Helene Walterskirchen: Die Kultur der goldenen Mitte

Gut und Böse, Wahrheit und Lüge oder Liebe und Hass sind zwar durchaus in unserer Menschenwelt als Konstanten vorhanden, ob und wie sie jedoch zum Einsatz gelangen, variiert von Mensch zu Mensch, von Gruppierung zu Gruppierung, von Gesellschaftsform zu Gesellschaftsform.
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Pompeji, ItalienFoto: iStock

Es gibt von Natur aus stets zwei Seiten einer Sache. So gibt es beispielsweise auf der Achse von 24 Stunden Tag und Nacht. Und auf der Achse eines Jahres gibt es Sommer und Winter. Dabei handelt es sich um unabänderliche Naturgesetze, die auf uns Menschen einen Einfluss haben, auf die wir aber selbst keinen Einfluss haben.

Anders sieht es mit Gegensätzlichkeiten bzw. Polaritäten aus, die uns Menschen direkt betreffen, z.B. Gut und Böse, Wahrheit und Lüge oder Liebe und Hass. Hierbei handelt es sich zwar ebenfalls um Gesetzmäßigkeiten auf einer Achse, aber um menschliche Gesetzmäßigkeiten und nicht um Naturgesetze. Diese menschlichen Gesetzmäßigkeiten tangieren uns Menschen direkt in Form unseres Lebens, unseres Charakters und Verhaltens.

Gut und Böse, Wahrheit und Lüge oder Liebe und Hass usw. sind zwar durchaus in unserer Welt (Menschenwelt) als Konstanten vorhanden, ob und wie sie jedoch zum Einsatz gelangen, variiert von Mensch zu Mensch, von Gruppierung zu Gruppierung, von Gesellschaftsform zu Gesellschaftsform.

Jeder Mensch erlebt auf seinem Lebensweg, was Gegensätzlichkeiten bzw. Polaritäten sind, was sie mit dem Menschen, der in ihnen verhaftet ist, machen, welche Lernlektionen und Erfahrungen für den einzelnen damit verbunden sind, wie die Auswirkung auf die Mitmenschen und Außenwelt ist usw. Ein gegensätzliches bzw. polares Verhalten ist zumeist mit unangenehmen, konfliktbeladenen bis hin zu leidvollen Erfahrungen verbunden.

Wer im polaren Pol verhaftet ist, hat eine sehr begrenzte Sichtweise und häufig ein starres Standpunktverhalten, das keine anderen Meinungen toleriert und akzeptiert als die eigene oder eine vorgefasste.

Gegensätzlichkeiten bzw. Polaritäten liegen stets dem zugrunde, was man Streit, Kampf oder Krieg nennt. Im kleineren Rahmen kommt es zu Streitigkeiten, Trennungen, Kündigungen oder Scheidungen, im großen Rahmen zu Völkerkriegen oder Religionskriegen. Im wirtschaftlichen Bereich kommt es zu Rivalitäten, Konkurrenzverhalten und einer gezielten Zerstörung des Gegners; im politischen Bereich kommt es zu Machtspielchen, machiavellischen Taktiken bis hin zu blutigen Revolutionen.

Aufgrund der Gefahren, die mit extremen Polaritäten bzw. Polaritätsverhalten verbunden sind, haben antike Philosophen, wie z.B. Aristoteles, die Hinwendung zur goldenen Mitte als Idealzustand empfohlen. Die Kultur der goldenen Mitte ist jedoch wesentlich älter als zwei oder drei Jahrtausende. Sie ist eine Ur-Kultur, die besteht, seit es das Menschengeschlecht gibt.

Die Kultur der goldenen Mitte gab es praktisch schon immer. Sie ist die Ausgewogenheit zwischen beiden Polen, der Nullpunkt auf der Skala. Man kann sie auch Neutralität nennen.

