Kissinger: „China. Zwischen Tradition und Herausforderung“

Es läge für Henry Kissinger nahe, nach 40 Jahren zeitlicher Distanz und mittels kritischer Reflexion ein besseres Buch zu schreiben, meint unser Rezensent.
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Foto: C.Bertelsmann Verlag, München 2011
Von 19. Juni 2011

Vor vierzig Jahren führte die Geheimdiplomatie von Henry Kissinger, zu dieser Zeit Nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Richard Nixon, zu einem Kurswechsel in den Beziehungen der Vereinigten Staaten von Amerika zur Volksrepublik China. Ein Buch des späteren Außenministers und Friedensnobelpreisträgers Kissinger im Verlag C.Bertelsmann macht neugierig, Hintergründe über einen weltpolitisch bedeutsamen Paradigmenwechsel zweier verfeindeter Staaten zu erfahren.

Doch darum geht es nicht allein. Kissinger beschäftigt sich zunächst in dem Kapitel „Chinas Einzigartigkeit“ mit dem Aufstieg dieses Landes und der Entstehung seiner Kultur. Hierbei erwähnt der Verfasser auch die Kriegstaktik Sunzis (ca. 544 – 496 v. Chr.), die er mit dem Brettspiel Weiqi (jap. Go) vergleicht, in dem es um die Kunst des strategischen Einschließens geht. Dieser Gedanke zieht sich dann auch wie ein roter Faden durch die Betrachtungen der Außenpolitik der Volksrepublik China.

Spannend wird es auf Seite 107. Hier wendet er sich Mao Zedong und seiner Politik zu, dem er höchsten Respekt zollt: „An der Spitze der neuen Dynastie (…) stand ein wahrer Koloss: Mao Zedong. (…) Dichter und Kriegsmann, Prophet und Geißel zugleich, einte er China und führte es auf einen Weg, der die Zivilgesellschaft des Landes beinahe zerstört hätte. Diesem Feuerbad entstieg China“. Ohne Feuerbad hatte Chiang Kaishek bereits 1928 China vereint, bis es von japanischen Militaristen und chinesischen Kommunisten zerstört wurde. Davon ist bei Kissinger nichts zu lesen.

Dafür kommt der Mao-Versteher auf Seite 111 zu der Einsicht: „Dabei durfte es keine Ruhe geben, bis sein Volk geläutert und erneuert aus dieser Feuerprobe hervorging.“ Wem das nicht genügt, für den kommt Kissinger auf die konfuzianische Idealwelt der Großen Harmonie (Datong) ein paar Zeilen weiter zu sprechen: „Für ihn stand die Große Harmonie am Ende eines schmerzhaften Prozesses, dem alle zum Opfer fielen, die sich ihm in den Weg stellten.“

Die nachfolgende geschichtliche Darstellung ab 1950 lässt leider auch wichtige Aspekte im Konflikt der neu entstandenen Volksrepublik zu der im Wesentlichen auf dem Festland zerstörten und auf die Insel Taiwan reduzierten Republik China aus. Hierzu gehört die Tatsache, dass Chinas Bevölkerung mehrheitlich hinter der Republik China stand, in der sie landesweite Wahlen genießen konnte. In diesem Zusammenhang verwirrt Kissinger mit dem Begriff der Rückeroberung Taiwans, einer Insel, die niemals zum Herrschaftsgebiet der Volksrepublik China gehört hatte.

Es bleibt nicht bei dieser Irritation. Was meint etwa der Autor, wenn er folgende Passage schreibt: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt schlossen die Roten Garden Zhou (Enlai) in seinem Büro ein. Andererseits war er (Zhou Enlai) nicht so weitblickend, wie der Vorsitzende Mao gewesen, der die Notwendigkeit sah, der Revolution neuen Schwung zu verleihen.“ Aha, die Revolution in Schwung zu halten (hier geht es um die Kulturrevolution mit 15 Millionen Todesopfern und um über 80 Millionen Mao-Opfer insgesamt bis 1976) versteht also der Entspannungspolitiker und Friedensnobelpreisträger unter Weitsicht.

Dass hierbei nach dem Willen Kissingers auch noch die Bewohner Taiwans geopfert werden sollten, macht ein Dialog zwischen Mao und ihm deutlich (Seite 291), in dem Mao einräumte, er könne hundert Jahre ohne Taiwan auskommen. Kissinger erwiderte: „Ich finde, es sollte viel schneller gehen.“ Die „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen Washington und Beijing führte mit Kissingers Weitsicht letztendlich auch dazu, dass die demokratische Republik China immer schwächer und isoliert wurde, während die KP-beherrschte Volksrepublik zur arrogant-brutalen Weltmacht aufsteigen konnte.

Das ficht den Weltpolitiker nicht an. 38 Jahre, nachdem Premier- und Außenminister Zhou Enlai in Ungnade gefallen war, schreibt Kissinger (Seite 309), „dass er (Zhou) eine Spur vorsichtiger war als üblich (war) und sich Mao gegenüber noch ehrerbietiger als sonst verhielt. Doch wir wurden dafür durch ein mehr als dreistündiges Gespräch mit dem Vorsitzenden entschädigt.“ Bis weit über den Tod des Despoten verhält sich der Autor noch immer so devot, dass man seinen Zynismus gegenüber Taiwan, Tibet und die ungeheure Zahl chinesischer KP-Opfer vergessen könnte. Dabei dürften sich die Ostasiaten nicht einmal so sehr über den Zynismus Kissingers beschweren wie die Juden der ehemaligen Sowjetunion, über die er 1973 bemerkte: „Die Auswanderung von Juden aus der Sowjetunion ist kein Ziel der amerikanischen Außenpolitik. Und wenn sie die Juden in der Sowjetunion in die Gaskammern schicken, ist das auch kein amerikanisches Problem. Es ist vielleicht ein humanitäres Problem.“

Es war letztlich nicht dieser Zynismus, sondern Kissingers Beitrag zur Beendigung des Vietnamkrieges, der ihm den Friedensnobelpreis bescherte.

Gleichfalls wie das anfangs erwähnte Brettspiel zieht sich parallel dazu das Credo von „Berechenbarkeit“ (etwa auf den Seiten 277, 309) über weite Passagen des Buches, die auch stets das Leitmotiv Helmut Schmidts war. Mit Schmidts Büchern verbindet Kissingers Publikation denn auch die selektive Wahrnehmung und Darstellung jenes komplexen Landes und die Sichtweise eines Machiavellisten. Kissinger, dem Überlebenden eines Genozids, hätte die eingehende Beschäftigung mit ermordeten Oppositionellen, ethnischen Minderheiten, Falun Gong-Praktizierenden sowie verhungerten Bauern ebenso wenig geschadet, wie mit den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Alternativen, in deren Genuss China gekommen wäre, wenn man den Chinesen die Machtübernahme des „Vorsitzenden Mao“ erspart hätte. Es läge für Henry Kissinger nahe, nach 40 Jahren zeitlicher Distanz und mittels kritischer Reflexion ein besseres Buch zu schreiben. Die Leser haben mehr erwartet.

Und so darf es nicht verwundern, wenn das Werk im Wischiwaschi endet: „Was für ein Höhepunkt, wenn die Vereinigten Staaten und China 40 Jahre später gemeinsame Anstrengungen unternehmen würden, nicht um die Welt zu erschüttern, sondern, um sie aufzubauen.“ – Die Volksrepublik ist auf Erschütterung ausgerichtet. Fromme Wünsche, gepaart mit opportunistischer Anbiederung, werden KP-China nicht auf den von Kissinger favorisierten Weg bringen. Kissingers Politik scheiterte deshalb bereits im Ansatz – vor vierzig Jahren.

Thomas Weyrauch ist Autor des zweibändigen Sachbuchs:
„Chinas unbeachtete Republik“ 100 Jahre im Schatten der Weltgeschichte. Longtai Verlag 2010/2011

Henry Kissinger: China. Zwischen Tradition und Herausforderung. 608 Seiten, 16 Schwarzweiß-Bildseiten, 1 Landkarte. C.Bertelsmann Verlag, München 2011. ISBN: 978-3-570-10056-1, 26,00 Euro

 

Foto: C.Bertelsmann Verlag, München 2011


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