Die Entdeckung der Kindheit. Das englische Kinderporträt und seine europäische Nachfolge

Eine Ausstellung im Städel Museum Frankfurt
Titelbild
Thomas Lawrence; Die Calmady Kinder, 1823 (Bildquelle: 1992 The Metropolitan Museum of Art, New York)
Von 26. Mai 2007

Der Blick auf die Kindheit ist im Laufe der Geschichte immer wieder einem starken Wandel unterworfen gewesen. Heute ist es selbstverständlich, Kinder als Individuen zu betrachten, deren subjektive Bedürfnisse, Wünsche und Interessen wahrgenommen werden und die eigene Vorstellungen von ihrem Leben in der Gesellschaft haben. Aber nicht nur 2007 spielt die Frage nach der Position der Kinder und der Familie in der Gesellschaft eine Rolle. Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang bereits im 18. Jahrhundert.

Der Einfluss der Aufklärung

Angeregt von den Schriften John Lockes und Jean-Jacques Rousseaus wurde die Kindheit nun als wichtige Phase der menschlichen Entwicklung wahrgenommen. In den Porträts treten die Kinder als selbstständige Persönlichkeiten auf, deren lebenssprühende Natürlichkeit den Betrachter verzaubert.

1693 veröffentlichte der englische Philosoph und Aufklärer John Locke in London seine wegweisende Schrift „Some Thoughts Concerning Education“ (in deutsch erschienen mit dem Titel „Herrn Johann Locks Unterricht von Erziehung der Kinder …“, Leipzig 1708), die ein neues Erziehungskonzept forderte: Statt die Kinder zu affektierten, das Verhalten der Erwachsenen imitierenden Wesen heranzuziehen, sollten ihre natürlichen Anlagen gefördert werden. Ziel war es, sie an eine einfache Lebensweise zu gewöhnen und zu einer moralisch aufrechten Gesinnung heranzubilden, sodass sie als Erwachsene für die Gesellschaft von Nutzen sein würden.

Die neue Wahrnehmung der spezifischen Welt des Kindes prägte neue Wertvorstellungen aus, denn Kinder wurden nun nicht nur als Garanten dynastischer Kontinuität, sondern als selbstständige Charaktere gesehen, auf die sich die Fürsorge und der Stolz der Familie konzentrierten. Die Sicht auf die Kindheit als wichtige Lebensphase, in der sich die Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln, prägte auch die Bildnismalerei.

Mit den Porträts der „Maddalena Cattaneo“ und den „Balbi-Kindern“ von Anthonis van Dyck (1599–1641), die der Künstler in den 1620er Jahren während seines Aufenthalts in Italien malte, zeigte van Dyck die Kinder als liebenswerte kindliche Geschöpfe. Die von ihm geprägte Porträtauffassung wurde von seinen Nachfolgern aufgegriffen und war auch noch im 18. Jahrhundert gültig.

Rousseau und die Landschaft

Thomas Gainsborough (1727–1788) und Joshua Reynolds (1723–1792) griffen zwar auf diese Vorbilder zurück, setzten aber neue Maßstäbe: In ihren Porträts, wie der von Reynolds gemalten „Miss Crewe“, entwickeln die Dargestellten in der genau beobachteten Wiedergabe kindlicher Verhaltensweisen eine unbeschwerte Präsenz, die durch die lebendige, lockere Pinselführung unterstrichen wird. Ein wichtiges Gestaltungsmoment bildet die Landschaft: Die barocke Staffagelandschaft, in der Säulen und Balustraden Hinweise auf Herrschaftsansprüche und Landbesitz geben, wird zunehmend durch die Darstellung ursprünglicher Natur ersetzt. Das macht der Vergleich der Bildnisse von „John und Henry Truman-Villebois“ und den „Marsham-Kindern“, die Thomas Gainsborough um 1783 und 1787 malte, deutlich. Die Landschaft entspricht dem ungezwungenen, natürlichen Verhalten der Kinder und bietet die ideale Umgebung für das kindliche Spiel, das damals als Ausdruck einer eigenständigen Aneignung der Lebenswelt gesehen wurde. Hier machte sich der Einfluss des französisch-schweizerischen Schriftstellers, Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau geltend, dessen 1762 erschienene pädagogische Abhandlung „Emile oder Von der Erziehung“ auch in England breit rezipiert wurde. Rousseau ging davon aus, dass der Mensch mit guten Anlagen geboren wird. Um die schädlichen Einflüsse der von der Gesellschaft vertretenen Vorstellungen und Konventionen zu vermeiden, die den menschlichen Charakter deformieren, sollten Kinder deshalb fernab der Zivilisation auf dem Land, in der freien Natur großgezogen werden. Der Erzieher muss stets Vorbild sein und dafür sorgen, dass das Kind lernt, vernünftig über die Menschen, über die Dinge, über die Gesellschaft zu urteilen.

