Auf dem Sprung in den Tod – Magersüchtige zwischen Lebenshunger und Todessehnsucht

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Es weisen einige Studien darauf hin, dass mehr Magersüchtige durch Selbstmord sterben als durch Unterernährung – obwohl auch das Hungern bereits ein Selbstmord auf Raten sein kann. Zeichnung: Christian Schlierkamp

Psychisch Kranke werden in unserer Gesellschaft häufig stigmatisiert und gemieden. Wir brauchen deshalb mehr Informationen über psychische Probleme und eine bessere Versorgung psychisch Kranker. Die EPOCH TIMES veröffentlicht in der Rubrik Gesundheit jede Woche einen Artikel von Dr. Sandra Maxeiner und Hedda Rühle, deren munteres Buch „Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie“ als „Lehrbuch mit der Lustformel“ gerade die Charts emporklettert. So ist dafür gesorgt, dass Lebensnähe und Verständlichkeit garantiert sind.

Die 20-jährige Hannah stand auf dem Dach eines Hochhauses. Langsam ging sie weiter bis zur Kante. Sie blickte hinunter. Es war hoch, verdammt hoch. Wie würde es sein, wenn sie springt? Würde sie sofort nach dem Aufprall tot sein oder würde ihr Rückgrat brechen, sodass sie für immer gelähmt wäre? Hannah verdrängte die beängstigenden Gedanken, denn ihre Verzweiflung war zu groß.

Sie hasste sich, hasste dieses Leben und sah keinen Sinn und keinen Ausweg mehr. Ihr Bauch fühlte sich wie vollgestopft mit einer Melancholie an, die sich schon so lange wie ein Krebsgeschwür in ihrem Körper breit gemacht hatte, bis auch das letzte Lachen und das letzte Fünkchen Lebensfreude gewichen war. Zurück blieben übermächtige Begleiter namens Trauer und Leere, die sich immer mehr Platz in ihrem Leben verschafft hatten. Sie war zu müde, dagegen anzukämpfen und wollte nur noch, dass es aufhört. Hannah setzte sich auf die Kante des Hochhausdaches, dann stieß sie sich ab…

Und Hannah ist kein Einzelfall. Selbsttötungen bei Essgestörten sind ein unterschätztes Phänomen. Dabei weisen einige Studien darauf hin, dass mehr Magersüchtige durch Selbstmord sterben als durch Unterernährung – obwohl auch das Hungern bereits ein Selbstmord auf Raten sein kann. Amerikanische Forscher der University of North Carolina at Capel Hill kamen in ihrer jüngst veröffentlichten Langzeitstudie zu dem Ergebnis, dass Essstörungen das Selbstmordrisiko erhöhen. Besonders Frauen, die eine Gewichtszunahme verhindern wollen, indem sie erbrechen oder abführen, sind gefährdet.

Folgt man den Aussagen der Weltgesundheitsorganisation WHO, versuchen 16 Prozent der magersüchtigen Patienten sich das Leben zu nehmen, bei den Bulimiekranken (Ess-Brech-Süchtigen) sind es mehr als doppelt so viele. Die Rate steigt sogar auf über 50 Prozent, wenn eine Ess-Brech-Störung mit Alkoholmissbrauch einhergeht. Von allen psychischen Erkrankungen haben Essstörungen die höchste Todesrate. Das Suizidrisiko ist etwa viermal höher als in der übrigen Bevölkerung. Allerdings, so steht zu befürchten, ist die Dunkelziffer von Suizidversuchen und Suiziden viel höher, weil Studien schließlich nur registrierte Fälle analysieren können. 

Essgestörte sind perfekt im Tarnen und Täuschen

Meist ist es schwer, eine Essstörung zu erkennen. Das Verhalten, das auf eine solche Störung hindeutet, findet im Verborgenen statt. Besonders Essgestörte, die unter Bulimie leiden, passen sich ihrer Umgebung perfekt an, wirken normal, Essanfälle und Erbrechen finden in aller Heimlichkeit statt, so dass zunächst niemand etwas davon bemerkt. Selbst Eltern fallen mitunter aus allen Wolken, wenn sie nach Monaten oder manchmal sogar Jahren erfahren, dass ihre Tochter oder ihr Sohn unter Bulimie leidet. Sie verstehen nicht, warum ihnen nie etwas aufgefallen ist und warum ihr Kind nie mit ihnen darüber gesprochen hat.

Gerade zu Beginn der Erkrankung ist das Erbrechen für die Betroffenen ein perfekter Ausweg, denn nichts fürchten sie so sehr wie ein Gramm mehr auf der Waage. Allerdings verselbstständigt sich dieser Kreislauf von Essen, Erbrechen und Abführen schnell. Er wird zum Zwang, dem Essgestörte ohnmächtig ausgeliefert sind.

