Hildegard Hardt: Der Lebensbaum

„Herr, wir danken Dir für all Deine Güte, aber gib’ uns dieses Zuhause, um unserer Liebe und des Kindes willen!“ Und so geschah es! Zwischen zwei kleineren Häusern, in die sie umziehen konnten, pflanzten die Besitzer einen jungen Zypressenbaum. Er war noch unscheinbar, aber von geradem Wuchs und vom selben Grün wie in der geliebten, alten Heimat. Ein Märchen.
Titelbild
Im Schatten einer Zypresse.Foto: iStock
Epoch Times24. Dezember 2019

Von weit her aus dem Süden waren Manolos Eltern gekommen, denn sie fanden dort zu wenig Arbeit, um sich und ihren kleinen Sohn zu ernähren. Die ferne Heimat mit ihren felsigen Küsten, dem leuchtenden Blau des Meeres und den Zypressen, die wie Finger in den samtenen Himmel ragten, fehlte ihnen sehr. Doch Manolo sollte es besser haben als die Kinder in ihrem Dorf: nicht tagaus – tagein schwer arbeiten, abends in den wunden Fingern die Schüssel mit Ziegenmilch halten und nachts auf dem Strohsack keine Ruhe finden. Manolo gehörte ihr Herz, all die Liebe, die sie miteinander verband.

Fremd war das Land, in das sie kamen. Dicht an dicht standen in den Städten die hohen Häuser, die Menschen lächelten kaum, gingen stumm ihres Weges und die Mühsal des Alltags hatte das Strahlen ihrer Augen beinahe ausgelöscht. Es gab keine Schaumkronen auf einem unendlich scheinenden Meer, keine Olivenhaine und auch keine Zypressen, die fast mahnend den Weg zum Himmel wiesen.

Doch Manolos Eltern waren stark, so voll Kraft für sich und ihr Kind, dass sie sich nicht entmutigen ließen. Der Vater arbeitete hart und dankte dem Schicksal dennoch dafür. Aber nach jedem schweren Arbeitstag sagte er: „Erst wenn wir ein Zuhause finden, wo eine Zypresse in unser Fenster schaut, werden wir wissen, dass dort unsere wahre neue Heimat ist, alle Mühsal wird mit diesem Baum des Lebens dann ein Ende haben und Gott schützend seine Hand über uns halten.“ Jeden Abend nahm er an Manolos Bettchen die Hände seiner geliebten Frau und betete: „Herr, wir danken Dir für all Deine Güte, aber gib’ uns dieses Zuhause, um unserer Liebe und des Kindes willen!“

Und so geschah es! Zwischen zwei kleineren Häusern, in die sie umziehen konnten, pflanzten die Besitzer einen jungen Zypressenbaum. Er war noch unscheinbar, aber von geradem Wuchs und vom selben Grün wie in der geliebten, alten Heimat.

Etwas war jedoch merkwürdig an ihm, gleichsam ein wenig unheimlich: stellte man sich des Nachts dicht neben ihn, dann hob manchmal so etwas wie ein Flüstern an, und dabei bewegten sich auch bei völliger Windstille fast unsichtbar die Äste.

Der kleine Manolo spielte in seinem noch spärlichen Schatten, träumte später unter seinen Zweigen die Träume aller Kinder und küsste noch viel später in seinem Schutz die erste Liebe seines Lebens. Er fühlte sich immer wieder zu ihm hinzogen, empfand in seiner Nähe ein eigenartiges Gefühl des Trostes und zuweilen sprach er sogar mit ihm, wie mit einem guten Freund. –

Die Jahre gingen ins Land. Manolo hatte einen Beruf gelernt, fand an einem anderen Ort Arbeit und zog fort. Mit den Eltern verließ er auch den nun stolzen Baum seiner Kindertage, aber die Erinnerung an ihn blieb stets lebendig. Wenn er in der Fremde die Augen schloss, sah er ihn oftmals vor sich, erzählte ihm alles, was er erlebte und fühlte sich danach verstanden und getröstet.

Dann erhielt er den Brief der Mutter. „Unseren Baum wollen sie fällen, und seitdem ist Papa sehr krank. Bitte komm’ mein Junge, komm schnell, er fragt immer nach Dir.“

Sofort machte sich Manolo in aller Eile auf den Weg. Eine dunkle Angst hielt ihn umfangen und er betete still während der langen Reise: „Herr, Du mein Gott, lass’ mich nicht zu spät kommen! Ich bitte Dich!“

Vom Bahnhof rannte er wie um sein Leben, erreichte atemlos das Haus, in dem er viele glückliche Jahre verbracht hatte, …… und sah den Gefährten seiner Kindertage gefällt am Boden liegen.

Es war, als ob ihn eine unsichtbare Hand zu Boden drückte. Kein Vogel sang, und die Blumen vor dem Haus hatten ihre Blütenkelche geschlossen. Vater muss sterben, durchfuhr es ihn, als er kurz darauf am Bett stand und ihm in die Augen sah. Ein letzter Blick des Kranken ging zum Fenster, vor dem immer der Baum gestanden hatte, dann schlossen sich seine Lider. –

Manolo ergriff die Hand der Mutter, stieg mit ihr die Treppe hinunter und sie traten vor den Baumstumpf, der als letztes Lebenszeichen aus der Erde ragte. Die Mitte der Jahresringe leuchtete rot wie Blut, ein schwaches Stöhnen war zu hören – dann Stille, kein Flüstern mehr, kein Trost. – Der Mensch hatte ein Geschöpf sinnlos getötet!

In der Ferne braute ich urplötzlich ein Sturm zusammen. Schwarze Wolken jagten dahin und verdunkelten den Himmel. Alles Leben schien zu erstarren. –

Aber dennoch sollte es den Sieg davontragen!

Als der Stamm zersägt wurde, rollten zwei der kleinen, grau-grünen Zapfen unter eine immergrüne Hecke und blieben im weichen Boden liegen. Herbststürme bedeckten sie mit Laub, im Winter schützte sie eine leichte Schneedecke, und in den warmen Monaten träumten sie in ihrem Versteck den Traum aller Geschöpfe Gottes von neuem Erwachen.

Nach unendlich langer Zeit wurde er wahr: inmitten der schon alten und verholzten Hecke sah man plötzlich zwei kleine Zypressen. Sie standen wie Geschwister nebeneinander, reckten ihre noch schwachen Ästchen dem Sonnenschein entgegen und klammerten sich mit den Wurzeln so fest in die Erde, dass man sie nicht herausziehen konnte. –

Im Lauf der Jahre wuchsen sie ineinander und sahen beinahe wie ein einziger Baum aus, unzertrennlich und kraftvoll – ein Symbol ewiger Verbundenheit. Etwas war jedoch merkwürdig, gleichsam ein wenig unheimlich: stellten sich in warmen Nächten zwei Liebende in seinen Schatten und küssten sich, dann hob manchmal so etwas wie ein Flüstern an, und dabei bewegten sich auch bei völliger Windstille fast unsichtbar die Äste.



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