„Das Gespräch am Jakobsbrunnen“ auf dem Weg zum ewigen Leben, zur Quelle des Seins

„Gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen“ (Joh. 4,15). Das ist die Bitte der samaritischen Frau an Jesus. Gastautor Roland Ropers enthüllt die tiefste Bedeutung dieser Begegnung am Jakobsbrunnen als Entwicklungsprozess, der immer noch von Bedeutung ist..
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Sieben Lichter, sieben Stufen auf dem Weg zum ICH BINFoto: iStock
Von 2. Dezember 2019

Das Johannes-Evangelium im Licht spiritueller Erfahrung: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Prolog des Johannes-Evangeliums) Der Schleier der Nicht-Erkenntnis (Sanskrit: Avidya) muss enthüllt werden, damit das Licht, die Erleuchtung, durchbrechen kann.

Die direkte, unmittelbare Gottes- oder Seins-Erfahrung ist keine paraphänomenale Angelegenheit, sondern kristallklarste Wirklichkeit, wo die Raum-Zeit-Bedingtheit (die phänomenale Welt) und die Raum-Zeit-Freiheit ungetrennt, ungeteilt als Nicht-Zweiheit (Sanskrit: Advaita) wahrgenommen werden.

Das 4. Kapitel des Johannes-Evangeliums: „Das Gespräch am Jakobsbrunnen“ liefert uns ein tieferes Verständnis für den Weg zum ewigen Leben, zur Quelle des Seins.

Es heißt, Jesus sei müde von der Reise gewesen, und er ruht am Brunnen aus, während seine Jünger in den Ort gehen, um etwas zum Essen zu kaufen. Er wird allein gelassen. Da kommt eine samaritische Frau; auch sie ist allein. Jesus sagt zu ihr: „Gib mir zu trinken!“ (Joh. 4,7). Sie pariert ihrerseits mit der Frage: „Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um Wasser bitten?“ (Joh. 4,9). Damit soll unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Schicht der Symbolik der handelnden Figuren gelenkt werden. Wenn die Juden beanspruchen, die wahre Lehre zu haben, während die Samariter dem Irrtum anhängen, wozu dann diese Frage? Sie ist jedenfalls in den Raum gestellt. Die Frau hat etwas zu geben.

Auch Jesus hat etwas zu geben und versetzt die Thematik auf die nächste Ebene: auf die Ebene der Gabe Gottes, des lebendigen Wassers, verbunden mit der Kenntnis dessen, der um einen Trunk bittet: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“(Joh. 4,10).

Sie begegnet ihm auf dieser Ebene und weist darauf hin, dass die Quelle des Wassers, der Brunnen, tief ist, und dass er kein Schöpfgefäß hat (Joh. 4,11-12). Wie kann er also anbieten, dieses lebendige Wasser zu schöpfen (und es ihr zu geben)? „Bis du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat?“ (Joh 4,12). Sie meint damit, ob Jesus etwas Besseres anzubieten habe, als dieser Brunnen liefert.

Der Brunnen Jakobs versinnbildlicht die Traditionen des Volkes, der Offenbarung, aus der sowohl Juden wie Samariter bisher gelebt haben. Und die Samariterin versteht Jesus so, dass er von sich behauptet, er könne diese ehrwürdige Offenbarungstradition überbieten. Und das Gespräch zwischen den beiden spitzt sich sehr rasch zu; ihre Fragen werden ihm zum „Schöpfgefäß“, und sie schöpft aus ihm das Wasser weiterer Offenbarungen.

Jesus ist für den Dialog gewappnet, denn er kennt die Quelle des Brunnens selbst. Die Quelle der Tradition genügt nicht (sonst wäre Jesus Jude geblieben und hätte nicht das jüdische Gesetz gebrochen); die Quelle weckt nur immer neuen Durst, was an sich nichts Schlechtes ist. Aber das Wasser, von dem er spricht, entspringt einer inneren Quelle, es wird im Menschen „zur sprudelnden Quelle, deren Wasser ewiges Leben schenkt“ (Joh 4,14). Daher ist es unnötig, nach Schöpfgefäßen zu fragen, um an dieses Wasser zu kommen: dieses Wasser sprudelt von allein empor.