Die goldene Mitte hat nichts mit Laugängertum zu tun, in das sich die Menschen flüchten, die mit dem Leben und bestimmten Situationen nicht umgehen können, die sich statt dessen in eine Inaktivität flüchten, in der sie keine eigene Meinung haben, keine eigenen Entscheidungen treffen, in der sie anderen nach dem Mund reden und überhaupt nichts machen, also untätig sind. Sie vergessen eines: Leben bedeutet, aktiv zu sein.

Wenn im Leben eines Menschen Stillstand herrscht, gibt es keine Tätigkeiten, keine Entwicklungen, kein Leben. Wenn dagegen Aktivität herrscht, gibt es Tätigkeiten, Handlungen, Entwicklungen, Leben. Warum? Weil das „Pendel“ des Menschen nach rechts und links ausschlägt und so ein Spannungsfeld erzeugt.

Und nur in einem Spannungsfeld sind Handlungen und Entwicklungen möglich. Dies nennt man dann Leben. Ein Mensch, der im Stillstand lebt, ist wie erstarrt, ohne Leben, ohne Lebendigkeit.

Leben bedingt ein Spannungsfeld und kann nur in einem solchen stattfinden. Durch das Leben in einem Spannungsfeld lernt der Mensch. Er erlebt Gutes, Schönes oder Böses, Schlechtes, das eine tut ihm gut, das andere tut ihm weh. Daraus zieht er den Schluss, das, was ihm gut tut zu wiederholen und das, was ihm weh tut, nicht mehr zu tun. Im positiven Falle folgt er dabei der „Kultur der Goldenen Mitte“. Im negativen Fall verstrickt er sich in der Polarität – entweder rechts oder links.

Wie einfach wäre alles, mag sich so mancher denken, wenn es nur den Zustand der „Goldenen Mitte“ gäbe und kein rechts und ebenso kein links. Dann gäbe es keine Konflikte und Streitigkeiten unter den Menschen. Das mag zwar „schön“ sein, aber in diesem Falle gäbe es auch keine Entwicklungen. Es braucht beide Seiten als Spielfelder für Lernerfahrungen, um etwas zu erkennen, zu verstehen und sich weiterzuentwickeln bzw. sich zu verändern und zu dem zu gelangen, was man weise nennt.

Wer hingegen nur eine Seite der Medaille kennt und lebt, verwehrt sich wichtiger Erfahrungen und Lernlektionen. Nehmen wir z.B. die Polaritäten Gut und Böse. Wer nur das Gute kennt und das Böse nicht, weiß nicht was „gut“ ist und was „böse“ ist. Wer davon träumt, in einer ausschließlich guten Gesellschaft zu leben, begreift nicht, dass ein solches Leben sehr eintönig wäre, da in ihm nicht das nötige Spannungsfeld herrschen würde, um die Entwicklung der Menschen voranzutreiben. Und ebenso ist es umgekehrt.

Wenn wir heute fordern, die Welt müsste „nur gut“ sein und dürfte „nicht böse“ sein, so befinden wir uns in einer Sackgasse. Wenn wir heute sagen: „Der ist ein guter Mensch“ und: „Der ist ein schlechter Mensch“, so ist das eine rein subjektive Sache.

Vielleicht muss jemand gerade lernen, was es bedeutet, böse zu sein, um daraus zu erkennen, was sein Verhalten bewirkt und um dann dadurch die Entscheidung zu treffen, sich beim nächsten Mal anders, vielleicht mehr in Richtung „gut“ zu verhalten.

Wenn wir heute mit jemandem zu tun haben, der sich uns gegenüber böse verhält, können wir ihm signalisieren, was uns an seinem Verhalten missfällt oder verletzt; daraus kann unser Gegenüber lernen, etwas erkennen und als Folge davon, etwas verändern und verbessern.

Gleichermaßen verhält es sich mit rechts und links, einem großen Zankapfel in unserer heutigen Gesellschaft, in der das politische Linkssein favorisiert wird und als gut gilt, das Rechtssein dagegen bekämpft und als böse oder schlecht bezeichnet wird. Dabei vergessen wir, dass es ohne „Links“ kein „Rechts“ gäbe und umgekehrt.

Wenn wir alle links wären, würden wir nie wissen, was es bedeutet rechts zu sein. Wenn wir alle „nur links“ oder „nur rechts“ wären, gäbe es kein Spannungsfeld und auch keine Lernmöglichkeiten.

Diejenigen, die heute links sind, können lernen, was rechts ist, und umgekehrt. Nur indem es in unserer Gesellschaft rechts und links gibt, können wir den jeweils anderen Pol erleben, Erfahrungen sammeln und daraus lernen.

Es ist völlig unsinnig, wenn diejenigen, die links sind, die bekämpfen, hassen oder sogar bekriegen, die rechts sind und umgekehrt. Ebenso ist es unsinnig, wenn Linke versuchen, Rechte von der Unrichtigkeit ihres Weges und ihrer Ansichten zu überzeugen, und umgekehrt, wenn Rechte das gleiche mit den Linken machen. Anstatt links und rechts als zwei Seiten einer Medaille zu betrachten, kämpfen beide gegeneinander oder versuchen einander zu bekehren. Beides ist völlig unnatürlich.

So wie der Mensch weder Gut noch Böse, weder Wahrheit noch Lüge beseitigen kann, kann er auch Rechts und Links nicht beseitigen, denn es handelt sich um göttliche Gesetze, die die Grundlage für das bilden, was man Leben und Lernen und sich Entwickeln nennt.

Was wir jedoch brauchen, ist eine grundlegende Ausgewogenheit – wie bei einer Waage. Eine Waage, die im Grundzustand ausgeglichen ist, die jedoch kurzzeitig, wenn das Gewicht einer Lebenssituation bzw. Lernlektion darauf gelegt wird, entweder rechts oder links nach oben bzw. nach unten geht. Jeder Mensch ist eine Waage, aber auch die Gesellschaft ist eine Waage, ebenso alle Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Religion, Bildung usw.

Den Grundzustand der Ausgewogenheit kann man auch als „Goldene Mitte“ bezeichnen. Was bedeutet nun für uns die Kultur der Goldenen Mitte? Sie bedeutet, dass wir aufgrund unserer Erfahrungen in Sachen Gut und Böse bzw. Links und Rechts fähig sind, wieder in die Mitte zu gelangen, also in einen Gut-Böse bzw. Rechts-Links-ausgeglichenen Zustand (= Neutralität), weil wir im Bewusstsein sind, dass beides nur Lernlektionen und Lernerfahrungen sind und es an uns selbst liegt, diese anzunehmen, zu begreifen, zu verstehen und daraus zu lernen.

Das Lernspektrum in der Welt von heute ist nichts für weichgesinnte Menschen, sondern eher etwas für solche, die hart im Nehmen sind. Die heutige Welt ist keine sanfte Welt, sondern eine, die uns alle bis aufs höchste Maß herausfordert. Aber genau das will sie.

Das ist der Plan. Nur die Besten können es schaffen, die anderen bleiben auf der Strecke, jammern vor sich hin, fügen sich in das Joch der Unterdrückung ein, resignieren, werden depressiv oder bringen sich um.

In der Welt wie der unsrigen ist es eine Kunst, zu überleben, die eigenen Werte nicht zu verlieren, sondern zu bewahren, sich selbst und seinen Idealen treu zu bleiben sowie mutig und konsequent seinen Weg – auch gegen den Mainstream – zu gehen. Ja, es ist eine Kunst, in der Goldenen Mitte zu bleiben, sich nicht vom
aggressiven Strudel mitreißen zu lassen und in die allgemeine Empörung miteinzustimmen oder der düsteren Weltschau der Masse zu folgen.

Wir müssen uns bewusst sein: Alles, was wir erleben, was um uns geschieht, ist eine Inszenierung, in der es um kollektive Lernaufgaben, aber auch um individuelle Lernaufgaben geht. Wir können uns über alles empören, über alles schimpfen, über alles erregen, über alles ärgern und uns wünschen, dass es anders bzw. besser wäre.

Aber wir dürfen nie außer Acht lassen, dass wir anders an die Sache herangehen müssen, d.h. mit der Einstellung: Was muss ich als Einzelner aus dem Ganzen lernen und erkennen, was müssen wir als Gemeinschaft oder Gesellschaft aus dem Ganzen lernen und erkennen?

Auch müssen wir uns immer wieder die Frage stellen: Was kann ich als einzelner für die Gemeinschaft und die Welt tun, was braucht es?

Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, geraten wir ganz leicht in eine polare Haltung mit der Folge, dass daraus eine leidenschaftliche, fanatische Haltung oder sogar eine rebellische Haltung wird, in der wir glauben, uns geschähe ein Unrecht und aus diesem Unrecht heraus hätten wir das Recht, andere zu beleidigen oder anzugreifen.

Wenn wir jedoch nicht in diesen Strudel eintauchen, sondern uns fragen, was uns persönlich all das zu sagen hat, werden wir fähig, aus dem Standpunktverhalten auszusteigen und uns auszugleichen bzw. in unsere Goldene Mitte zu gelangen.

Die Welt mag heute schlecht sein, sie mag sich in eine falsche Richtung entwickeln, aber es sind wir selbst, die sie als schlecht ansehen und die entscheiden, dass sie sich in eine falsche Richtung entwickelt.

Da der Mensch aber spürt, dass er womöglich irrt, sucht er immer nach Gleichgesinnten, um mit seiner Meinung nicht alleine da zu stehen.

Andere können uns helfen, eigene Fehler zu erkennen und umgekehrt können wir anderen helfen, ihre Fehler zu erkennen. Sehen wir das Ganze doch mehr als unsere persönlichen Lernlektionen in einer schwierigen, herausfordernden Zeit, die es uns nicht leicht macht, unsere ethischen Grundsätze zu leben, unseren Charakter zu veredeln und unsere Lebensaufgaben zu bewältigen.

Jeder von uns ist bis aufs höchste Maß gefordert. Jeden Tag. Keine leichte Aufgabe, aber eine, in der wir unsere Schwächen erkennen und unsere Stärken verbessern können, um unser inneres göttliches Potenzial nicht nur zu 40 oder 50 % zu entfalten, sondern um es zu 80, 90 oder sogar 100% zu entfalten.

Das Böse ist unbestritten in unserer Welt, der Teufel ist ebenso unbestritten in unserer Welt, aber es liegt an uns selbst, ob wir wie fixiert auf das Böse bzw. den Teufel sind, ob wir es bzw. ihn fürchten, bekämpfen oder uns verführen und in die Irre führen lassen. Gott hat das Gute und das Böse erschaffen, um die Menschen zu prüfen, sie dadurch lernen zu lassen, ihnen etwas bewusst zu machen, das es ihnen ermöglicht, sich dem einen oder anderen zuzuwenden – mit allen Konsequenzen und karmischen Lasten.

Schwierige Zeiten wie die unsere sind keine Strafe für uns, sondern eine Riesenchance.

Die goldene Mitte ist der Nullpunkt in allem, ist das Auge des Zyklon, wo wir immer wieder zur Ausgewogenheit, Ruhe und Neutralität kommen können, um uns nur ja nicht in der Polarität, in den Emotionen und im Fanatismus zu verstricken. Die Kultur der goldenen Mitte führt uns auf unserem Weg dorthin, wo wir in unser Himmelreich gelangen.

Zuerst erschienen auf www.helene-walterskirchen.de

Die Autorin, Publizistin und Kultur-Mentorin Helene Walterskirchen rief 2014 die Kultur-Sammel-Edition „Kultur-Magazin Schloss Rudolfshausen“ ins Leben, sie ist auch deren Herausgeberin. Als völlig unabhängiges und neutrales Kultur-Informations-Medium zeigt es die Kulturwurzeln, die Kulturentwicklung und die Kulturgrundlagen, auf denen das Leben der Menschen basiert. Seit 2018 gibt es das Kultur-Magazin auch als Online-Ausgabe in verkürzter Form. www.helene-walterskirchen.de/



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