„Die wichtigsten Stellen wurden geändert“

Das französische Literaturmagazin LIRE hat in seiner Maiausgabe 2005 weltweit 50 Schriftsteller ausgewählt, die das 21. Jahrhundert repräsentieren. Ma Jian wurde darunter als einziger chinesischer Schriftsteller genannt.
Titelbild
Der chinesische Exil-Schriftsteller Ma Jian lebt heute in England.Foto: LIVEfromtheNYPL‘s/www.flickr.com
Von 12. Oktober 2009

Im Jahr 2009 gewann Ma Jians Roman „Beijing Coma“ den TR Fyvel Book Award for Freedom of Expression. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Peking-Koma“ ist im September 2009 im Rowohlt Verlag erschienen.

In den 1980er-Jahren gab es im kommunistisch regierten China eine „Kampagne gegen die kapitalistische Liberalisierung“. Zahlreiche Intellektuelle wurden als „öffentlich unerwünschte Person“ diffamiert. Darunter befanden sich etwa der Wissenschaftler Fang Lizhi, der Journalist Liu Binyen oder Schriftsteller wie Wang Ruowang und Ma Jian.  Letzterer gelangte über Umwege nach Hongkong. Nachdem die VR China 1997 die Souveränität über Hongkong zurückerlangte, verließ er auch Hongkong und zog nach Europa.

Im Jahr 2002 wurde Ma Jians herausragendes Werk, der Roman „Red Dust“, mit dem Thomas Cook Book Award ausgezeichnet. Diese höchste Auszeichnung in der Sparte Reiseliteratur wurde damit erstmals an einen chinesischen Schriftsteller vergeben.

Im Jahr 2005 hielt Ma Jian in der amerikanischen Yale University einen Vortrag zum Thema „Chinesische Literatur und Politik“, der einen eindrucksvollen Einblick in sein Leben und Denken gibt. Die Epoch Times hat im Folgenden einige Auszüge davon zusammengestellt:

„Mein Vater lehrte mich von Kindheit an, nicht so viel mit anderen Menschen zu sprechen. Auch in unserer eigenen Familie wurde wenig kommuniziert. Deshalb weiß ich kaum etwas über die Geschichte unserer Familie.

Mein Großvater hatte ein Stück Land und eine Pistole, was damals keine ungewöhnliche Sache war. Als die Kommunistische Partei kam, wurde mein Großvater als reicher Bauer bezeichnet und umgebracht. Die Form seiner Hinrichtung war grausam. Weil mein Großvater gerne Tee trank, wurde er von den Kommunisten eingesperrt und man ließ ihn verdursten.

Soweit ich weiß, ist ein Onkel von mir nach Taiwan ausgewandert. Wegen dieser Beziehung zu jemandem im Ausland, durften meine drei Brüder nicht an der Universität studieren.

China ist ein Land der Poesie

Die Tyrannei vernichtet Gedanken und auch die Poesie. Poesie ist etwas, worauf das chinesische Volk sehr stolz ist, aber jetzt haben wir uns von der Tradition der Poesie entfremdet. Das betrifft aber nicht nur die Poesie, denn wir haben auch unsere Tradition der Loyalität zu den Eltern und der Nation, sowie der Mitmenschlichkeit verraten.

Ich habe beispielsweise meinen Lehrer verraten. Damals wusste ich nicht, was ich tat. Mein Kunstlehrer in der Grundschule war ein großer hagerer Mann, etwa 30 bis 40 Jahre alt. Eines Tages habe ich ein Pferd auf die Tafel gemalt. Nachdem er das gesehen hatte, ließ er mich nach dem Unterricht 100 Pferde malen. Später hat er sich oft mit mir zusammen in seinem Büro eingeschlossen und mir das Malen beigebracht. Er war ein sehr sympathischer Lehrer.

Als die Kulturrevolution begann, war ich in der siebten Klasse der Grundschule. Damals wurden die Lehrer damit bestraft, eine Tafel auf ihren Rücken zu binden, auf der stand: „Ich bin eine konterrevolutionäre akademische Autorität“. Meine Kameraden bewarfen sie dann mit Steinen und Tintenfässern.

Wir haben die Kunstwerke meines Lehrers, darunter eine Menge von Skizzen, auf einen Scheiterhaufen getürmt und verbrannt, dabei riefen wir kommunistische Parolen. Ich war auch darunter. Damals war die Atmosphäre so, dass du deinen Lehrer hassen musstest.
An meinem Vater erkenne ich, wie gespalten die Chinesen sind: Sie sagen nie klar, ob etwas gut oder schlecht ist. Innerlich sind sie gebrochen. Vor ein paar Jahren habe ich einen chinesischen Schriftsteller an der Universität Sydney über die Studentenbewegung befragt. Er zögerte und fand keinen klaren Ausdruck. Für Westler ist es sehr einfach, über die Studentenbewegung eine Meinung zu äußern. Chinesen sagen hingegen, wir kümmern uns nicht um Politik; anders ausgedrückt, wir glauben, das Regime hatte recht. Und wir glauben, dass die Studenten auch recht hatten.

