Paul Gerhardt – barocker Liedermacher – ein „Gast auf Erden“

Eine Betrachtung zum 400. Geburtstag
Titelbild
Paul Gerhardt, Denkmal in Mittenwalde bei Berlin. Es wurde am 14. Juli 2001 an der Südseite der Stadtpfarrkirche enthüllt, gefertigt nach der Vorlage des Gipsmodells von Pfannschmidt aus dem Jahre 1905. (Foto: Doris Antony GNU Lizenz frei)
Von 13. März 2007
Paul Gerhardt, Denkmal in Mittenwalde bei Berlin. Es wurde am 14. Juli 2001 an der Südseite der Stadtpfarrkirche enthüllt, gefertigt nach der Vorlage des Gipsmodells von Pfannschmidt aus dem Jahre 1905. (Paul Gerhardt, Denkmal in Mittenwalde bei Berlin. Es wurde am 14. Juli 2001 an der Südseite der Stadtpfarrkirche enthüllt, gefertigt nach der Vorlage des Gipsmodells von Pfannschmidt aus dem Jahre 1905. (Foto: Doris Antony GNU Lizenz frei)

Paul Gerhardt? Wenige werden mit dem Namen etwas anzufangen wissen. Wer Günter Grass’ Erzählung „Das Treffen in Telgte“ gelesen hat, kann sich vielleicht seiner erinnern. Und natürlich Gottesdienstbesucher und Gesangbuchliebhaber wussten schon immer, was sie an ihm haben. Gilt er doch als protestantische Ikone.

Ikonen leben von ihrer Verehrung. Die Gerhardts mag im Raum der Kirche gesichert sein. Außerhalb hat sie es schwerer. Gewiss, über 130 geistliche Lieder zeigen einen Dichter von faszinierend stimmiger Glaubenspraxis. Andererseits kann der nicht zu leugnende historische Abstand für einen Heutigen leicht zur Hürde werden. Dann wird auch die schöne neue bibliophile Ausgabe mit den augenzwinkernden Illustrationen von Egbert Herfuth daran kaum etwas ändern.

Trotzdem, die sanfte schlichte Sprachgewalt der Gerhardtschen Lyrik vermag schon immer zu berühren. Man höre und staune etwa, wenn die angeraute Stimme von Otto Sander sich ihrer völlig unprätentiös annimmt. Da rückt auch Fremdes nahe heran. Da fordert eine längst vergangene Art der Frömmigkeit unaufdringlich Respekt. Und so geglückte Bilder wie: „Breit aus die Flügel beide … und nimm dein Küchlein ein“, die vergisst man nicht.

Unsterbliche Melodien haben einige der gelungensten Schöpfungen Gerhardts über die Zeiten hinweg getragen. So wird „Nun ruhen alle Wälder“ nach der Melodie von „Innsbruck, ich muss dich lassen“ gesungen. „Ich steh an Deiner Krippen hier“ hat vermutlich J.S. Bach vertont. Er war es auch, der in seinem Weihnachtsoratorium und in seinen Passionen Gerhardt-Strophen zu unvergleichlich intensivem Ausdruck gebracht hat, zum Beispiel „O Haupt voll Blut und Wunden“ nach der Weise Leo Hasslers. Nicht zu vergessen die geniale musikalische Umsetzung von „Geh aus mein Herz und suche Freud“ durch Augustin Harder und Friedrich H. Eickhoff. Dieses Sommerlied hat die Kirchenmauern gesprengt und ist zum Volkslied avanciert. Es hat das Zeug, einen fröhlich zu machen.

Liederbuch aus dem Jahr 1667Liederbuch aus dem Jahr 1667

Das Singen war für den Dichterpfarrer mehr als gottesdienstliche Gewohnheit oder häuslicher Zeitvertreib. Er sah es als unerlässliche geistliche Übung an. Deshalb sind seine Lieder so lang. Singend sollte der Christ sich freudig seines Glaubens vergewissern und sich trösten lassen. Der 30-jährige Krieg hatte tiefe Wunden geschlagen. Zerstörung, Hunger, Seuchen, Hass, Mord, Entfesselung niedrigster Triebe – davon ließ sich nicht leicht erholen. Die Seelen der Menschen waren gründlich verstört. Im Singen durfte das Gleichgewicht wieder erhofft werden.

Mit vierzehn Jahren war Gerhardt einst Vollwaise geworden. Seinen Bruder hatte die Pest hinweggerafft. Wahrscheinlich ist auch, dass ihm das Mitansehen von Kriegsgräueln nicht erspart geblieben war. Als sein Sommergesang erschien, war das Gemetzel noch nicht lange her. „Die Trübsal täglich vor der Tür“, das war ihm sattsam bekannt. Doch jedes Jahr, wenn die Natur, Gottes Garten, sich neu entfaltete, war das ein Zeichen der Hoffnung. Überhaupt war dem Liedermacher ein überaus mächtiges Dennoch gegeben. Immer wieder bezeugen seine Strophen ein schier grenzenloses Gottvertrauen, das jede Nacht vertreiben konnte.

Wegen seiner guten Singbarkeit ist übrigens „Geh aus mein Herz“ mehrmals aktualisierend verfremdet worden. Der alte Text indes muss sich meist gefallen lassen, unvollständig gesungen zu werden. Die sinnbetörende Macht des Sommers: Ja, da können wir schnell zu stimmen, uns mitreißen lassen. Aber so lieblich sich Flora und Fauna auch zeigen, für Gerhardt gehören sie doch nur zur „armen Erde“, waren nur Vorgeschmack auf ein ewiges Paradies. Das steht im zweiten Teil des Liedes, der zu gern weggelassen wird, weil unser Einverständnis sehr viel schwerer fällt. Wer es beim ersten bewenden lässt, „verpasst … die Pointe“. So Petra Bahr in ihrer informativen, wunderbar flüssig geschriebenen Biografie.

Diese Pointe nun scheint bei Gerhardts Strophen immer wieder durch. Der Dichter sah sich als „Gast auf Erden“, seine wahre Heimat war der Himmel. „Im Himmel ist ein schönes Haus“ nennt Frank Pauli, ihn zitierend, seine „Skizzen zu Paul Gerhardt“. Also Welt-Distanz! Ein Weltflüchtling war er deshalb nicht. Dazu fühlte er sich zu sehr als Nachfahr Martin Luthers. Der Reformator stand bekanntlich auch mit beiden Beinen auf der Erde – und war zugleich verankert in ewiger Dimension.

Paul Gerhardt war Zeitgenosse von René Descartes. Damals begann eine Epoche mit weit reichenden Folgen. In sie gehört der Dichter noch nicht hinein. Aber ich kann nach 400 Jahren von meinem neuzeitlich geprägten Verstehen nicht absehen. Bei aller poetischen Leuchtkraft verlangt doch so manche alte Zeile nach Interpretation, damit ich sie redlicherweise singen kann. Ich muss versuchen, sie mir zu übersetzen. Dabei empfinde ich keine aufklärerische Überlegenheit, eher Wehmut. Denn ich möchte Gerhardts Lieder bewahrt wissen als damaligen Ausdruck eines auch mir unverzichtbaren Grundvertrauens, eines „Mutes zum Sein“ (Paul Tillich), mit dem es sich leben und sterben lässt.

Von Gerhardt lasse ich mich schließlich inspirieren, über ein Wort Heinrich Bölls nachzudenken: „… dass wir eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben –, dass wir hier auf der Erde nicht zu Hause sind. Dass wir also noch woanders herkommen. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der nicht – jedenfalls zeitweise, stundenweise, tageweise oder auch nur augenblicksweise – klar darüber wird, dass er nicht ganz auf die Erde gehört.“

Bücher:

Paul Gerhardt, Geh aus mein Herz; Sämtliche deutsche Lieder; Mit Illustrationen von Egbert Herfurth

Herausgegeben von Meinhard Mawinck; Mit einer Einführung von Inge Mage; Edition Chrismon 2006

Petra Bahr, Paul Gerhardt – Leben und Wirkung; „Geh aus, mein Herz…“; Verlag Herder 2007

Frank Pauli, Im Himmel ist ein schönes Haus; Skizzen zu Paul Gerhardt; Wichern-Verlag 2006

CDs:

Paul Gerhardt, Die großen Choräle Und geistlichen Lieder; Otto Sander, Rezitation; Torsten Laux, Orgel;

Thomanerchor Leipzig;Thomaskantor Georg Christoph Biller; Rondeau 2006

Für Pop-gewohnte Ohren:

Dieter Falk, A Tribute to Paul Gerhardt; edel 2006

Für Jazzliebhaber:

Sarah Kaiser; Gast auf Erden; Paul Gerhardt neu entdeckt; Gerth Medien 2003

Kurzbiografie

12. März 1607: Geburt Paul Gerhardts in Gräfenhainichen, 1619: Tod des Vaters, 1621: Tod der Mutter. 1628: Immatrikulation zum Theologiestudium in Wittenberg. 1642/43 Hauslehrer in Berlin. bei der Familie des Kammergerichtsadvokaten Andreas Berthold, dessen Tochter er später heiratet.

1643: Gerhardts erstes nachweisbares deutsches Gedicht wird gedruckt.

1647: 18 geistliche Lieder Gerhardts erscheinen im Berliner Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“.

1651 bis 1657: Pfarrer und Propst in Mittenwalde. Die schaffensreichste Periode.

1657 bis 1666 Pfarrer in St. Nikolai in Berlin. bis zur Amtsenthebung nach seiner Weigerung, das „Edikt über Kirchentoleranz“ des Brandenburger „Großen Kurfürsten“, Friedrich Wilhelm, zu unterschreiben

1666/67: Die erste Gesamtausgabe der damals 120 Lieder Paul Gerhardts erscheint.

1669: Pfarrer in Lübben (Spreewald). außerhalb des preußischen Territoriums.

27. Mai 1676: Paul Gerhardt stirbt in Lübben.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion