalyse der Senatswirtschaftsverwaltung als fehlerhaft. „Zwar ist die Zahl der Arbeitslosen gegenüber dem Vormonat um 10.273 gesunken, es wurden aber im Oktober 11.506 mehr Personen mit Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik gefördert als im September“, sagte ein UVB-Sprecher am Freitag. „Die Unterbeschäftigung, die sich aus der Zahl dieser Geförderten und der Arbeitslosenzahl zusammensetzt, ist damit gestiegen.

Richtig erkannt. Nur handelt es sich de facto um Arbeitslosigkeit, nicht um Unterbeschäftigung.

Zudem sollte man nicht vergessen, dass eine nicht geringe Anzahl Deutscher dem Land Adieu sagte. 145.000 Auswanderer im letzten Jahr, so viel wie seit mehr als 50 Jahren nicht mehr. Das besonders Alarmierende an der zunehmenden Abwanderungsbewegung ist ihre Zusammensetzung: Weit mehr als die Hälfte zählt zu den jungen, gut Ausgebildeten unter 35 Jahren. Diese stehen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung, nicht wenige wurden durch die Arbeitslosigkeit und schlechte Arbeitsbedingungen (Generation Praktikum) ins Exil getrieben, manche gaben bekanntermaßen ihre Stellen auf, weil sie im Ausland bessere Arbeitsbedingungen vorfinden. Ärzte z.B. gehen nach Schweden, Neuseeland oder Norwegen.

Deren vakant gewordene Stellen müssen aber auch, zumindest teilweise, besetzt werden. So entsteht dabei ein statistischer Einmal-Effekt, der auf Jahresfrist gesehen die Anzahl der Arbeitslosen um einige Zehntausend senkt.

Schlechte Qualität der neuen Arbeitsplätze

Besonders die Teilzeitarbeit hat in den vergangenen Jahren ständig zugenommen und ist im Anteil auf etwa 25 % der Gesamtbeschäftigung angewachsen. Der Jahresdurchschnitt an zusätzlichen Teilzeitarbeitsplätzen im Zeitraum 1999-2003 lag bei fast 260.000. Der überwiegende Teil der neuen Arbeitsplätze befindet sich in den Bereichen der 1-Euro- und 400-Euro-Jobs sowie bei niedrig bezahlter Teilzeitarbeit und zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen.

Man schätzt, dass über Dreiviertel der so im letzten Jahr entstandenen Arbeitsplätze diesen Bereichen entstammt. Diese entstehen häufig dadurch, dass Arbeitsplätze von Firmen „outgesourct“ werden und billigere Anbieter den Firmen diese Outgesourcten wieder als Leiharbeiter oder Zeitarbeiter zur Verfügung stellen, wobei die Arbeitsplätze gesplittet werden und sich somit die Anzahl auch bisweilen erhöht. Die Entlohnung liegt fast immer wesentlich unter dem früheren Lohn. Dennoch gelten diese als sozialversicherungspflichtig, suggerieren also einen höheren Standard.

Keine Verbesserung bei Langzeitarbeitslosen

Vor allem aber liegt die Zahl der Langzeitarbeitslosen (länger als 12 Monate arbeitslos) von weiterhin 1,8 Millionen mit dem auf 44,2 % angestiegenen Anteil an allen Arbeitslosen immer noch um 4,5 % über dem Vorjahreswert.

Als Fazit des Ganzen bleibt, dass die Anzahl der statistisch erfassten Arbeitslosen gegenwärtig bei etwa 5,7 Millionen liegt und nicht wie angegeben bei 4,09 Mill., dass die Zahl im Oktober anstieg und nicht fiel, und dass die bisherigen Reformen in keiner Weise das brachten, was man von ihnen erwartete.



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