Vor der Studentenbewegung hielt ich mich in Peking auf. Die chinesische Bevölkerung glaubte damals noch, dass die Regierung die Anregungen aus dem Volk aufnehmen und das Land besser werden würde. Damals gab es keine Verkehrspolizisten, man durfte fahren wie man wollte, auch die Diebe stahlen nicht mehr. Als ich fünf Monate später nach Peking zurückkam, waren die alten Damen, die den Studenten während der Studentenbewegung Reissuppe gebracht hatten, freiwillige Polizisten mit roten Armbinden geworden. Streit, Schlägereien und Besaufen gab es wieder wie zuvor und man schimpfte sich zu Tode. Schriftsteller konnten nichts mehr schreiben. Sie durften natürlich nichts hervorbringen, weil ihre Leidenschaft nicht im Einklang mit der Gesellschaft war.

„Ma Jian, gib auf!“

Einmal wurde ich von der Polizei festgenommen. Als die Polizisten mich verhörten, haben sie alle Knöpfe meiner Hose abgerissen. Wenn man die Hose mit der Hand halten muss, kann man nicht entspannt dastehen und das ruft ein Gefühl von Minderwertigkeit hervor, was in China sehr verbreitet ist. So ein Dialog war nicht mehr ebenbürtig. Als ich freigelassen wurde, sagte ein zivilisiert aussehender junger Polizist zu mir, „Ma Jian, gib auf! Heute lasse ich dich nach Hause gehen. Aber wenn du dich nicht beugst, lasse ich dich einfach verschwinden.“

Das war mitten in der Nacht. Ich hatte Angst, fühlte mich nicht sicher und wagte mich nicht nach Hause. So habe ich mich in einem LKW versteckt und dort bis zum Tagesanbruch durchgehalten. Anschließend holte ich ein paar Sachen von Zuhause ab und rannte davon. In „Red Dust“ habe ich die Erlebnisse meiner dreijährigen Wanderung durch China beschrieben. Darin befand sich auch die Aussage von diesem Polizisten. Als das Buch später in Festland-China erschien, war der Satz geändert worden in: „Geh nach Hause, du sollst dich nicht mit Schurken einlassen.“

Oberflächlich gesehen haben sich Wirtschaft, Wissenschaft und Technik nach Chinas Öffnung entwickelt wie nie zuvor. Allerdings bleibt der ideologische Bereich wie Presse, Publikation und Literatur davon noch unberührt. In meinem Roman „Der Nudelmacher“ weiß der Mann, der die Nudeln zieht, dass der Teig in verschiedene Formen gebracht wurde. Der Teig weiß aber nichts davon. In diesem Buch habe ich den sozialen Wandel der 80er Jahre in China beschrieben. Vor 15 Jahren habe ich das Manuskript an 40 Verlage geschickt; obwohl die Cheflektoren und Geschäftsführer jeweils damit einverstanden waren, das Buch herauszugeben, wurde es vom Büro für Presse und Publikation in letzter Instanz nicht genehmigt. Erst nach 15 Jahren wurde das Buch schließlich herausgegeben. Das mag nach einem Fortschritt aussehen, jedoch sind die entscheidenden Stellen in dem Buch geändert worden. Die Literatur wurde entstellt, dies ist noch schlimmer, als wenn die Veröffentlichung verhindert worden wäre. Die Leute glauben nun, dass die Tatsachen so seien. Es sei denn, man würde sich das Buch im Ausland beschaffen.

Zuerst wurde der Name des Autors geändert in „Ma Jiangang“, mein Name, Ma Jian, durfte nicht erscheinen. In dem Roman gibt es ein Zitat: „ ‚Mao Tse-tung ist auch ein Mensch‘, sagte der Hund“. „Sagte der Hund“ ist eine Metapher, deren Bedeutung die Leser gut begreifen können. Allerdings wurde in der Version, die auf dem Festland China veröffentlicht wurde, „sagte der Hund“ einfach weggelassen.

In „Red Dust“ habe ich eine Szene beschrieben, in der auf der Straße gesungen wird: „Das ist unser Paradies“. Als ich das Buch mit heimischen Verlegern besprach, kamen ein 23 Jahre junger Redakteur vom Wuhan Verlag und ein 50-jähriger Redakteur vom Literatur Verlag Frühlingswind ohne vorherige Abstimmung zu dem Ergebnis, diesen Satz zu streichen. Sie sind sich nie begegnet, der Altersunterschied ist groß, trotzdem denken sie mit demselben Gehirn.

Kritik ist die Berufsethik von Intellektuellen

Man lernt, um die Gesellschaft kritisch betrachten zu können. Kritik ist die Berufsethik von Intellektuellen. In China gibt es einen berühmten Schriftsteller namens Su Tong. Er sagte: „Politik ist wie eine Fliege, wenn man das Fenster zumacht, ist sie nicht mehr zu sehen.“ Ich würde sagen, wenn Sie „das Fenster zumachen“, haben Sie Ihr Gewissen und die Moral auch zugemacht. Auch wenn das Fenster geschlossen ist, ist die Fliege immer noch da. Wenn unsere Generation über das Schicksal der Menschen schreiben will, geht es oft um ein Leben, das voller Enttäuschungen ist und von Tragödien geprägt. Es ist unmöglich, sich vor der Politik zu verstecken. Die Tradition der chinesischen Literatur ist eine Art Rebellion. Die Politik ist nicht vom Leben der Menschen zu trennen. In diesem Sinne ist politisch zu sein eine Art Patriotismus, so ist man rebellisch aus Liebe.



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