Was treibt junge Menschen mit einer Bulimie in den Selbstmord?

Dr. Sandra Maxeiner schrieb: „Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie“ zusammen mit Hedda Rühle, Jerry Media VerlagDr. Sandra Maxeiner schrieb: „Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie“ zusammen mit Hedda Rühle, Jerry Media VerlagFoto: Jerry Media Verlag

Bulimie-Betroffene leiden vor allem unter mangelndem Selbstwertgefühl, fühlen sich nicht schön genug, ekeln sich vor sich selbst, hassen ihren Körper, sind oft depressiv und suchen verzweifelt nach ihrer Identität. Unter großen Anstrengungen versuchen sie, die Anforderungen der Umwelt oder selbstgesetzte Ideale zu erfüllen. Gibt es Konflikte, so tragen sie diese nur mit sich selbst und mit ihrem Körper aus. Nichts dringt nach außen, die innere Anspannung ist groß. Alles wird von ihnen in sich „hineingefressen“ – die Wut, der Ärger, die Angst, die Verzweiflung, die Unsicherheit – nur um es anschließend durch das Erbrechen herauszulassen.

Ess-Brech-Anfälle sind stumme Proteste gegen überhöhte Anforderungen, die sich Essgestörte zumeist selbst auferlegt haben. Denn sie sind oft leistungsorientierte junge Menschen, die nach Perfektionismus streben. Aber statt sich ab und an auch mal ein „Versagen“ zuzugestehen oder die Anforderungen ein Stück weit nach unten zu schrauben, werden sie aggressiv gegen sich selbst und lassen diese Wut rücksichtslos an ihrem Körper aus.

Selbst wenn sie ihren Tod nicht immer unmittelbar beabsichtigen, nehmen sie ihn doch billigend in Kauf, denn Essgestörte haben den Bezug zur Realität verloren. Sie betrachten sich im Spiegel und meinen dick zu sein, obwohl sie schlank sind, sie kommen aus der Schule und sind am Boden zerstört, weil sie es nicht geschafft haben, die beste Klassenarbeit abzuliefern, und auch im Beruf halten sie sich schnell für Versager, wenn sie nicht ständig besondere Leistungen erbringen. Werden sie nicht von allen gemocht, stürzen sie in Selbstunsicherheit und Zweifel.

Sie sind getrieben davon, ein perfektes Bild von sich selbst aufzubauen, auch wenn es nur Fassade ist. So ist Frustration bei ihnen an der Tagesordnung und ihr Körper muss dafür als Sündenbock herhalten. Sie verdrängen, welches Risiko sie mit ihrem Verhalten, ihrer Ess-Brech-Sucht eingehen. Sie ziehen sich in sich selbst zurück und fliehen vor einer Lebensrealität, die sie enttäuscht und der sie sich nicht gewachsen fühlen. Sie scheitern an sich selbst und daran, dass sie es einfach nicht schaffen, zu sein, wie sie gern sein wollen.

Bulimiekranke leiden unter „Hunger“ – sie hungern nach Leben

Der Hunger nach Leben kann allerdings nicht durch Essen gestillt werden. Diese  Menschen hungern danach, dass sie endlich wahrgenommen werden mit all ihren Gefühlen, ihren Bedürfnissen, all ihrer Sehnsucht und ihren Träumen, dass sie geliebt und so angenommen werden wie sie sind. Essen und Erbrechen ist ihre Art des Protestes, ihre Möglichkeit, sich auszudrücken und sich aufzulehnen gegen all die Dinge, die für sie unbefriedigend sind: ihre Eltern, ihr Leben, der Stress in der Schule und im Beruf, die Nichtakzeptanz ihres Andersseins und vieles mehr. Die Essstörung wird Lebensgefühl und Lebensinhalt zugleich – sie ist Verweigerung, Flucht, stummer Protest, aber auch Ausdruck von Hilflosigkeit und Resignation.

Die Betroffenen stecken fest in einem Teufelskreis. Innere Anspannung und Frustration führen zu Ess-Brechanfällen, die wiederum die Unzufriedenheit mit sich selbst erhöhen und zu neuer Frustration führen, worauf weitere Ess-Brechanfälle folgen. Sie schämen sich für ihr Verhalten und kämpfen jeden Tag mit sich selbst. Sie brauchen Hilfe, auch wenn sie nicht nach Hilfe rufen!

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Was können Eltern tun?

