Interview mit Matthias Matussek: „Zum Leben gehören auch Schmerz und Leiden“

Der Journalist und mehrfache Bestsellerautor Matthias Matussek (68) hat sich intensiv mit aktiver Sterbehilfe auseinandergesetzt. Im Interview mit der Epoch Times berichtet er von seinen Erfahrungen mit dem Thema Tod und wovor er Angst hat.
Matthias Matussek
Matthias Matussek bei Schwarmintelligenz 2019 in Berlin.Foto: Epoch Times
Epoch Times8. Juli 2022

Die Begegnung mit einer 78-jährigen Sterberechtsaktivistin namens Jaqueline in Paris brachte Matthias Matussek dazu, seine Einstellung zum Sterben und zum Tod genauer zu untersuchen. „Ich wünsche mir, dass mich in der letzten Stunde mein Gottvertrauen nicht verlässt“, erzählt er im Interview und gesteht einen eigenen Suizidversuch in jungen Jahren ein. Sein Appell: „Das Erleben des natürlichen Todes ist eine wichtige Erfahrung“.

Herr Matussek, was hat sie bewogen, eine Reportage zum Thema Sterbehilfe zu verfassen?

Ich finde, das berührt einen Nerv in unserer todessüchtigen Gesellschaft. In diesem Zusammenhang denke ich da zum Beispiel an Gruppen wie die selbsterklärte „Letzte Generation“. Es existiert zudem diese Furcht vor dem nahen Tod. Die Zeichen stehen in diesem Sinne auf: Wir verabschieden uns. Wir verabschieden uns ja auch als Volk. Wir und unsere Politik sprechen kaum noch von einem Volk oder von den Deutschen. Wir haben ja unsere Kanzlerin erlebt. Sie sagte diejenigen, die schon länger hier leben, sind das Volk. Wir sind als Deutsche tatsächlich dabei, uns zu verabschieden.

Dann kam diese Aufforderung von Jaqueline, einer alten Freundin. Sie wollte gemeinsam mit mir ein Buch über den assistierten Suizid schreiben. Daher fuhr ich zu ihr nach Paris, um sie zu besuchen. Nun bin ich mittlerweile auch im fortgeschrittenen Alter und setze mich mit den Fragen des Lebensendes auseinander.

Meine Eltern sind jetzt beide tot. Ich habe meine Mutter beim Sterben begleitet. Zudem habe ich in meiner Generation einige gehabt, die früh gestorben sind, weil sie sich eine Überdosis gegeben haben. Ich komme ja aus diesem eher linken und hippiehaften, hedonistischen Milieu (Lust steht im Zentrum des Tuns – Schmerz und Leid werden gemieden).

Unsere Generation, die Babyboomer, die verabschiedet sich jetzt so langsam und muss den Ernst des Lebens ins Auge fassen. Dazu gehört eben auch der Tod. Wir wissen nicht, wann der Tod kommen wird, das liegt in Gottes Hand. Ich bin dagegen, Gott in den Instrumentenkasten zu greifen. Ich glaube, dass das Erleben des natürlichen Todes eine wichtige Erfahrung ist. Für Schopenhauer ist das hohe Alter die Krönung des Lebens.

Ich glaube, wir gehen zu sorglos mit den Fragen des Lebens und des Todes um. Damit hängt natürlich auch unsere Einstellung zur Abtreibung zusammen. Uns macht es offenbar nichts aus, eine kommende Generation auf diese Weise schon im Mutterleib zu ermorden.

Wir haben ein großes demografisches Problem. Ich sehe unsere Gesellschaft in den letzten Atemzügen – auch meine Generationsgenossen. Das Thema Tod drängt sich mir auf und lässt sich nicht so leicht zur Seite schieben. Deshalb habe ich diese Reportage geschrieben. Einfach auch, um mich selber zu überprüfen und meine Einstellung zum Sterben und zum Tod noch mal genauer zu untersuchen.

In ihren Ausführungen fällt die Formulierung „Freier Tod für freie Bürger“. Was meinen Sie damit?

Das war eine sehr sarkastische Formulierung in einem „Spiegel“-Artikel als Reaktion auf das, was die Holländer machen. Der Artikel hat den skandalösen Vorgang, dass in Holland teilweise auch ohne Zustimmung des Klienten oder Patienten der Tod verfügt werden darf, beleuchtet.

Das führte dazu, dass die Leute in den Niederlanden eine Credo-Plakette in der Tasche tragen. Auf ihr steht: „Nicht Tod machen. Ich will nicht getötet werden.“ So weit sind wir schon. Wir sind sozusagen in dem Gefühl, wir seien die Herren über Leben und Tod. Wir haben ein sehr instrumentelles Verhältnis zu unserem Leben. Das Leben lohnt sich für viele nur, wenn es glücklich ist.

Aber zum Leben gehören auch Schmerz und Leiden. Ich zitiere dazu gerne den Viktor Frankl, der die härtesten Erlebnisse überhaupt gemacht hat. Er war nämlich in Auschwitz und in verschiedenen anderen Konzentrationslagern.

Er sagte, dass es selbst in äußerster Bedrängnis noch immer die Möglichkeit gibt, die Würde und das Leben in einer positiven Form zu erhalten – sich für das Leben zu entscheiden. Das finde ich sehr beeindruckend. Wir gehen in unserer Gesellschaft zu fahrlässig mit Leben und Tod um.

In Ihrer Reportage werfen Sie die Frage auf: „Ist der Tod wirklich frei und gibt es einen Heldentod?“ Wie denken sie darüber?

Meine Freundin Jaqueline, Präsidentin der Organisation „Für das Recht auf den eigenen Tod in Würde“, sah sich wohl als Heldin. Sie folgte selbstbestimmt und aufrecht einem antiken Muster, den der Epikureer und antiken Stoiker folgend. Das Leben ist sozusagen ein Geschenk und Wunder, solange es Spaß macht, und wenn es nicht mehr Spaß macht, ist es nicht mehr lebenswert.

Sie sieht in sich selbst die Verkörperung dieses antiken Ideals des selbstbestimmten Menschen, der sich dann auch selbstbestimmt aus dem Leben verabschiedet. Seneca wird oft als der Star der Selbstmörder genannt. Aber man darf nicht vergessen, Seneca hat sich die Pulsadern geöffnet, weil Nero als Kaiser und ehemaliger Schüler Senecas es befohlen hat. Nero bezichtigte Seneca, seinen einstigen Lehrer und Freund, des Hochverrats und verurteilte ihn zum Selbstmord.

Seneca hat vorher darüber philosophiert, dass es nicht schlimm sei, aus dem Leben zu scheiden, mit dem Verständnis, dass der Tod auch der Überwindung der Mortalität des Stofflichen dient. Jacqueline, diese Freundin, hat sich hingegen da verrannt und auch irgendwie philosophisch und lebensphilosophisch verheddert. Man kann ja nie in einen Menschen, gerade bei dieser letzten Entscheidung hineinschauen.

Diese Frau war vor ihrem Suizid mit ihnen zusammen in Paris in einer Kirche. Glaubte sie daran, dass es nach dem Tod weitergeht und es noch etwas Höheres als sich selbst gibt?

Ja, vielleicht hat sie irgendwie gespürt, dass es doch etwas gibt, was über unsere körperliche Existenz hinausgeht. Irgendwas muss sie da gespürt haben. Sie hat gesagt, dass es ihre Lieblingskirche sei und dass sie öfter dort hingeht. Aber trotzdem war kein Funke Hoffnung an ein Jenseits in ihr. Sie sagte, das ist alles „bullshit“, das ist alles „Affenkram“. Da glaubt sie nicht dran.

Aber trotzdem ging der Schwung des Lebens bei ihr über die Grenze des Lebens hinaus. In den sozialen Netzwerken kurz vor ihrem Suizid hinterließ sie einen Beitrag, wo sie von ihrer „Seele“ sprach. „Ich werde euch immer in meiner Seele tragen“, heißt es dort. Ja, und das ist das Erstaunliche bei ihr.

Mit sehr großer Offenheit haben Sie ja über ihren eigenen Suizidversuch damals mit 20 Jahren in Berlin gesprochen. In welchem Kontext fand dieser statt?

Ich war jung und unglücklich verliebt und habe wahrscheinlich auch zu viele Drogen genommen. Die Geliebte verließ mich und das brach mir das Herz. Ich hatte keine Lust mehr. Vielleicht war auch was Romantisches mit dabei. Auf jeden Fall nahm ich Valium und eine Menge Wodka zu mir. Ich bin dann mit einer Zigarette eingepennt und nach zwei Tagen im Krankenhaus aufgewacht. Eine Bekannte hatte mich in der Wohnung gefunden. Ich bin so froh, dass ich gerettet wurde.

