Wenn das irdische Leben verlischt – Tod und Sterben mit Begleitung

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Dorothea MihmFoto: Mit freundlicher Genehmigung von Dorothea Mihm

Gespräch mit der Palliativschwester Dorothea Mihm, die Tausende von Menschen im Sterben begleitet hat.

Roland R. Ropers: Ende März 2014 erschien im Münchner Kailash-Verlag Ihr beeindruckendes Buch „Die sieben Geheimnisse guten Sterbens, das Sie zusammen mit der in Hamburg lebenden Diplom-Biologin und Sachbuchautorin Annette Bopp geschrieben haben. Mit dieser Publikation haben Sie einen bedeutenden Meilenstein im und Maßstäbe für das 21. Jahrhundert gesetzt, wo die medizinische Wissenschaft vor gewaltigen Veränderungen steht und sich von dem herkömmlichen mechanistischen Weltbild verabschieden muss. Mehr als 30 Jahre haben Sie als ausgebildete Krankenschwester Tausende von Menschen im Sterben begleitet und dabei außergewöhnlich Erfahrungen gesammelt. Ist der Tod die Fortsetzung  eines „ewigen  Lebens“ – ein Szenenwechsel im kontinuierlichen Prozess der Veränderung?  

Dorothea Mihm: Für mich sind Sterben und Tod, wie das Leben selbst, nur Zwischenbereiche eines großen Kreislaufs. In diesem Kreislauf gibt es keinen Anfang und kein Ende, eben, weil es ein Kreis-Lauf ist. Wir alle wandeln in diesem Kreislauf umher, sind ständigen Veränderungen ausgesetzt, und interessanterweise wundern wir uns immer darüber.  Es scheint im Verständnis der Menschen eine große Sehnsucht nach Beständigkeit zu geben. Diese Sehnsucht hindert uns daran, in der Gegenwart zu leben.  Wir verhaften uns an Altem und hoffen darauf, dass möglichst alles bleibt, wie es war. Wenn dann aber Sterben und Tod in unser Leben treten, erleben wir das als tiefe Erschütterung. Denn das erinnert uns jäh daran, dass wir nichts festhalten können, dass nichts bleibt, wie es ist, dass alles im Leben Veränderung bedeutet, und dass wir im Tod alles loslassen müssen, was wir liebten und was uns wichtig war.

Ropers: Bemerkenswerterweise setzen Sie der Angst die Liebe gegenüber. Ist die Angst – oftmals vielleicht nur latent – ein Lebensphänomen schlechthin, das sich in der Todesstunde nochmals dramatisch zeigt? Haben wir möglicherweise die wesentliche Bedeutung von Liebe falsch verstanden?

Mihm: Angst ist eines der wichtigsten Gefühle, die wir in uns tragen.  Sie schützt uns vor Gefahren. Das ist die eine, die eher oberflächliche Seite. Angst zu haben, bedeutet aber auch, dass ich von einem Selbst ausgehe, einer Wesenheit, die wir das Ich oder das Ego nennen. Nur dieses Ego kann Angst erfahren. Im tibetischen Buddhismus gehen wir davon aus, dass es im Idealzustand aber kein Ich, kein Ego gibt – nur bedingungslose Liebe. Dann gibt es auch niemanden mehr, der Angst haben kann oder muss. Nach diesem Zustand streben wir. Und bis wir ihn erreichen, müssen wir eben viele, viele Zyklen durch verschiedene Leben gehen – und dabei auch immer wieder Angst erfahren.

Ropers: Mit großer Geduld und Ruhe hören Sie Ihren Patienten oft stundenlang und mit großer Aufmerksamkeit zu bzw. nehmen sie in ihren verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten wahr, wenn sie nicht mehr sprechen können. In der Regel werden schwer kranke oder sterbende Menschen wegen starker Schmerzen oder psychischer Verwirrung mit Medikamenten ruhiggestellt, sediert. Macht man es sich dabei zu leicht und zu bequem? Ist die Arbeit einer liebevollen Begleitung, die ja vielleicht die Sedierung erübrigen könnte, heute gar nicht zu leisten?

[– Enttabuisierung des Sterbens–]

Mihm: Zunächst einmal: Es ist ja unklar, was unter „psychischer Verwirrung“ zu verstehen ist. Häufig handelt es sich dabei ja um Zustände, die die moderne Medizin mit ihrem mechanistischen Menschenbild nicht versteht. Wenn man den Menschen mit anderen Augen ansieht, werden auch solche Zustände „normal“ und nachvollziehbar.

Zum anderen halte ich es in einem so reichen Land wie der Bundesrepublik Deutschland für einen Hohn, wenn gesagt wird, dass wir keine Zeit haben, um uns für unsere Mitmenschen in ihrer großen Not im Sterbeprozess angemessen zu kümmern. Natürlich ist es bequem und personalsparend, einen Sterbenden medikamentös einfach ruhigzustellen. Was aber tut man damit? Man nimmt diesem Menschen die Möglichkeit, den Sterbeprozess bewusst und liebevoll begleitet zu durchleben. Wenn ein Mensch tatsächlich eine solche Sedierung wünscht – dann ist das seine Entscheidung. Die meisten werden aber ja gar nicht gefragt. Und viele würden sich dagegen entscheiden, wenn sie wüssten, dass sie auch auf diesem schwierigen Weg angemessen begleitet würden.

Es ist doch wie bei der Geburt: Eine Schwangere, die weiß, dass sie eine kompetente Hebamme an ihrer Seite hat und einen erfahrenen Geburtshelfer im Hintergrund, hat keine oder kaum Angst vor der Geburt. Es würde uns auch nicht in den Sinn kommen, eine Gebärende bewusstlos zu spritzen, damit sie den Geburtsprozess nicht erleben kann, wenngleich wir heute mit der hohen Rate an medizinisch unnötigen Wunsch-Kaiserschnitten schon gefährlich  weit auf diesem Weg sind. 

Wir sind mit der Palliativmedizin und der Hospizbewegung schon weit gekommen, was die Enttabuisierung des Sterbens betrifft. Aber noch lange nicht weit genug. Denn gerade die letzte Lebensspanne, wenn der Mensch in die aktive Sterbephase eintritt, wird bei uns sträflich vernachlässigt und nach wie vor tabuisiert. Weil nur wenige sich richtig damit auseinandersetzen, was in dieser Phase passiert. Deshalb haben wir diesem Prozess in unserem Buch auch so viel Raum gegeben.

Ropers: Die Palliativmedizin hat zweifellos Fortschritte gemacht. Stehen wir aber nicht erst am Anfang einer humanen Sterbebegleitung? Ist der selbstbestimmte Tod eine von Verzweiflung bestimmte Ausweglösung?

Mihm: Ja, ich glaube schon, zumindest in der Mehrzahl der Fälle. Wenn jemand Sterbehilfe für sich in Anspruch nimmt, liegt es ja meistens daran, dass er nicht abhängig und hilflos sein möchte. Dass er sein Leben bis zum Schluss selbst bestimmen möchte. Das ist nachvollziehbar, wenn wir uns die Situation in unseren Pflegeheimen und Krankenhäusern anschauen. Diese Missstände sind ja schon vielfach angeprangert worden – aber geändert hat sich nichts. Anstatt die Sterbehilfe zu legalisieren, wäre es aber sinnvoller, diese skandalösen Zustände zu beenden, mehr qualifiziertes Pflegepersonal einzustellen, eine würdige Sterbebegleitung anzubieten. Hier haben wir noch einen weiten Weg vor uns, auch auf den Palliativstationen und in den Hospizen.

[– Der Arzt als Heiler und Priester – das war früher einmal–]

Ropers: Worin liegt die Funktion des Arztes bei Sterbenden? Hat er genügend Zeit, sich den Patienten zu widmen, ihnen zuzuhören?

Mihm:  Der Arzt als Heiler und Priester – das war früher einmal. Heute gibt es leider vorwiegend Mediziner und kaum noch Ärzte. Natürlich hat der Arzt als Begleiter und Helfer im Sterbeprozess eine wichtige Aufgabe. Er muss sein Wissen und seine Kompetenz zur Verfügung stellen, um dem Patienten Leid und Schmerzen zu ersparen – neben der Pflege und anderen Therapeuten. Leider nehmen sich die meisten Ärzte heute kaum noch die Zeit, um sich über das Verordnen von Medikamenten hinaus angemessen um einen Patienten im Sterbeprozess zu kümmern, ihm zuzuhören, ihm beizustehen. Es ist doch ein Armutszeugnis schlechthin, wenn ein Arzt zu einem Patienten sagt: „Ich kann nichts mehr für Sie tun.“ Ein Arzt kann immer etwas tun, bis zum letzten Atemzug des Patienten. Und sei es, ihm die Hand zu halten, die Füße einzureiben oder einfach da zu sein. Das erfordert aber eine bestimmte innere Haltung. Und daran fehlt es heute vielen Ärzten, den meisten. Leider.

Ropers: Sie haben offensichtlich wiederholt beobachten können, dass Menschen, deren EEG eine Nulllinie aufwies, die also hirntot waren, noch Reaktionen zeigten, die eine weitere non-verbale Kommunikation ermöglichten? Haben Sie dies so häufig erlebt, dass Sie sagen können, die endgültige Feststellung des Todes bedarf einer völlig neuen Methode?

Mihm: Die Definition des Hirntods als Todesbeweis steht heute ja in der Diskussion, und das ist sicher berechtigt. Bei jedem Hirntoten, den ich pflegen durfte, konnte ich nach einer gewissen Zeit deutliche Reaktionen erleben – es waren Antworten eines Bewusstseins, das sich eben nicht über die neuralen Kommunikationskanäle mehr äußern kann, aber durchaus noch als Bewusstsein dieser Individualität spürbar und wahrnehmbar vorhanden war. Ich gehe davon aus, dass es in uns mehrere Bewusstseinsebenen gibt. Und wenn die kognitive Bewusstseinsebene unseres Gehirns zerstört oder funktionsunfähig ist, gibt es immer noch tieferliegende Bewusstseinsebenen, die mit uns kommunizieren können. Wir brauchen lediglich die passenden Wahrnehmungsinstrumente dafür. Die „Basale Stimulation in der Pflege“ ist dafür eine wunderbare Methode.

[–Es gibt eine andere Ebene, in der wir weiter existieren–]

Ropers: Wie gestalten Sie eine solche non-verbale Kommunikation?

Mihm: Das kann ich nicht pauschal angeben, es ist immer ein sehr individueller Dialog auf verschiedenen Ebenen.

Ropers: Für wie bedeutsam oder bedenklich halten Sie die Publikationen über Nah-Tod-Erfahrungen? Was macht die Menschen so neugierig?

 Mihm: Diese Berichte zeigen vor allem, dass das Leben mit dem Tod eben offenbar wirklich nicht vorbei ist, sondern dass es eine andere Ebene gibt, in der wir weiter existieren – als Geist, als Seele, als Ich, wie immer Sie das nennen wollen. Für mich ist es positiv, dass es diese Berichte und Bücher gibt. Auch weil sie eine positive Sicht auf das Sterben und den Tod eröffnen.

Ropers: Warum ist die spirituelle Schulung, die Sie bei einem buddhistischen Lama bekommen haben, für Ihre Arbeit so wichtig? Was lehren uns die östlichen Meister und Weisen, das unsere westliche technokratische Wissenschaft nicht vermitteln kann?

Mihm: Ich denke, wir haben hier im Westen nicht nur technokratische Wissenschaftler. Es gibt ja auch ein Europa und anderswo ein lebendiges Geistesleben, sogar in den Kirchen und in anderen Glaubenszusammenhängen. Ich persönlich habe dort aber nicht die Antworten gefunden, nach denen ich gesucht habe, wohl aber im tibetischen Buddhismus. Er lehrt uns eine große Offenheit, und er lehrt uns vor allem, Liebe und Mitgefühl in unserem Leben zu kultivieren. Indem ich mich intensiv mit diesem jahrtausendealten Wissen auseinandergesetzt habe, auch mit den Schriften über Sterben und Tod, habe ich extrem viel gelernt und viele Bestätigungen für meine Beobachtungen erfahren. Und ich habe auch einen Gutteil meiner Angst und Ohnmacht, meiner Zweifel und Unsicherheit, meiner  Aggression und Hilflosigkeit dem Sterben und Tod gegenüber verloren.

Ropers: Erlebt ein in Frieden sterbender Mensch Freude und Klarheit in seinem Innersten, auch wenn er nach außen hin von Schmerzen geplagt und verwirrt erscheint?

Mihm: Das wissen wir so nicht. Und das ist sicher bei jedem Menschen verschieden. Wenn der Schmerz dominiert, kann der Tod kaum friedvoll sein. Es kommt aber darauf an, um welchen Schmerz es sich handelt. Es gibt den körperlichen Schmerz und den seelischen oder geistigen Schmerz. Und ebenso gibt es unterschiedliche Mittel, um diese Schmerzen zu lindern. Stirbt ein Mensch in vollem Bewusstsein, mit friedlichem Geist und frei von störenden Körpersymptomen, ist es durchaus möglich, dass er in Freude und Klarheit sterben kann. Das kann man lernen, zu Lebzeiten. Das zu vermitteln, war ebenfalls ein Grund, warum wir dieses Buch geschrieben haben.

Ropers: Welche Bedeutung hat die Atmosphäre der Stille in der Umgebung eines Sterbenden?

Mihm: Sie ist sehr wichtig. Weil er so intensiv damit beschäftigt ist, sich von allem zu lösen, was sein irdisches Leben ausgemacht hat.

Ropers: In Ihrem Buch haben Sie etwas Wunderbares geschrieben: „Der Tod gehört zur Liebe. Der Tod gibt uns die Möglichkeit, unser wahres Selbst zu erkennen, das, was unser Inneres ausmacht. Er schenkt uns auch die Erkenntnis, dass die wahre tiefe Liebe weit über den Tod hinausreicht.“ Bringen Sie damit zum Ausdruck, dass wir mit Hilfe der Liebe die Unendlichkeit des Lebens erfahren können?

Mihm: Ja, das kann man so interpretieren, und das bestätigen uns alle spirituellen Meister jeglicher Glaubensrichtung, die je auf Erden gelebt haben oder derzeit leben.



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