Die samaritische Frau weiß genau, wovon die Rede ist, und sie ist ihrerseits bereit: „Gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen“ (Joh. 4,15). Das Geben beginnt damit, dass Jesus alle ihre bisherigen Gänge zum Brunnen ins rechte Licht rückt. Er deutet ihr lebenslanges Suchen „alles, was ich getan habe“ (Joh. 4,39) eindeutig als einen positiven Entwicklungsprozess. Lass uns zurückblicken und sehen, wo du heute stehst: „Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her!“ (Joh. 4,16). Woran hast du dich gebunden? Mit wem bist du derzeit verheiratet? Sie signalisiert ihre Bereitschaft; er ist bereit, ihr etwas zu geben. Sie kann die Antwort geben: „Ich habe keinen Mann.“ (Joh. 4,17). Ich bin mit nichts verheiratet. Ich bin frei und bereit, mich vorwärts zu bewegen. Ich kann von mir sagen, dass ich alles losgelassen habe – außer meinem ungelöschten Durst.

Jesus gibt ihr zur Antwort: „Du hast richtig gesagt. Ich habe keinen Mann.“ (Joh. 4,17). Du hast schon viele Anläufe gemacht, hast wieder aufgegeben oder bist darüber hinaus gewachsen. „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt.“ (Joh. 4,18).

Was bedeuten diese sechs Männer? Was wird damit symbolisiert? Jetzt muss endgültig klar sein, dass es hier nicht um eine wirkliche Frau geht und die sogenannten „Männer“ nicht eine Reihe tatsächlicher Männer sind. Die Frau am Jakobsbrunnen lässt sich unschwer – und für uns sehr hilfreich – als die suchende, dürstende Seele des Menschen (sein Geist, sein Herz, sein Bewusstsein) deuten. Ihre Männer sind dann ihre unterschiedlichen Lebenseinstellungen, Ziele, die sie sich gesteckt, Gesichtspunkte, unter denen sie die Wirklichkeit der Welt und den Sinn ihres Daseins betrachtet hat; kurz: alle ihre Anläufe, ihren „Durst“ zu stillen, alle ihre Versuche, genügend Wasser aus dem Brunnen des Lebens zu schöpfen. Man kann auch sagen, das seien ihre bisherigen Antworten auf die Fragen wie:

Was will ich? Was ist der wichtigste Wert im Leben? Wer bin ich?“

Sie hat es schon mit verschiedenen Antworten versucht. Sie hat sich einer Auffassung nach der anderen hingegeben, hat ihr Leben zuerst auf dieses, dann auf jenes Ideal gesetzt, und sie hat schließlich jedes wieder verworfen, oder es hat sich von allein überlebt. Aber all das war nicht nur ein fruchtloses Herumsuchen; sie ist dabei gewachsen. Sie hat es bereits mit fünf Ebenen menschlichen Wünschens versucht, ist aber noch nicht zur Ruhe gekommen; im Augenblick beschäftigt sie sich mit einer sechsten, aber sie ist weise genug zu wissen, dass auch diese noch nicht endgültig ist, und deshalb ist sie damit noch nicht „verheiratet“. Es muss noch ein siebter „Mann“ kommen: diese innere Quelle ewigen Lebens, auf die sie gewartet hat.

Wie sind diese Stufen des Lebens beschaffen? Was für Dinge „heiraten“ wir im Lauf unseres Lebens? Oder wie sehen unsere Vorstellungen davon aus, wer wir sind, was wir wollen und was der Sinn von allem ist? Es gibt viele Möglichkeiten, diese sieben „Männer“ zu deuten und zu umschreiben. Eine davon wäre – aus östlicher Sichtweise – sie mit den sieben Chakren in Parallele zu setzen. Auch die Bildersprache des Chakra verwendet für das letzte Ziel das Bild vom idealen Ehepartner, und dieses Ziel besteht darin, dass die fließende Energie der verkörperten Bewusstheit schließlich in die Stille (die Ewigkeit) der höchsten Bewusstheit mündet.