In einer konzentrierten Auswahl von insgesamt 27 Exponaten zeigt die Ausstellung ausschließlich Bildnisse von Kindern, die sich ohne die Begleitung von Erwachsenen in der freien Landschaft aufhalten. Das im Mittelpunkt stehende Porträt der „Kinder des Lord George Cavendish“ von Thomas Lawrence von 1790 ist ein charakteristisches Beispiel für diesen Bildnistypus, der die Erziehungsideale der Zeit veranschaulicht: Die wilde, unwegsame Natur fordert die älteren Brüder zu verantwortlichem Handeln heraus, denn fürsorglich halten sie ihre kleine Schwester an den Händen. Ihr fröhlicher Blick und die roten Wangen verdeutlichen, dass die Kinder gesund heranwachsen und voller Selbstvertrauen in die Welt blicken. Das Bildnis der „Kinder des Sir Francis Ford, die einem Bettler ein Almosen geben“ von William Beechey (1753–1839) vermittelt Mildtätigkeit als menschenfreundliches Erziehungsideal.

Das englische Kinderbildnis breitete sich bald in ganz Europa aus. Künstler wie Angelika Kauffmann (1741–1807), die nach England reisten, um dort die bewunderten Vorbilder im Original zu sehen, sorgten für eine weite Verbreitung des „modernen“ Bildnistyps.

In der Ausstellung ist Angelika Kauffmann mit einem Porträt der Henrietta Laura Pulteney vertreten. Bei den aufgeklärten Zeitgenossen auf dem Kontinent stieß die neuartige Auffassung des Kindes auf großes Interesse: Für den Hof in Weimar, ein Zentrum der Aufklärung in Deutschland, stellte Johann Friedrich August Tischbein (1750–1812) die Kinder des Herzogs Carl August in einer Parklandschaft dar. Diese erinnert an die Gärten in den Ilm-Auen, die der Fürst gemeinsam mit Goethe anlegen ließ. Das ungewöhnliche Bildnis eines „Laufenden Jungen“ des dänischen Malers Jens Juel (1745–1802) ist gleichfalls von den neuen Grundsätzen der Erziehung geprägt, denn damals wurden zunehmend sportliche Aktivitäten als bedeutender Teil der Erziehung wahrgenommen.

Die Prägung durch Lawrence

Der Sieg über Napoleon in der Schlacht bei Waterloo bedeutete für die Allianz der europäischen Fürsten gegen den „Usurpator“ einen großen Triumph. Der englische König George IV. beauftragte Thomas Lawrence (1769–1830), die militärischen und politischen Führungspersönlichkeiten, die diesen Sieg ermöglicht hatten, festzuhalten, deren Porträts dann in einer Ehrengalerie, der „Waterloo Chamber“, gezeigt wurden. Auf den Reisen durch Europa verbreitete Lawrence seinen Stil, der von vielen Künstlern begeistert aufgenommen wurde. Seine in Wien entstandenen Porträts begeisterten Friedrich von Amerling (1803–1887), dessen „Fischerjunge“ deutlich von Lawrence geprägt ist.

Das Bildnis von „Prinz Alfred und Prinzessin Helena“, das Franz Xaver Winterhalter (1805–1873) für Königin Victoria von England malte, beschließt die Ausstellung. Während seiner Tätigkeit am englischen Hof setzte sich Winterhalter intensiv mit van Dyck, aber auch mit der englischen Bildnismalerei auseinander. In der frischen Auffassung der Kinder und ihren mit raschem Pinsel wiedergegebenen weichen Zügen wird der Einfluss des Spätwerks von Lawrence, das in der Ausstellung mit seinen berühmten „Calmady-Kindern“ vertreten ist, erkennbar.

Dieser Abriss der Kindheit, der in der Ausstellung gezeigt wird, regt zum Nachdenken an. Sind es doch die vollkommenen Kindheitsbilder, die darauf hinweisen, was uns in der heutigen Zeit an Naturerleben mit Kindern fehlt und dies nicht nur, weil sich die gesamte Umgebung der Kinderheit verändert hat, sondern weil das schnelle , hektische Leben weniger Raum dazu lässt.



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