Ich kann nur sagen, dass das Leben, das mir danach geschenkt wurde, so voller Wunder und voller Schönheit gewesen ist. Da kann ich mich nur bedanken. Jeden Abend sage ich Dankeschön für dieses Leben. Die Freundin Jaqueline war nur zehn Jahre älter als ich. Ich weiß nicht, wie ich mit 78 Jahren denke, wenn bei mir alles auseinanderfällt. Noch habe ich gut reden.

Aber dennoch käme jetzt ein Suizid für mich nie wieder infrage. Einfach, weil ich es auch für eine Ungehörigkeit dem Schöpfer gegenüber halte. Nein, das Leiden gehört zum Leben dazu. Das ist die Lebenserfahrung, die ich gemacht habe. Eine andere Erfahrung ist, dass du immer, wenn du hinfällst, auch wieder aufstehen kannst. Der Glaube hilft natürlich. Das Leben ist ein Geschenk.

Gab es ein Schlüsselerlebnis, durch das Sie zum Glauben fanden?

Ich war immer gläubig – unsere ganze Familie war gläubig. Ich hatte eine ganz katholische Familie. Mein Vater wollte eigentlich Priester werden und hat dann – Gott sei Dank – einen Beichtvater gehabt, dem er sich anvertraut hat, nachdem er meine Mutter kennenlernte und es Schwierigkeiten mit dem Priesterseminar gab. Beichtvater Joseph sagte meinem Vater, dass er auch außerhalb der Kirche wirken kann. Mein Vater wurde dann ein leidenschaftlicher Kommunalpolitiker, der sich sehr für Familien einsetzte.

Ich beschäftige mich sehr viel mit Familien, mit Zusammenhalt, mit unserer Nation und mit dem Glauben. Vielleicht hängt das auch mit meinem Vater zusammen. Da trage ich eine Schuld meinem Vater gegenüber ab. Das sind die Dinge, die er sehr früh in meiner Kindheit verankert hat. Das habe ich meinem Vater zu verdanken. Es war keine plötzliche Epiphanie (Erscheinung einer Gottheit), die mich zum Glauben führte.

Allerdings war ich tatsächlich eine Zeit lang vom Glauben abgefallen. So mit 16, 17 Jahren dachte ich, ich muss als Maoist das Paradies auf Erden erwirken. Zur Sicherheit habe ich aber die Madonna von zu Hause mitgenommen. Die hing dann bei mir neben einem Plakat von Karl Marx. Wenn der Marxismus nicht funktioniert, dann funktioniert vielleicht die Madonna, dachte ich.

Auf den Punkt gebracht: Ich war nie nicht-religiös. Ich hatte immer eine Sehnsucht über mich hinaus gehabt. Ich habe immer irgendwas gehabt, was mich getrieben, über mich selbst hinausgetrieben hat. Mir gelingt es nicht, nicht zu glauben. Für mich ist klar: Es gibt etwas über das Weltliche hinaus. Transzendenz ist tief in meinem Leben angelegt. Deshalb könnte ich eigentlich mit einer größeren Gelassenheit die heutigen politischen Debatten betrachten.

Was bringt Ihnen der Glaube im Leben?

Der Glauben nordet mich ein. Der Glauben gibt mir Halt. „Wohin sollen wir uns wenden? Wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ Das ist diese Verheißung. Sie strahlt in mein Leben rein. Auch wenn ich manchmal Zweifel habe – Glaubenszweifel.

In Ihren Büchern reiben Sie sich an bestimmten gesellschaftlichen Zuständen. Sie streiten, sie kritisieren, sie lehnen ab. Auf der anderen Seite findet auch der Versuch einer Vermittlung, ein Nahebringen, ein Erklären statt. Kann man diese Bücher an Umbrüchen in ihrem Leben festmachen? Was waren letztendlich die Auslöser, ihre Gedanken zu verschriftlichen?

Beim Buch „Die vaterlose Gesellschaft“ gab es tatsächlich einen Umbruch. Dieses Buch war der Anfang der polemischen Bücher, die ich schrieb. Auslöser war, dass ich Männer im Hungerstreik vor dem Amtsgericht in Kreuzberg sah, weil sie ihre Kinder nach einer Scheidung nicht sehen durften. Da dachte ich, Oh Gott, da läuft irgendwas falsch, wenn Väter aus der Familie entfernt werden. Ich habe dann das Buch „Die vaterlose Gesellschaft“ geschrieben, das auch eine Anklage an die feministische Scheidungsindustrie war.

Denn in den meisten Fällen wird der Mutter das Sorgerecht zugesprochen. Der Vater darf zahlen und wird als Zahldepp aus der Familie, die ihn zu hassen beginnt, entfernt. Das erhöht die Suizidalität von Männern gewaltig.

Später interviewte ich Harrison Ford, der eine Stiftung für obdachlose Männer gründete. Dabei ging es um Männer, die aus dem Familienkreis rausgeflogen sind und auf der Straße landeten. Das war ein sehr interessantes Gespräch. Männer haben, was die Familienpolitik angeht, keine guten Karten.

Beim Deutschlandbuch waren es die zwölf Jahre journalistischer Auslandstätigkeit für den „Spiegel“, die mich feststellen ließen, dass nur die Deutschen Schwierigkeiten mit Deutschland haben. Die Brasilianer, die Amerikaner, die Engländer finden Deutschland ziemlich dufte. Die Brasilianer finden uns dufte, weil man hier nicht an der Ampel mit einer Knarre bedroht wird.

In New York schätzen sie die Deutschen für ihre Kultur und Opern. In London finden sie die Deutschen in einer Art Hassliebe zwischen Pickelhaube und Fußball dufte. Deshalb wollte ich den Deutschen mal sagen, warum die anderen uns gernhaben. Dabei habe ich eine Menge Gründe gefunden, warum andere Völker und andere Nationen uns gernhaben können. Es war auch ein polemisches Werk. 

Das Buch „Das katholische Abenteuer“ habe ich geschrieben, als klar wurde, dass Papst Benedikt einen neuen Kurs einschlägt, dass er unter Feuer gerät, dass überhaupt die katholische Kirche unter Feuer steht. Das war für mich wie ein Signal. Wenn mein Verein angegriffen wird, dann gehe ich da in die Vollen und dann verteidige ich den. Das ist so ein sportlicher Ehrgeiz. 

Immer gab es Schlüsselmomente. Im Übrigen bin ich am besten, wenn ich mich ärgere oder wenn ich betriebsbedingt Temperatur habe. Dieses Väterbuch habe ich innerhalb von 14 Tagen geschrieben und das war wirklich ein Schnellschuss. Die anderen haben ein bisschen länger gedauert. Aber ich glaube, das ist mein Temperament. Wenn ich auf Touren komme, dann ist das am besten.

Was bedeutet für Sie der Tod?

Ich hoffe, dass der Tod der Übergang in eine Ewigkeit ist, die ich in Gott und mit Gottes Liebe erlebe. Er ist natürlich erst mal das weltliche Ende. Der Tod bedeutet, sich aus der Welt zu verabschieden. Das ist keine leichte Sache. Es ist auf jeden Fall die Prüfung, die auf mich noch zukommt. Mein Vater sprach immer von seiner Abschlussprüfung, wenn von seinem Sterben die Rede war. Wie er mit dem Tod umgegangen ist, war einfach großartig. In die Richtung geht das bei mir auch.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Ja, habe ich. Viele sagen, sie hätten in Verbindung mit dem Tod Angst vor Schmerzen. Ich weiß nicht, ob ich leiden werde, ob ich Schmerzen haben werde. Ich wünsche mir, dass mich in der letzten Stunde mein Gottvertrauen nicht verlässt, sondern dass ich mit einer Neugier über diese Schwelle gehe.

Was ist die Essenz für Sie aus Ihrem bewegten Leben?

Das Merkwürdige ist, dass ich ein zutiefst positiver, ein fröhlicher Mensch bin. Ich lache gerne. Ja, ich ärgere mich über vieles wahnsinnig. Aber die Essenz meines Lebens ist tatsächlich, dass es immer weiter geht, und das ist toll. Der Morgen wird noch besser als jetzt. Ich bin gefeuert worden. Ich habe Shitstorms ertragen müssen und trotzdem ist in mir irgendwie eine zutiefst lebensbejahende Kraft. Ich sage sehr oft „Danke“ und freue mich über mein Leben.

Das Interview führte Erik Rusch.

Matthias Matussek (1954) arbeitete als Journalist und teils auch in leitender Funktion für „Stern“, „Spiegel“ und „Welt“. Als Korrespondent und Reporter war er in New York, Berlin, Rio de Janeiro und London tätig. Sein Buch „Die Vaterlose Gesellschaft“ löste 1998 unter den Feministen einen Sturm der Entrüstung aus. Aktuell schreibt er als freier Autor für die „Weltwoche“ und den „Focus“.

Der Journalist und mehrfache Bestsellerautor Matthias Matussek. Foto: privat

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 52, vom 9. Juli 2022.



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