Der erste Mann steht für einen Lebensstil, den man in der englischen Sprache gelegentlich als „living to eat“ bezeichnet: leben, um zu essen. Das heißt, im Leben geht es nur um unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und Annehmlichkeit; als Ziele gelten ein gutes Einkommen, ein Haus, ein Auto, die neuesten Errungenschaften, kurz ein „schönes Leben“. Kommt die Seele mit ihren Fragen dahinter, dass dies ungenügend ist, trennt sie sich von diesem Lebensziel und hängt sich an ein anderes, das etwas weitere Perspektiven besitzt und weniger egozentrisch ist; dann regen sich die ersten kreativen Impulse.

Der zweite Mann steht für sexuelle Energie. Konkret kann sich das äußern in anregenden Beziehungen zu anderen Menschen, in etwas Aufregendem, etwas, das in Schwung und Bewegung versetzt. Für die meisten Menschen wird das heißen, dass sie eine Familie gründen und Stolz und Genugtuung darin empfinden, ihre Stammlinie fortzuführen, also Kinder in die Welt zu setzen und sich zu vermehren.

Der dritte Mann ist ehrgeiziger. Er steht für eine erhöhte Lebensenergie und eine weiter ausgreifende Kreativität. Das kann die Form einer erfolgreichen beruflichen Karriere annehmen, zur Gründung eines Unternehmens führen oder zu einer Führungsposition, was das Gefühl schenkt, ein Stück Welt, und sei es auch ziemlich klein, fest im Griff zu haben. Die Erfahrung, die die Seele mit der Macht und dem damit verbundenen Maß an Kreativität gemacht hat, kann in ihr soviel Energie wecken, dass sie eine weit befriedigendere Erfahrung der Kreativität entdeckt.

Diese kann sie dann machen, wenn sie ihren Energien eine ganz neue Richtung gibt: wenn sie aufhört, um sich selbst zu kreisen und sich stattdessen auf selbstlose Liebe (unconditional love) einlässt. Das ist ein großer Sprung; die Seele überschreitet dabei auf ihrer Lebensreise eine Art Rubikon; sie nimmt sich selbst aus der Mitte und wird weiter. Dieser Umschwung bedeutet eine derartige Revolution, dass man das Gefühl haben kann, endlich das einzig Wahre gefunden zu haben, den wahren Sinn des Lebens.

Diese vierte Ehe dann ist tiefer und ernsthafter, und die Seele begibt sich in sie bewusster und ganzheitlicher hinein.

Der fünfte Mann bedeutet die von einer transzendenten, heiligen Aura umgebene Kreativität. Das umschließt alles, was man als kreative Kunst von hoher und reiner Aspiration bezeichnen kann. Man kann tatsächlich mit seiner Kunst, seinem eigenen kreativen Werk „verheiratet“ sein und sich ihm mit Leib und Seele in einer Art heiliger Hingabe verschreiben; dabei spürt man, dass man geradezu an etwas Göttliches rührt, an einen geheimnisvollen Bereich, von etwas durchströmt, das größer ist als man selbst und das in einem selbst Gestalt annimmt. Man erfährt Inspiration, Schönheit und Offenbarung und gibt dem konkrete Gestalt in Formen, Farben, Tönen, Worten, Gesten und Taten.
Ein tiefes Leben mit diesem fünften Mann schafft tiefe Befriedigungen, die nicht von dieser Welt sind, und weitet die Fähigkeit der Seele für noch großartigere Erfahrungen. Das führt dazu, dass man angesichts der Grenzen der äußeren, materiellen Welt eine Art „heiliger Frustration“ erfährt. Das, was man im Tiefsten ausdrücken möchte, lässt sich nie angemessen durch das Medium der eigenen Kunst sagen. So wird man mehr und mehr nach innen gezogen, zur Quelle der Schönheit und Inspiration und Offenbarung in sich selbst, zur absoluten Schönheit, die die kanadische Ordensfrau und ZEN-Meisterin Sister Elaine McInnes als Gipfelpunkt der Erleuchtungserfahrung bezeichnet.

