Homo Rapiens – der Mensch als Raubtier und die Illusion des Fortschritts

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Von 16. Februar 2015

„Die Welt, in der ein Mensch sein alltägliches Leben verbringt, setzt sich aus Gewohnheit und Erinnerung zusammen. Die gefährlichen Bereiche sind jene Zeiten, wenn das Selbst, das ebenfalls aus Gewohnheit und Erinnerung besteht, zurückweicht oder sich auflöst. Dann wird der Mensch, wenn auch nur für einen Augenblick, ein anderer, als er vorher war…“

In „Raubtier Mensch“ erzählt der Bestsellerautor John Gray, Professor emeritus  für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics, auf 200 Buchseiten von menschlichen Idealen, die er als Wahnvorstellung verwirft. Der Mensch hält sich für besser, als er ist.

Nicht homo sapiens, als der sich der Mensch gern selbst sieht, ist er geworden, sondern homo rapiens – Raubtier Mensch – geblieben.

Das wachsende Wissen ermöglichte es dem Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so das Credo des liberalen Humanismus. Ihn und alle Fortschrittsphantasien unterzieht John Gray in seiner Tour d­’Horizon einer grandiosen wie vernichtenden Kritik.

Ein aufrüttelndes Buch zur richtigen Zeit, wo die hochzivilisierte Bevölkerung des Westens im Niedergang ihrer Geisteskultur mit dem Phänomen eines homo demens fertigwerden muss und dem von John Gray beschriebenen homo rapiens hilflos ausgeliefert sein wird.

Der Fremde in den Kulissen – Buchseiten 181ff.

„Der Schutzpatron des Humanismus ist eine rätselhafte Gestalt. Wir wissen nicht, wie Sokrates aussah, denn das Bild, das wir von ihm haben, wurde von Plato geformt. Der Begründer der abendländischen Philosophie war vielleicht ein Sophist, der nicht nur eingestand, dass er nichts wusste, sondern mehr noch der Überzeugung war, dass es auch nichts Wissenswertes gab; oder ein später Anhänger des Schamanismus, der seine Erkenntnis der Wahrheit einem inneren Orakel verdankte.

Vielleicht war er sogar, wie Plato ihn beschrieb, ein rationalistischer Mystiker, der glaubte, dass die Menschen – zumindest einige wenige Eingeweihte – Zugang zu einer der Zeit enthobenen Sphäre finden konnten.

Es spielt keine große Rolle, wer oder was Sokrates tatsächlich war, da die Macht, die er über den Geist ausübt, die Macht des Mythos ist. Das sokratische Erbe besteht aus einer Reihe von Glaubensartikeln, die auf die eine oder andere Weise das humanistische Denken geprägt haben. Die Annahme, das menschliche Böse sei eine Form des Irrtums, der mit der Zunahme des Wissens verschwinden wird; die Annahme, ein gutes Leben müsse ein geprüftes Leben sein, und schließlich die Annahme, die An-wendung der Vernunft könne die Menschen befähigen, ihr Schicksal selbst zu gestalten – alle diese fragwürdigen Behauptungen werden als unanfechtbare Axiome wiederholt, seit Sokrates den Status eines humanistischen Säulenheiligen erlangt hat…

Anders als seine modernen Schüler vertrat Sokrates keine Fortschrittsidee: Die Erlösung war kein historisches Ereignis, sondern das Aufgehen in einen zeitlosen Raum. Dass Sokrates niemals sein Todesurteil infrage stellte, hing auch damit zusammen, dass er glaubte, der wichtigste Teil von ihm könne nicht sterben…“

Freuds Zigarren und der lange Weg ins Nirvana

Sehr interessant, wie der am 17. April 1948 im englischen South Shields geborene Buchautor und bekennende Atheist das mythologische Weltbild des Begründers der Psychoanalyse beschreibt, für dessen Denken Wissenschaft und Religion Konkurrenten waren.

„Für Sigmund Freud war das menschliche Leben ein Ich-Bildungsprozess, keine Suche nach einem fiktiven inneren Selbst. Wenn man nach seinem wahren Selbst sucht, öffnet man endlosen Enttäuschungen Tür und Tor. Wer über kein besonderes Potential verfügt, wird den Versuch, sein inneres Wesen zur Entfaltung zu bringen, mit einer schmerzhaften Vergeudung seiner Existenz bezahlen…

Sich selber kennenzulernen heißt, die Geschichte des eigenen Lebens auf eine neue, phantasievollere Art zu erzählen als vorher. Wenn man das eigene Leben im Lichte dieser neuen Betrachtungsweise sieht, wird man sich auch selbst verändern. Das Leben wird sozusagen von einer neuen Fiktion  bestimmt werden. Diese Fiktionen zu entwickeln, das meinte Freud mit der Aufgabe der Ich-Bildung. Das Ich ist selbst eine Fiktion, eine Fiktion, die niemals festgelegt oder vollendet wird…“

Ein provokatives Buch, das intensives Nachdenken erfordert. Wird der „digitalisierte Mensch“ zum Gegner der Wunderwelt der Natur?

John Gray und Hans Freundl

Raubtier Mensch

Verlag Klett-Cotta

205 Seiten

ISBN-10: 3608948848

19,95 Euro



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