[–Was können Eltern tun?–]

Zunächst einmal müssen Sie als Eltern das Problem überhaupt erkennen, und das ist – wie bereits geschildert – gar nicht so einfach. Sensibilisiert sollten Sie sein, wenn Sie bemerken, dass sich Ihre Töchter oder Söhne mehr und mehr mit ihrem eigenen Körper beschäftigen, ihn ablehnen und ständig davon sprechen, „nicht richtig“ oder „zu dick“ zu sein. Kreisen ihre Gedanken um die Frage „Essen“ oder „Nicht-Essen“, ist das ein Alarmsignal. Achten Sie vor allem auf Gewichtsschwankungen, häufige Verweigerung von Essen, längere Zeiten auf der Toilette nach den Mahlzeiten, pedantisches Zählen von Kalorien, Kreislaufprobleme und Stimmungsveränderungen.

Sollte sich Ihr Verdacht erhärten, kommt allerdings das Schwierigste: Sie als Angehöriger können zunächst nicht allzu viel tun. Sie können für die Betroffenen nicht die Initiative ergreifen und sie zu nichts drängen. Die Motivation und letztendlich der Entschluss, etwas zu unternehmen, muss von den Essgestörten selbst kommen – so bitter das jetzt vielleicht auch klingt. Versuchen Sie also Ruhe zu bewahren und vermeiden Sie überstürzten Aktionismus, denn wenn Sie zu massiv eingreifen, erreichen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie wollen: Die Betroffenen fühlen sich in den Enge getrieben, unter Druck gesetzt und werden sich noch mehr in ihre Essstörung flüchten.

Patentrezepte gibt es nicht. Hinzu kommt, dass das Problem zumeist nicht in der Familie zu lösen ist, weil dort häufig die Ursache für die Essstörung liegt. Vor allem: Quälen Sie sich nicht mit Schuldgefühlen, weil Sie glauben hilflos zu sein oder versagt zu haben. Es ist nicht Ihre Schuld!

Akzeptieren Sie die Krankheit ihres Kindes als einen Ausdruck des inneren Dilemmas, in dem es steckt, und sprechen Sie das Problem in einem ruhigen Augenblick an. Seien Sie offen und sprechen Sie nicht ausschließlich über die Essstörung und die Angst vor dem Dickwerden, die nur die Spitze des Eisbergs ist. Reden Sie vor allem mit ihrem Kind über dessen Probleme, Wünsche, Ziele und Träume.

Versuchen Sie geduldig und verständnisvoll zu sein, ohne dabei die eigenen Grenzen zu überschreiten. Bieten Sie einfühlsame Unterstützung und tatkräftige Hilfe an, zeigen Sie Ihrem Kind, dass es Ihnen wichtig ist, ohne es zu bedrängen. Nehmen Sie die Ängste, die Hilflosigkeit, die innere Leere und die Minderwertigkeitsgefühle Ihres Kindes ernst und begegnen Sie ihm partnerschaftlich. Drängen Sie es nicht zu einer Therapie, betonen Sie aber, dass schlussendlich die Notwendigkeit besteht.

Treffen Sie ruhig Vereinbarungen und Absprachen mit ihm, aber erwarten Sie nicht zu viel. Und das Wichtigste: Holen Sie sich Hilfe bei erfahrenen Ärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder in entsprechenden Beratungsstellen Dies kann auch in Gesprächs- und Selbsthilfegruppen für Eltern und Angehörige erfolgen. Überlassen Sie die Behandlung den Experten und unterstützen Sie die Therapie in Absprache mit diesen.

Und noch ein wichtiger Punkt: Versuchen Sie, die Krankheit Ihres Kindes nicht in den Mittelpunkt zu stellen und darum zu kreisen. Sorgen Sie sich nicht ständig um Ihr Kind sondern sorgen Sie für sich, gehen Sie weiter Ihren gewohnten Aktivitäten nach und verzichten Sie nicht zugunsten des erkrankten Kindes auf Dinge, die Ihnen wichtig sind. Wenn Ihr Kind Sie sorgenvoll und belastet erlebt, wird es sich nur zusätzlich schuldig fühlen. Indem Sie sich selbst helfen, helfen sie auch ihm. Lernen Sie für sich, Grenzen zu setzen und sich auch auf Ihre eigenen Bedürfnisse zu besinnen. Denn das gibt Ihrem Kind die Möglichkeit, dies ebenfalls zu tun.

Menschen mit Essstörungen zu helfen, ist nicht leicht. Es braucht viel Liebe, Zuwendung, Geduld, Verständnis und Kraft. Doch denken Sie immer daran, worum es eigentlich geht: Es geht darum, die Betroffenen ins Leben zurückzuholen und ihrem Lebenshunger Nahrung zu geben.

Quelle: Sandra Maxeiner, Hedda Rühle (2014), Dr. Psych’s Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Band 2, Kapitel 12 (ISBN: 978-3-9523672-1-6)



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