Der sechste Liebhaber – der immer noch nicht der endgültige „Mann“ ist – ist irgendeine Form des kontemplativen Lebens, das sich in der Einsamkeit des Geistes/Herzens abspielt, in intellektuellen Intuitionen und Wahrnehmungen, die schwer in Worte zu fassen sind. Das Bewusstsein hat sich bis zu dem Punkt verschärft, wo man weiß, was man weiß, was man nicht weiß, was man nicht wissen kann, was nicht „wissbar“ ist, und warum. Man durchschaut die Tücken der Anhänglichkeit und hat sich von ihnen frei gemacht („Ich habe keinen Mann“). Dieses Mal weiß man merkwürdigerweise zugleich, dass das noch nicht das Ende ist, obwohl man ihm jetzt schon ziemlich nahe gekommen ist.

Wenn die „Frau“ bis auf diese sechste Stufe der Entwicklung gelangt ist, ist sie inzwischen klarsichtig über das geworden, worum es geht. Sie weiß, dass sie das Absolute sucht – das absolute Sein, Gute, Wahre, Schöne. Alles relative Sein, Gute, Wahre oder Glück ist dafür zu wenig; alles, was sich mit anderem vergleichen lässt oder seinen Sinn aus etwas anderem Sinn als sich selbst bezieht, bleibt ungenügend. Daher weiß sie, dass sie es in ihrem eigenen Inneren suchen muss; alle äußeren Dinge sind relativ. Und folglich übersteigt das auch alle Bilder, die von jeglicher Religion oder spirituellen Systemen der Menschen gebraucht werden.

Ich möchte daran erinnern, dass zeitgleich mit dem „Tanz um das Goldene Kalb“ (wir erleben dieses Phänomen zur Zeit in Neuauflage) Gott auf dem Berg Sinai Moses die 10 Gebote übergab. Und gegen das 1. Gebot wird ständig verstoßen: „Du darfst dir kein Bild von Gott machen!“ Der Benediktinermönch und spirituelle Meister Bede Griffiths (1906-1993) hat sehr oft von der Missachtung dieses Gebotes gesprochen und hielt die Bilderverehrung und –anbetung für Götzendienst.

Die absolute Wirklichkeit liegt jenseits der eigenen, privaten Bilder, die wir uns aus dem Material unserer vielfältigen Erfahrungen und Forschungen gebildet haben. Die „Frau“ weiß, dass sie absolut frei von jeder Identifikation ihrer selbst mit irgend etwas bleiben muss; man kann nicht weiterhin an bestimmten Formen, Ideen und Verhaltensweisen festhalten und dabei erwarten, in den Himmel des Absoluten aufsteigen zu können. Aus diesem Grund lässt sich dieser sechste Zustand als der des „Alleinseins“ bezeichnen. Das alles weiß sie mit kristallener Klarheit. Und es wird von ihr in der Geschichte gesagt, sie sei zur Mittagszeit, also im hellsten Licht, aufgetreten. In diesem Licht weiß sie, dass das, was sie sucht, notwendigerweise jenseits von allem liegt, was man wissen kann. Es muss ein Daseinszustand sein. Als Jesus zu ihr sagt, das Wasser, nach dem es sie beide dürste, sei eine sprudelnde Quelle in einem selbst, die ewiges Leben schenke, weiß sie deshalb, dass er das weiß, und sie zieht es mittels ihrer Fragen aus ihm heraus.

Jeder Schritt auf eine höhere Ebene, hier das Bild von immer neuen „Männern“, ist auch der Schritt näher zur Quelle, denn die Seele tut diese Schritte dank der Traditionen ihres Volkes, in welcher Kultur sie lebt. Unsere samaritische Frau ist also eine fragende Seele, die bereit ist, ihren sechsten Mann zu verlassen und mit dem siebten und einzig wahren Ehegefährten eins zu werden.

Der „Übergang“ wird beschrieben als das Hinausgehen über Tradition und Kultur, als Verinnerlichung des Brunnens. Die Frau treibt das Dharma-Streitgespräch mit der direkten Frage nach den Traditionen ihres Volkes voran, worauf Jesus die Antwort gibt: „Die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.“ (Joh. 4,21). Das bedeutet: dann lassen wir alle diese Traditionen hinter uns. Das, worum es geht, liegt jenseits der Tradition irgendeiner bestimmten Kultur. Wenn du „den, den deine Seele liebt“ finden willst, musst du „an den Wächtern der Mauern vorübergehen“ (Hoheslied 3,4), also an allen Schutzwällen, die die kulturellen Überlieferungen aufgebaut haben, an allen Hilfsmitteln und Geräten, die dir zum Ausmalen deiner Bilder helfen; du musst direkt „im Geist und in der Wahrheit“ (Joh. 4,24) sein. Und die Frau fährt fort: „Ich weiß, dass der Messias kommt, das ist: der Gesalbte (Christus). Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden.“ (Joh. 4,25). Und darauf folgt die letzte Offenbarung, der Übergang auch noch von der höchsten Intuition zum tatsächlichen Sein im Geist und in der Wahrheit, indem Jesus spricht: „Ich bin es, ich, der mit dir spricht.“ (Joh. 4,26).

Das ist nun endlich der siebte Mann, und an diesem Punkt werden Mann und Frau endgültig eins. Sein ICH BIN ist kein anderes als ihr ICH BIN. Was schon die ganze Zeit zu ihr gesprochen hat, war ihr eigenes ICH BIN„Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte.“ (Hoheslied 6,3) – , das eine göttliche ICH BIN, der Geist und die Wahrheit. Sie/er ist „auferweckt“ worden am letzten Tag, am siebten Tag, am Sabbat-Tag der Vollendung und Erfüllung, an dem alles offenbar werden wird, alles, was die Seele jemals getan hat (vgl. Johannes 4,25 und 29), und dem alles im Kosmos und in der Psyche rekapituliert wird, indem der Mensch „dorthin hinaufsteigt, wo er vorher war“ (Joh. 6,62).

Die Frau hatte empfunden, dass Jesus ihr genau in dem Augenblick begegnet war, als sie bereit war. War das auch umgekehrt so? Hat auch er einerseits erfahren, dass sie ihm genau in dem Augenblick begegnet ist, in dem er bereit war?

Er ist müde und kommt zum Brunnen. Außerdem hat er großen Durst. Der Tag steht im Zenit. Er wartet. Und dann kommt sie, allein, im hellen Licht. Sie kommt mit ihren scharfen, bohrenden, zielsicheren Fragen, die ihm seine Antworten abzwingen, „was wirklich ist.“ Auf diese Weise löscht sie nicht nur seinen Durst, sondern stillt auch vollkommen seinen Hunger, so dass er nichts mehr zu essen braucht (Joh. 4,32). Er „weiß alles und braucht von niemandem gefragt zu werden“ (Joh. 16,30).

Jetzt können wir uns näher mit dem Geheimnis des wechselseitigen Gebens und Nehmens befassen und mit dem Bedürfnis, „die Gabe Gottes“ und den, „der zu ihr sagt: Gib mir zu trinken!“ (Joh. 4,10), zu erkennen. Der springende Punkt ist die Identität des Fragenden. Dieser Fragende wird der Empfangende sein. Wer/was in uns fragt nach lebendigem Wasser und lässt sich mit nichts Geringerem stillen? Die geheimnisvollen Gestalten dieser Geschichte vertauschen ihre Rollen: Sie muss ihn erkennen, ihn in sich selbst erkennen als ihr eigenes ICH BIN. Er muss sie erkennen, sie in sich selbst erkennen als seine eigene Sophia, die Weisheit.

