Familie Bibiena: Die Doyens des europäischen Theaterdesigns

Titelbild
„Capriccio von Rom mit Triumphbogen und Neptunbrunnen“, um 1740, von Giuseppe Galli Bibiena. Feder und braune Tinte, grau laviert mit blauer Aquarellfarbe über Graphit; The Morgan Library & Museum.Foto: Janny Chiu/The Morgan Library & Museum
Von 11. August 2021

Die Schriftstellerin Mary Wortley Montagu, die eine Aufführung von „Angelica vincitrice di Alcina“ in Wien gesehen hatte, schrieb 1716 an den Dichter Alexander Pope: „Nichts in dieser Art war jemals prächtiger; und ich kann leicht glauben, was man mir erzählte, dass die Dekorationen und Gewänder den Kaiser dreißigtausend Pfund Sterling [heute über vier Millionen Euro] gekostet haben.“

Die üppigen, oft fantastischen Bühnenbilder, auf die sie sich bezog, wurden von der italienischen Familie Bibiena entworfen. Fast ein Jahrhundert lang, beginnend in den 1680er Jahren, waren die Mitglieder von drei Generationen der Familie Bibiena die gefragtesten Theaterdesigner Europas.

Ihre revolutionären Bühnenentwürfe wurden für Opern, Festivals und höfische Aufführungen in ganz Europa verwendet: von ihrer Heimat Italien bis hin zu Wien, Prag, Stockholm, St. Petersburg und Lissabon. Die Familie baute mehr als ein Dutzend Theater – am bekanntesten ist das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth.

Heute ist der unverwechselbare Stil der Bibienas vor allem durch ihre bemerkenswerten Zeichnungen überliefert. Viele von ihnen zeigen die charakteristische Erfindung der Familie: die scena per angolo, die „Winkelbühne“. Anstelle der statischen Symmetrie früherer Bühnenbilder verwendete die scena per angolo mehrere Fluchtpunkte an den Seiten der Bühne. Diese Innovation schuf das Potenzial für eine scheinbar grenzenlose Gestaltung des Bühnenbildes. Durch die raffinierte perspektivische Illusion wurden die Darsteller visuell in die fiktive Welt der Aufführung versetzt.

Das New Yorker The Morgan Library & Museum widmet der Bibiena-Dynastie seine aktuelle Ausstellung „Architektur, Theater und Fantasie“. 25 Bibiena-Zeichnungen aus der Sammlung von Jules Fisher, die dem Morgan geschenkt wurden, werden präsentiert. Die neu erhaltenen Zeichnungen werden neben mehr als hundert Bibiena-Zeichnungen und Tausenden von Theaterentwürfen, die sich bereits in der Sammlung des Morgan befinden, ein Zuhause finden. 

Kurator John Marciari sprach mit der Epoch Times über die Ausstellung.

„Rundes Atrium mit Säulengang“, um 1730, Giuseppe Galli Bibiena zugeordnet. Feder und braune Tinte, grau laviert, blaues und grünes Aquarell und weißes Deckfarbenaquarell; The Morgan Library & Museum. Foto: Janny Chiu/The Morgan Library & Museum

Etwa ein Jahrhundert lang dominierte die Familie Bibiena das Feld der europäischen Bühnenbilder. Wer waren die Bibienas?

Der erste Künstler in der Familie war ein Maler. Giovanni Maria Galli da Bibiena (1618-1665) wurde in der Stadt Bibbiena in der Toskana geboren und erhielt seine Ausbildung in Bologna. Er spezialisierte sich auf Trompe-l’oeil, eine Technik in der Malerei, die mittels perspektivischer Darstellung Dreidimensionalität vortäuscht. Trompe-l’oeil wurde bei der Bemalung von Palastdecken und -wänden verwendet.

Giovanni bildete seine Söhne Ferdinando (1657-1743) und Francesco (1659-1739) aus, und sie begannen, am Hof [des italienischen Fürstengeschlechts] der Farnese zu arbeiten. Der Hofstaat pendelte zu diesem Zeitpunkt zwischen den Städten Parma und Piacenza, beide in Norditalien.

Ferdinando und Francesco arbeiteten am herzoglichen Hof. Wie alle Künstler, die damals am Hof tätig waren, waren sie eine Art Kunstunternehmer. Denn sie malten nicht nur, sondern wurden auch gebeten, sich an der Gestaltung zeitgenössischer Dekorationen für Feste zu beteiligen und Wagen für feierliche Züge zu dekorieren, wenn jemand zu Besuch in die Stadt kam.

Ein Künstler an einem solchen Hof machte alles. Sowohl in Parma als auch in Piacenza gab es bedeutende Theater. So wurden sie vom Herzog gebeten, an der Gestaltung einiger Theateraufführungen mitzuwirken.

