Wirtschaftswachstum und soziale Ausgrenzung in Tibet

Titelbild
Tibetische Nomaden in der Provinz Provinz Qinghai (Foto - Getty Images)
Epoch Times10. Oktober 2005

In seinem neuen und bedeutenden Buch mit dem Titel „State Growth and Social Exclusion in Tibet:Challenges of Recent Economic Growth“ (University of Hawaii Press, zu beziehen über amazon.com) entlarvt der auf Entwicklungsfragen spezialisierte Wirtschaftswissenschaftler Andrew Fischer den Mythos, dass die Armut bei wirtschaftlichem Wachstum automatisch zurückgehe. In seiner faszinierenden Studie über Statistiken und die Lebensumstände in Tibet, die auf einer gründlichen Analyse chinesischer Daten beruht, zeigt Fischer auf, wie mit dem Wirtschaftsboom in Tibet zugleich Armut und Ausgrenzung der einheimischen Bevölkerung zunehmen. Das Buch dürfte für alle staatlichen und nichtstaatlichen auf dem Gebiet der Entwicklung tätigen Institutionen, die darauf brennen, sich an Chinas „Go-West-Kampagne“ zu beteiligen, von ebenso großem Interesse sein, wie für die Befürworter einer echten Autonomie des tibetischen Volkes.

Fischer gelingt es, die Tibet betreffenden Daten in den chinesischen Statistiken zu isolieren, nicht etwa, weil die Statistiken nach ethnischen Gesichtspunkten aufgeschlüsselt wären, sondern weil er Rückschlüsse aus drei grundlegenden Tatsachen zieht: 90 Prozent der Bevölkerung in der Autonomen Region Tibet sind Tibeter; 85 Prozent der Tibeter leben auf dem Land, und die Einwohnerschaft der ländlichen Gebiete besteht zu 97,5 Prozent aus Tibetern. Man darf daher voraussetzen, dass statistische Erhebungen in ländlichen Gebieten in der TAR die spezifischen Lebensumstände der dort lebenden Tibeter beschreiben, und natürlich auch der meisten Tibeter in der TAR. In gewisser Weise werfen sie also ein Licht auf den tatsächlichen Wert der gegenwärtigen tibetischen Autonomie.

Seitdem er die bahnbrechende Abhandlung „Poverty by Design: the Economics of Discrimination“ (Canada Tibet Committee, 2002) geschrieben hat, vertritt Fischer die Meinung, dass die Entwicklungspolitik, die China in seinen westlichen Regionen betreibt, ihrem Wesen nach eine Politik des Ausschlusses vom Wirtschaftswachstum ist. Zu diesem Schluß kommt er mittels einer sorgfältigen Auswertung statistischer Daten, die ausschließlich aus chinesischen Quellen stammen und die er anhand von Diagrammen und Grafiken analysiert. Fischers Schlussfolgerungen werden durch persönliche Erfahrungen in Tibet untermauert, etwa durch seine ausgedehnten Interviews mit Bauern, Nomaden, städtischen Unternehmern, Regierungsbediensteten, Lehrern, Schülern und Studenten wie auch mit Repräsentanten internationaler, in Tibet tätiger NGOs.

Fischer stellte fest, dass Strategien, die sonst zur Förderung lokaler Beteiligung und Eigentumsbildung im Rahmen des Entwicklungsprozesses in China Verwendung finden, in Tibet komplett ignoriert werden. Zur Verdeutlichung verweist er auf die übermächtige Rolle des Staates in der tibetischen Wirtschaft. Des weiteren erklärt er, auf welche Weise Subventionen eingesetzt werden, um den städtischen Zentren, in denen sich fast alle chinesischen Migranten niederlassen, Vorteile zu verschaffen, was auf Kosten sowohl der ortsansässigen wie der vom Land zugewanderten Tibeter geschieht. Fischer zeigt auf, dass die Einkommen in den ländlichen Gebieten sinken und die von der WTO geforderten Reformmaßnahmen zum Nachteil der tibetischen Bauern manipuliert werden, obwohl diese kaum Berufschancen außerhalb der Landwirtschaft haben. Seine Datensammlung enthüllt, dass in Tibet viel weniger an sozialen Leistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung als im übrigen China zur Verfügung gestellt wird, obwohl die Einkommen sinken und der Staat eine übermächtige Rolle in der tibetischen Wirtschaft einnimmt.

Seine Feststellung, dass die Armut unter den Tibetern in der Tat „eine der dem Modernisierungsprozess in den tibetischen Gebieten in härenten Dynamik geschuldete“ ist, hängt eng mit der Feststellung zusammen, dass „der Staat im wesentlichen über den Entwicklungsprozess entscheidet“. Da in diesem Zusammenhang mit „Staat“ die Zentralregierung und nicht die Regionalverwaltung gemeint ist, ist diese Feststellung auch für die Entwicklungshilfeorganisationen wichtig, die über bilaterale Hilfsprogramme für Tibet hauptsächlich in Peking verhandeln müssen.

Obwohl Vorschläge für alternative Ansätze präziser formuliert hätten sein können (und der Leser hofft, dass dies das Thema von Fischers nächstem Buch sein wird), bietet Fischer eine ganze Reihe von Empfehlungen für die Unterstützung der tibetischen Interessen im Rahmen der Entwicklungshilfe an. Erstens schlägt er eine massive Ausweitung der sozialen Dienste vor, und zwar in erster Linie im Bildungs- und Gesundheitssektor, um die großangelegten Infrastrukturprojekte als Motor des subventionierten Wachstums zu ersetzen. Zweitens fordert er die „Tibetisierung“ der Entwicklung in den tibetischen Gebieten. Dies würde bedeuten, die Tibeter nicht nur auf der Ebene von Einzelprojekten zu beteiligen, sondern ihnen auch bei den Entscheidungsprozessen auf der Planungsebene einen gewissen Vorrang bei der Mitwirkung zu garantieren. Des weiteren wären Strategien erforderlich, um den Tibetern einen leichteren Eigentumserwerb an Vermögenswerten und Geschäften und eine bevorzugte Behandlung bei der Vertragsvergabe und der Beschäftigung zu ermöglichen.

Dieses Buch ist eine äußerst wertvolle Fundgrube für Personen, die Einfluss auf die Entwicklungspolitik in Tibet ausüben und eine tatsächliche Autonomie für das Land wünschen. Obwohl es in einem für die allgemeine Leserschaft leicht verständlichen Stil gehalten ist, ist das Buch in seiner Methodik streng. „State Growth and Social Exclusion in Tibet“ ist ein Werk, das man lesen sollte, und zweifellos auch eines, das neue Wege für die Tibetforschung aufzeigt.

Carole Samdup ist leitende Mitarbeiterin von Rights and Democracy in Montreal und Gründungsmitglied des Canada Tibet Committee, e-mail Adresse: [email protected]. Wir bedanken uns bei der IGFM, der internationalen Gesellschaft für Menschenrechte für die Übersetzung durch: Irina Raba, Adelheid Dönges und Angelika Mensching.



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