Der Fragende ist direkt auf der Ebene des Seins in uns, das sich als ICH BIN erkennen wird, und die Gabe Gottes ist Sophia, der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit (Joh. 16,13), in dem Gott einzig angebetet wird (Joh. 4,24) durch das Sein. Nur ICH BIN ist das Absolute. Es kann weder gesehen noch gewusst werden. Der einzige Weg zu ihm besteht darin, es zu sein. Es muss der Fluss des Lebens in uns selbst sein, die unausschöpfliche Quelle. Das ist der siebte und wirkliche Mann, der Ehegemahl, mit dem man für immer vereint sein kann, und zwar deshalb, weil man schon immer eins mit ihm war. Er ist das eigene Leben, das eigene Dasein, das eigene Selbst. Er sagt es, spricht es aus seinem Schweigen heraus, und sie nimmt es wahr. Beide sind damit voll erfüllt und gesättigt.
Und genau in diesem Augenblick kommen seine Jünger zurück. Sie lässt ihren Wasserkrug stehen und eilt in den Ort zurück; sie braucht jetzt nicht mehr zur Quelle zu kommen. Und er braucht nicht mehr den Trunk, um den er sie gebeten hatte, denn sie hat das Wasser, das er braucht, aus ihm „hervorgelockt“; er braucht auch nicht die physische Nahrung, die seine Jünger mitgebracht haben, denn er lebt von einer ganz anderen Speise.

Anders als ein westlicher Mensch stellt ein östlicher Mensch nicht zuerst die Frage: „Was glaubst du?“, sondern ihn interessiert vor allem: „Welche Erfahrung machst du?“. Der Lieblingsspruch von Swami Vivekananda (1863 – 1902, Mitbegründer des 1. Parlaments der Weltreligionen 1893 in Chicago) lautete: „Wenn Gott wirklich ist, kann man ihn auch wahrnehmen.“

Die Erfahrung können wir als Ziel und die Glaubensüberzeugungen und Verhaltensweisen als die Mittel dazu betrachten. Man kann sich dabei auf Paulus berufen, der gesagt hat, an die Stelle des Glaubens würden das Wissen und das Schauen treten; die Hoffnung werde ersetzt durch Erfüllung, die Liebe dagegen bleibt für immer.

Der östliche Mensch spürt, dass – ist die Wahrnehmung Gottes das Ziel – er möglichst alle seine Vorstellungen, Gefühle und Praktiken aufgeben soll, die ihn auf fixe Merkmale seines Selbstverständnisses festlegen. Ein ernsthaft Übender muss alles, was ihn von Gott und anderen Menschen trennen könnte, auch Kaste und Kult hinter sich lassen. Das ist genau das Gegenteil der westlichen Vorstellung, dass jeder wichtige religiöse Akt treu in eine bestimmte Gemeinschaft eingebunden sein muss, die sich von anderen, nämlich den Außenstehenden und Ungläubigen, abgesetzt hat.

Christen feiern ihren Gottesdienst nicht gemeinsam mit anderen Christen, wenn diese nicht ihrer eigenen Konfession angehören. Das wird von ihnen keineswegs als sündhafte Schwäche empfunden, sondern sogar als pflichtgemäße und besonders gläubige Praxis, also als höchst religiöses Verhalten. In diesem Trennung schaffenden Verständnis sind die meisten von uns erzogen worden und leben weiter so.

Was wir vom Osten lernen können, ist, diese Haltung der Abtrennung gründlich zu überdenken. Wenn es im Wesentlichen um das Einswerden mit Gott geht, sagt der Osten, dann ist es von zweitrangiger Bedeutung, wie man so weit kommt. Verlegt man das Gewicht jedoch auf die Frage nach dem Wie und besteht man darauf, dass der eigene Weg der einzig richtige sei, dann kommt vom wirklich vorrangigen Wert und der höchsten Wirklichkeit ab.

Aus dem Buchkapitel: „Stufen des Bewusstseins“

Roland Ropers: Zukunft: Mystik
Verlag:  Topos plus, ISBN-10: 3836700468
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Der Autor Roland Ropers ist Kultur- & Sprachphilosoph,  Coaching for Original Source Consciousness, Begründer der Etymosophie

 

 



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