Asylkrise beherrscht Leipziger Buchmesse – Politikwissenschaftlerin beklagt Menschenverschieberei

Am Freitag sorgt der vom EU-Gipfel erhoffte Flüchtlingsdeal mit der Türkei für explosive Aktualität. „Was da passiert, ist nichts anderes als eine Menschenverschieberei nach dem Motto: Nimmst du einen von mir, nehm ich einen von dir“, empört sich die Berliner Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot.
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Viel Publikumsinteresse bei der Buchmesse in Leipzig.Foto: Jan Woitas/dpa
Epoch Times18. März 2016
Leipziger Messe, Halle 4. Bis Dezember waren hier in eilig zusammengezimmerten Abteilen Hunderte Flüchtlinge provisorisch untergebracht.

Jetzt ist hier der „Denk-Raum“ eingerichtet, in dem die Leipziger Buchmesse ihr diesjähriges Schwerpunktthema verhandelt: Flucht und Vertreibung, Heimat und Fremde, Asyl und Integration.

Am Freitag sorgt der vom EU-Gipfel erhoffte Flüchtlingsdeal mit der Türkei für explosive Aktualität. „Was da passiert, ist nichts anderes als eine Menschenverschieberei nach dem Motto: Nimmst du einen von mir, nehm ich einen von dir“, empört sich die Berliner Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Und die jugoslawische Friedenaktivistin Borka Pavicevic meint an die Adresse der EU bitter: „Ihr werdet jetzt einen Politiker wie Erdogan unterstützen, so wie Ihr früher Gaddafi unterstützt habt.“

Noch bis zum Sonntag diskutieren im „Denk-Raum“ renommierte Autoren, Wissenschaftler und Künstler über das künftige Miteinander in der Gesellschaft. „Uns geht es um die Frage, wie das Zusammenleben mit Asylsuchenden und Einwanderern zu gestalten ist“, sagt Insa Wilke, Kuratorin des Programms. „Die Notlage der Menschen aus dem Nahen Osten setzt nicht nur die Politik, sondern auch jeden Einzelnen unter Zugzwang.“

Erstaunlich viele Bücher aus den Frühjahrsprogrammen der mehr als 2200 Aussteller setzen sich mit diesen aktuellen Fragen auseinander – angefangen vom jüngsten Roman „Ohrfeige“ des vielgelobten, aus dem Irak stammenden Schriftstellers Abbas Khider bis zu der berührenden Flüchtlingsgeschichte „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ von Michael Köhlmeier.

„Migration ist ja eigentlich ein altes Thema, das ist ja nicht neu“, sagt Kuratorin Wilke. „Damit beschäftigen sich Autoren schon so lange.“ Die Messe sei deshalb der „ideale Ort“ für die notwendige gesellschaftliche Debatte, erklärt Messechef Oliver Zille. Vielleicht und gerade auch deshalb, weil hier in Sachsen immer wieder Fremdenhass und Gewalt gegen Ausländer bundesweit für Entsetzen sorgen?

Die Flüchtlinge, die einst in Halle 4 untergebracht waren, sind inzwischen in winterfeste Quartiere auf dem Messefreigelände umgezogen. Mit ihren Schicksalen bleiben sie gleichwohl beim Büchertreff präsent. An Hörstationen in der zentralen Glashalle erzählen einige von ihnen von Erfahrungen, die sie seit dem Verlust ihrer Heimat hinter sich haben.

„Natürlich hatte ich Angst um meine Kinder“, sagt etwa der 30-jährige Softwareprogrammierer Hosam aus dem irakischen Mossul, der mit Frau und drei Kindern über das Mittelmeer flüchtete. „Aber es gab einfach keinen anderen Weg.“ Immer wieder bleiben Menschen im Ausstellungstrubel lange unter den Kopfhörern sitzen, um den fremden Stimmen zuzuhören.

In den öffentlichen Diskussionen auf den Podien geht es derweil regelmäßig auch um die Mitverantwortung, die Deutschland und Europa an der Flüchtlingskrise tragen. Der größte Fehler sei von vornherein der Irrglaube gewesen, man könne Migration verhindern, sagt der Autor und „taz“-Redakteur Christian Jakob („Die Bleibenden“).

Und Politologin Guérot („Warum Europa eine Republik werden muss“) plädiert dafür, das kulturelle Erbe des alten Begriffs für das Mittelmeer „Mare Nostrum“ (Unser Meer) wiederzubeleben. „Was wollen wir denn sonst machen? Wollen wir Stacheldraht auf den Stränden aufstellen, an denen wir im Sommer baden wollen?“

Schon zum Auftakt des „Denk-Raums“ am Donnerstag hatte der langjährige ORF-Büroleiter in Kairo, Karim El-Gawhary („Auf der Flucht“), für Nachdenklichkeit gesorgt. Er erzählte von einer jungen Frau, die auf der Flucht vor dem syrischen Bürgerkrieg nach einer Havarie im Mittelmeer nur eines ihrer vier Kinder retten konnte.

„Eine Schwimmweste trägt keine fünf Menschen“, konstatierte er bitter. Jedem könnte das widerfahren, wenn er anderswo geboren wäre. „Sie könnten auch im Mittelmeer schwimmen und vor der Frage stehen: Welches meiner Kinder lasse ich los?“

(dpa)


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