Da Ferdinando in der komplizierten Kunst der Perspektive ausgebildet war, dachte er: Wie wäre es, wenn wir diese Zwei-Punkt-Perspektive verwenden würden – etwas, das der Wissenschaft zwar bekannt war, aber noch nie im Theater oder in der Malerei verwendet wurde.

Anstelle eines einzigen Fluchtpunkts in der Mitte der Bühne entwarf man die Gebäude also mit zwei Fluchtpunkten, die sich an den Seiten der Bühne befanden.

Im Grunde wird also jedes Gebäude auf der Bühne gedreht und das Publikum sieht es in einem schrägen Winkel. Das bedeutet mehrere Dinge: Zum einen funktioniert die Illusion von überall im Theater aus, nicht nur für jemanden, der genau in der Mitte des Saals sitzt. Und zum anderen eröffnet sie Welten.

Wenn man einen Fluchtpunkt in der Mitte der Bühne hat, fällt die Perspektive irgendwann in sich zusammen. Schräg betrachtet kann man dagegen mit ein paar Säulen einen unendlichen dahinterliegenden Raum suggerieren, ohne jede einzelne Säule einzeichnen zu müssen, weil die perspektivischen Fluchtpunkte nicht zu sehen sind. Und das hat das Aussehen von Bühnenbildern buchstäblich verändert. Noch nie zuvor hatte es eine solche Theaterkulisse gegeben – es war eine ganz neue Welt.

Mein Kollege Arnold Aronson, ein Professor für Theaterwissenschaft, beschreibt dies im Katalog so, dass der Bühnenbogen bei einem Bibiena-Bühnenbild plötzlich ein Fenster zu einer parallelen und großartigen Realität wird, anstatt eine Art Welt dahinter zu sein, eine Erweiterung des Zuschauerraums. Wir müssen nicht so tun, als wäre es der Raum [der Schauspieler], sondern es ist ein Fenster zu einer ganz anderen Welt.

Es ist ein kompletter Paradigmenwechsel in der Geschichte des Theaters gewesen. Der Wechsel war so dramatisch, dass jeder, der die Bühnenbilder der Bibienas gesehen hatte, daraufhin versuchte, ein Mitglied der Familie für sich zu gewinnen und Bühnenbilder für sein Theater entwerfen zu lassen.

So zogen die Bibienas aus der Gegend von Bologna, Parma, Piacenza, bis nach Mantua, nach Venedig und dann natürlich weit darüber hinaus, vor allem nach Wien (das geradezu vernarrt in das Theater war), wo die Familie über Generationen hinweg arbeitete. Die Bibienas waren buchstäblich überall an Theatern engagiert, von Lissabon im Westen bis St. Petersburg im Osten und von Neapel im Süden bis Stockholm im Norden.

Es war eine der großen Epochen des Theaters. Die italienische Oper wurde populär und die Musik- und Theateraufführungen erreichten eine vor dem 18. Jahrhundert noch nie dagewesene Beliebtheit. Ich denke an den internationalen Ruhm eines Vivaldi oder des berühmten italienischen Kastraten Farinelli.

Im 18. Jahrhundert war die Welt der Musik und des Theaters wirklich international und die Bibienas profitierten von ihrer Erfindung. Sie trafen außerdem genau den richtigen Zeitpunkt, als das Theater am Expandieren war.

Die Familie Bibiena baute im Laufe des 18. Jahrhunderts 13 Theater, von denen nur zwei erhalten geblieben sind. Die Zeichnungen sind also das beste Zeugnis, das wir von ihrem Genie haben.

„Hof eines Palastes, Entwurf für die Bühne“, um 1710-20, von Giuseppe Galli Bibiena. Feder und braune Tinte, grau laviert, blaue Aquarellfarbe über Graphit; The Morgan Library & Museum. Foto: Janny Chiu/The Morgan Library & Museum

Im Ausstellungskatalog werden die Bühnenbildzeichnungen der Bibienas als szenografische Kunst bezeichnet. Erzählen Sie uns bitte mehr darüber.

Es sind weitestgehend Arbeitszeichnungen. Sie sind nicht wirklich als Zeichnungen gedacht, sondern als Arbeitsunterlagen, um die Illusion auf der Bühne zu erzeugen.

Ich beschreibe den Prozess gerne so: Der Bühnenbildner hat eine Idee im Kopf, was er dem Publikum auf der Bühne zeigen will. Das ist eine dreidimensionale Illusion davon, was das Publikum auf der Bühne und hinter den Schauspielern in der Tiefe der Bühne sieht. Und dann überträgt er das in eine zweidimensionale Skizze – die erste Idee.

Viele Bibienas und andere, die am Theater arbeiteten, waren ausgebildete Maler. Sie begannen ihre Arbeit also mit einer Skizze – das ist die Arbeitsweise eines italienischen Künstlers. Aus einer groben Skizze machten sie dann eine sorgfältig ausgearbeitete Zeichnung, die den Menschen, die die Kulissen tatsächlich bauten, erklärte, was sie tun sollten.

