Visionen für den täglichen Gebrauch – Von Manfred von Pentz

Nachdem unser lustiger und liebenswerter Pfaffe meiner Kindheit die folgende Story zum Besten gegeben hatte, grinste er verschmitzt, zwinkerte mit einem Auge und genehmigte sich sodann einen beträchtlichen Schluck Messwein.
Titelbild
VisionenFoto: Manfred von Pentz

Der eindrucksvollste Visionär meiner Kindheit war ein reicher Geldsack, dem eines guten Tages sozusagen aus heiterem Himmel ein Heiliger erschien und ihm empfahl, sein verderbliches Treiben sofort einzustellen, da andernfalls seine schwarze Seele funkenstiebend zur Hölle fahren würde.

Dies muss sich in einer wärmeren Gegend zugetragen haben, denn der Geldsack zog daraufhin in die Wüste, setzte sich auf einen Felsbrocken und lebte fortan von Tautropfen und gelegentlich vorüberfliegenden Insekten, die er chamäleongleich mit langer Zunge aufschnappte. Gerade das Letztere ist mir gut in Erinnerung geblieben, denn nachdem unser lustiger und liebenswerter Pfaffe die Story zum Besten gegeben hatte, grinste er verschmitzt, zwinkerte mit einem Auge und genehmigte sich sodann einen beträchtlichen Schluck Messwein.

Später hörte ich dann von anderen Menschen, denen ebenfalls himmlische Erscheinungen widerfahren waren, wie etwa Katherina von Siena, Franz von Assisi oder, in neuerer Zeit, Bernadette von Lourdes, und folgerte wie jeder einigermassen vernünftige Mensch, dass es sich hier um sublime Sinnestäuschungen exaltierter Persönlichkeiten gehandelt haben musste.

Dann kamen die glorreichen Siebziger, erste Joints machten die Runde, lange Haare und bunte Klamotten waren in, und für die Mutigen gab es ab und an eine Prise LSD. Meinen ersten Trip schluckte ich anlässslich eines gemeinsamen Kinobesuchs mit einigen Freunden. Schon leicht halluzinierend, steckte ich mir am Eingang die Taschen voll mit Schokolade und anderen Süssigkeiten, verstand sodann absolut nichts vom Film, starrte erschüttert auf die Form und Farbe wechselnden Schauspieler, bekam während einer ausgesprochen ernsten und wichtigen Szene einen nicht enden wollenden Lachanfall und wurde schliesslich unter wüsten Beschimpfungen des Publikums nach draussen getragen.

Schon damals wurde mir bald klar, dass Cannabis und LSD viel gefährlicher waren als gemeinhin vermutet, und nach einiger Zeit liess ich ab von dem unheimlichen Zeug und stieg für immer auf Rotwein um. Was mir allerdings blieb war die Vermutung, dass jene von himmlischen Visionen heimgesuchten Personen wissentlich oder unwissentlich irgendeine psychedelische Substanz zu sich genommen haben mussten, basierend vielleicht auf Mutterkorn oder Amanita muscaria, und so unter vollen Segeln in eine leuchtende Phantasmagorie gedriftet waren.

Viele Jahre später, während meines Sojourns in Italien, erklomm ich einmal den Monte Baldo. Er gehört zu den südlichen Ausläufern der Alpen, ist an die zweitausend Meter hoch und etwa dreissig Kilometer lang. Begrenzt durch das Etschtal im Osten und den Gardasee im Westen, hat dieser Berg im Laufe der Erdgeschichte eine Flora hervorgebracht, die nirgenwo anders zu finden ist. So wächst zum Beispiel an seinen Hängen ein kleines braunes Blümlein, das ganz himmlisch nach der allerfeinsten Schokolade duftet, sich geschmacklich jedoch nicht von einem gewöhnlichen Grashalm unterscheidet.

An einem schönen Tag im Spätsommer packte ich also Proviant und Schlafsack in einen leichten Rucksack und machte mich auf den Weg. Mit von der Partie war Oliver, ein englischer Cocker Spaniel, damals gerade zwei Jahre alt, der überglücklich die unerwartete Wanderung genoss und auf und ab rannte oder im weiten Bogen um mich herum hastete, bis ihm schliesslich die Zunge lang aus dem Halse hing und er eine langsamere Gangart einlegte. Gegen Nachmittag verzehrten wir einen Imbiss in einer Berghütte, und am frühen Abend fand ich weitab vom Wanderweg eine mit niedrigem Gesträuch bewachsene Erhebung, die einen atemberaubenden Blick auf den See tief unter mir und dahinter die bereits dunkle Po-Ebene ermöglichte.

Nach einem weiteren kleinen Imbiss und einem Schluck Wasser legte ich den Schlafsack auf ein weiches, grasbewachsenes Stück Erde und streckte mich darauf aus, dabei den Kopf auf einen Ellenbogen stützend, um so die Welt unter und über mir in Ruhe betrachten zu können. Die lange Wanderung samt Sonnenschein und frischer Bergluft hatten mein Gemüt und meine Gedanken auf das Angenehmste stimuliert, und als ich da lag und den gleissenden Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht vereinnahmte, überkam mich ein Gefühl frohgemuter Losgelöstheit von allem irdischen Trachten und Treiben.

Gerade da entfaltete sich vor meinen Augen ein leuchtendes Bildnis, das langsam Form annahm und schliesslich einen Grossteil des südlichen Firmaments bedeckte. Gehüllt in eine schneeweisse Robe mit vielen Falten, sass dort eine männliche Person, von der nur ein Knie und ein Arm als Teil des Torsos sichtbar waren, während der Rest des Körpers sich nach oben hin im Nachthimmel verlor und weiter unten vom Erdball bedeckt wurde. Auf dem Knie ruhte bewegungslos eine Hand, und an deren Mittelfinger schimmerte und funkelte ein Ring mit einem Edelstein so hell wie der Abendstern selbst.

Die Erscheinung strahlte eine stille aber unermessliche Intensität aus, welche seltsamerweise in meinem Innersten keinerlei Unruhe oder gar Furcht bewirkte, sondern mir ein Gefühl gab an etwas teilzuhaben, das weit über die Grenzen normaler menschlicher Wahrnehmung hinausreichte. Ich glaube nicht, während dieser kaum messbaren Zeitspanne einen logischen Gedankengang formuliert zu haben. Vielmehr schien mein Geist und meine Seele in einer schwerelosen Offenbarung gefangen, die mich und meinen Schöpfer zu einer alles umfassenden Einheit verschmolz.

Wie lange die Begegnung andauerte, kann ich nicht sagen, denke aber, dass sie nach einigen Minuten endete. Als ich, immer noch voll vom Erlebten, in meinen Schlafsack kroch und in den funkelnden Nachthimmel blickte, kam mir der Gedanke, das jene Menschen, denen eine Vision zuteil wurde, genau dasselbe erfahren haben mussten wie ich kurz zuvor, und dass es sich dabei nicht um eine imaginäre Schimäre handelte, sondern um eine überwältigende Realität, von der unser irdisches Bestehen nur ein ganz kleiner Teil sein konnte.

Die Webseiten von Manfred von Pentz:

http://der-deutsche-michel.net/
http://www.manfredvonpentz.net/

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Ein deutscher Held
Taschenbuch: 215 Seiten
Verlag: Independently published (11. August 2019)
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