Der fliegende Holländer

Tagelang schon hatte es gestürmt, und das Schiff im Hafen konnte nicht ausfahren. Das war dem Kapitän nicht recht. Er war ein grober Kerl, der nur befehlen und nicht gehorchen konnte ... Ein Märchen aus der Sammlung von Wilhelm Hauff.
Titelbild
Der Fliegende Holländer?Foto: iStock
Epoch Times22. September 2019

Tagelang schon hatte es gestürmt und das Schiff im Hafen konnte nicht ausfahren. Das war dem Kapitän nicht recht. Er war ein grober Kerl, der nur befehlen und nicht gehorchen konnte. Er war Meister auf seinem Schiff und Meister auf dem Meer. Er freute sich, wenn das Wetter schlecht war, da hatte er zu kämpfen, und es gelang ihm immer, das Schiff sicher in den Hafen zu bringen.

Jetzt aber lag er da im Hafen, und der Sturm kam schnurgerade aus dem Westen aus dem Meer, und kein Schiff war imstande, aus dem Hafen zu segeln. Der Kapitän hatte schon viele Tage gewartet und schrie dem Sturm entgegen: „Morgen segeln wir!“

„Herr Kapitän“, sagte der Steuermann vorsichtig, „morgen ist Ostern. An Ostern fährt man nicht aus, das ist ein heiliger Tag.“
„Was schert mich Ostern“, erwiderte der Kapitän finster, „ich fahre aus!“
„Nicht am Tag der Auferstehung“, sagte der Steuermann leise.
„Ich segle, wann es mir passt!“, schrie der Schiffer.

Da schwieg der Steuermann und wendete sich ab.
Finster schaute der Schiffer in Wellen, Wolken und Wind.
„Bei diesem Wetter kommst du nicht hinaus“, hatte man ihm gesagt, „dein Schiff wird zerschmettert, noch bevor es aus dem Hafen ist.“
Sollte er sich vom Wetter regieren lassen und noch tagelang warten? Oder? Oder regierte hinter dem Sturm vielleicht eine höhere Macht, der er zu gehorchen hatte? … Er fluchte und lachte laut … „Morgen segeln wir!“

In dieser Nacht wuchs der Sturm zum Orkan, aber schon ganz früh befahl der Schiffer: „Wir stechen in See!“ Der Steuermann wollte etwas sagen, überlegte und wiederholte dann laut zu den Matrosen: „Wir segeln!“ Die Matrosen jauchzten. Das war einmal ein Kapitän. Der hatte es in sich. Sie kletterten ins Tauwerk und arbeiteten wie die Wilden. Sie wollten fahren! Sie sangen laut.

Da fingen die Osterglocken zu läuten an. Die Matrosen hörten zu singen auf und starten auf die Kirche, die rief und rief: Christus ist auferstanden!
„Wir fahren!“, schrie da der Schiffer und überstimmte die Glocken mit seiner tönenden Stimme. Da arbeiteten die Matrosen wieder. Der Schiffer des benachbarten Schiffes rief ihn an: „Fährst du?“
„Ich fahre!“, rief der Kapitän.
„Hörst du die Glocken nicht?“
„Ich fahre!“
„Und hörst du den Orkan nicht?“
„Ich fahre!“
„Das wirst du bereuen, Mann. Du siehst keinen Hafen mehr.“

Der Kapitän richtete sich stolz auf: „Ich soll keinen Hafen mehr sehen? Du willst mich wohl einschüchtern? Und wenn ich in Ewigkeit segeln sollte, ich fahre!“ Da ließ er alle Segel setzen. Die Matrosen sangen nicht mehr und jauchzten nicht mehr. Es war totenstill geworden unter ihnen. Man hörte nur, wie der Sturm durch das Tauwerk pfiff und wie er mit den Segeln klapperte. Und man höre die Osterglocken. Schweigend lichteten sie den Anker, und schweigend warteten sie auf weiteren Befehl ihres Schiffers.

Es kam aber kein Befehl. Der Schiffer stand auf der Brücke und rührte sich nicht mehr. Er schaute vor sich aufs Wasser hinaus. Da rührten sich auch die Matrosen nicht. Der Sturm pfiff durchs Tauwerk, die Glocken läuteten … und die Segel blähten sich … gegen den Wind!

Die Leute auf dem Kai wurden unruhig. Hier geschah etwas, das keiner fassen konnte. Die Segel des Schiffes blähten sich gegen den Wind, und das Schiff schoss gegen den Wind aus dem Hafen. Der Schiffer rührte sich nicht. Die Matrosen rührten sich nicht. Aber das war doch nicht möglich?! Geschah hier ein Wunder? Die Osterglocken läuteten. Und das Schiff fuhr trotzdem aus? Das konnte nur eine Toten-Reise werden. Das war eine Herausforderung! Es wurde still auf dem Kai. Die Glocken läuteten, der Sturm brüllte. Das Schiff schoss dem Meer entgegen. Ein großer schwarzer Vogel flog um den Mast herum.

Aber was war denn das? Es war, wie wenn die Segel aufglühten im Sonnenschein. Und es gab keine Sonne! Brannte es auf dem Schiff? Aber es gab keine Flammen und keinen Rauch! Trotzdem leuchteten die Segel blutrot, während der Rumpf des Schiffes pechschwarz wurde. Es war ein Gespensterschiff. Gott hatte es verurteilt. Da zitterten die Menschen und liefen in die Kirche, um zu beten.

Das Schiff wurde in keinem Hafen mehr gesehen. Weder der Reeder noch die Verwandten erhielten je irgendwelche Nachricht, und man nahm an, das Schiff habe Schiffbruch erlitten. Nach vielen Jahren aber geschah es, dass in der Nähe des Kaps der Guten Hoffnung‘ an Backbord eines friedlich dahinsegelnden Schiffes plötzlich ein anderes Schiff auftauchte, mit blutroten Segeln und einem pechschwarzen Rumpf.

Dem alten Matrosen, der es als erster entdeckte, standen die Haare zu Berge, und er schrie laut auf. Das Schiff fuhr gegen den Wind. Es schoss vorbei, gegen den Wind! Es war keine lebende Seele an Deck. Nur ein großer, schwarzer Vogel flog um den Mast herum.

„Ein Gespensterschiff wollt ihr gesehen haben?“ lachte der Kapitän, als man ihn herbeiholte. „Ans Takelwerk mit euch! Es gibt keine Gespenster!“

Am nächsten Tag aber warf ein fliegender Sturm das Schiff auf die Felsen, wo es zersplitterte. Der alte Matrose, der das Geisterschiff zuerst gesehen hatte, war der einzige, der lebend an Land kam, und er war der erste, der über den „Fliegenden Holländer“ berichtete. Immer wieder tauchte das Gespensterschiff in der Nähe des Kaps der Guten Hoffnung auf, und wehe dem Schiff, dessen Weg es kreuzt, es muss untergehen.

Nur einmal ist einem Schiff nichts geschehen, dessen Weg es kreuzte, obgleich es schlimm genug aussah.

Es geschah wieder in der Nähe des Kaps der Guten Hoffnung. Das Wetter war herrlich und der Wind kräftig, ohne gefährlich zu sein. Das Schiff war auf dem Weg nach Java‘. Auf einmal tauchte an Backbordseite ein Segelschiff auf. Keiner hatte es kommen sehen. Es war ganz plötzlich da, und es fuhr gerade auf das Schiff zu. Die Besatzung schrie! Ein schreckliches Unglück musste geschehen!

Aber das Segelschiff schoss ruhig – es hatte blutrote Segel und einen pechschwarzen Rumpf – durch die Schiffswand, ohne Laut, ohne Krach, ohne Schaden durch das ganze Schiff hindurch und verschwand. Die Besatzung sah, wie der Kapitän erstarrt auf der Brücke stand, mit wehenden, weißen Haaren, bleich und fahl, mit Augenhöhlen ohne Augen drin. Und ein großer, schwarzer Vogel flog um den Mast herum.

„Das war der Fliegende Holländer“, wagte einer zu flüstern.
„Was wird uns geschehen!?“, jammerte ein anderer.
Aber es geschah nichts. Der gespenstische Zusammenstoß hatte wohl genügt.

Seitdem kreuzt der Fliegende Holländer das Meer. Man erzählt sich, dass der unglückliche Kapitän nur einmal alle sieben Jahre vor Anker gehen darf. Dann hört man auf der oder jener Reede eine Ankerkette rasseln, und eine hohle Stimme ruft: „Ich bringe Briefe!“ Ein Boot kommt unsichtbar angefahren. Man hört die Ruder, und eine Hand – man sieht immer nur eine Hand – reicht Briefe. Man sagt, der Seemann, der einen solchen Brief erhalte, müsse ihn sofort an den Mast nageln, sonst geschehe ein Unglück.

Ob der Fliegende Holländer je seine Ruhe finden wird? Oder hat er sie bereits gefunden? Denn heutzutage sieht keiner den Fliegenden Holländer mehr.

 

Aus der Märchensammlung von Wilhelm Hauffs (1802-1827), die nach seinem Tod als Hauffs Märchen 1825 bis 1828 erschienen.



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