So musste der Bühnenbildner eine Idee aus seinem Kopf als eine zweidimensionale Zeichnung auf das Blatt bringen, die dann im Theater neu erschaffen werden musste – durch eine Kombination aus mehreren Platten, die hinter den Kulissen herbeigeholt oder mithilfe eines Zugs über der Bühne als gemalter Hintergrund hinuntergelassen wurden.

Das zweidimensionale Bild kommt also in das Dreidimensionale, wird aber weiterhin mit zweidimensionalen, flachen illusionistischen Gemälden erzeugt. Die Säulen und Bögen werden nicht wirklich gebaut. Alles wird auf mehreren Ebenen gemalt, wobei die eigentliche perspektivische Trompe-l‘oeil-Technik zum Einsatz kommt.

„Bühnenbild mit Segelschiffen“, um 1718, von Francesco Bibiena.
Feder und braune Tinte, laviert über Graphit; The Morgan Library & Museum. Foto: Janny Chiu/The Morgan Library & Museum

Im Ausstellungskatalog steht, dass die Zuschreibung dieser Zeichnungen etwas problematisch ist. Warum?

Da es sich um eine Familienwerkstatt handelte, in der ein Vater seinen Sohn beziehungsweise seine Söhne und auch seine(n) Neffen ausbildete und sie alle gemeinsam an Aufträgen arbeiteten, ist es sehr schwer zu sagen, wer für eine bestimmte Sache verantwortlich ist.

Sagen wir, es gibt eine Aufführung in Wien, bei der Giuseppe Galli Bibiena der beauftragte, dokumentierte Bühnenbildner ist, der für die Aufführung verantwortlich ist. Aber sein Sohn Carlo und viele andere Gesellen unterstützen ihn bei der Arbeit. Selbst wenn man also eine Zeichnung mit einer bestimmten Aufführung in Verbindung bringen kann, ist es ziemlich schwer zu sagen, ob sie von Giuseppe, Carlo oder einem der anderen erschaffen wurde.

Es ist einfacher, eine Zeichnung einer Generation der Familie zuzuschreiben, als anzugeben, welches Mitglied der Werkstatt sie angefertigt hat. Giuseppe schrieb zum Beispiel ein Buch und veröffentlichte viele Entwürfe. Wir können also die Entwürfe von Giuseppe studieren und sehen, wie sie sich von denen seines Vaters Ferdinando unterscheiden.

Aber es geht mir nicht darum, die Zuschreibungen hervorzuheben. Wenn ich mir Zeichnungen italienischer Maler ansehe, ist die Zuschreibung eines der ersten Dinge, über die ich mir Gedanken mache. Bei den Bibienas ist es anders, sowohl für mich als auch für die meisten Wissenschaftler ist das nicht ein Hauptanliegen. Das liegt wiederum daran, dass die Zeichnungen nicht als künstlerische Werke geschaffen wurden. Es sind keine Zeichnungen, die als das Werk der einen oder anderen Person erkannt werden sollten; es sind Arbeitszeichnungen.

Was hat Sie am meisten fasziniert, als Sie diese Ausstellung zusammenstellten?

Meine Fachrichtung ist die italienische Kunst: Gemälde und Zeichnungen von Malern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Ich bin also kein Theatermensch. Während der Arbeit an der Ausstellung lernte ich bis zu einem gewissen Grad die Geschichte der Theaterzeichnungen.

Das Wechselspiel zwischen der Idee im Kopf, der Zeichnung auf dem Blatt und der Kreation auf der Bühne, in dieser Mischung aus zwei und drei Dimensionen, fand ich eine faszinierende Art, über diese Zeichnungen nachzudenken und darüber, was der Künstler zu vermitteln versuchte, als er den Stift zu Papier führte.

Mir gefällt auch, dass man wirklich sehen kann, wie die Dinge ausgearbeitet werden. Auch hier arbeitete der Bühnenbildner mit einem Dramatiker, einem Choreographen, einem Musiker und einem Mäzen zusammen; es handelt sich also um sehr gemeinschaftliche Werke. Und in einigen Zeichnungen können wir die Arbeitsweise sehen, wo es einen Entwurf gibt und dann offensichtlich jemand sagte: „Nein, nein, du musst das ändern oder es ein bisschen mehr ausstatten.“

Das alles, was uns durch das Papier hinterlassen wurde, war für mich vielleicht der interessanteste Aspekt der Ausstellung.

Die Ausstellung „Architecture, Theater, and Fantasy: Bibiena Drawings From the Jules Fisher Collection“ im Museum „The Morgan Library & Museum“ läuft bis zum 12. September. Weitere Informationen finden Sie unter TheMorgan.org

Dieser Artikel erschien im Original auf The Epoch Times USA unter dem Titel: The Bibiena Family: The Doyens of European Theater Design (deutsche Bearbeitung von as)



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion