Svjatoslav Richter „Der Unbeugsame“ – zum 100. Geburtstag des russischen Pianisten

Titelbild
Svjatoslav Richter im Juli 1992 beim Internationalen Kreuther Musikfestival. Eines der wenigen Bilder, die Richter lächelnd zeigen.Foto: Roland R. Ropers
Von 19. März 2015

Zum 100 Geburtstag von Svjatoslav Richter, Pianist (Jitomir/Ukraine, 20. März 1915 – Moskau, 1. Oktober 1997), bringen wir eine Würdigung des russischen Jahrhundertpianisten von Roland R. Ropers, der Richter mehrfach begegnet ist.

Svjatoslav Teofilowitsch Richter wurde am 20. März 1915 in Jitomir/ Ukraine geboren und verbrachte seine Jugend in Odessa. Er wuchs zwei sprachig auf, russisch und deutsch. Sein Vater, der aus Deutschland kam und an der Wiener Musikakademie Klavier und Komposition studiert hatte, lehrte am Konservatorium von Odessa. Der Vater gab Svjatoslav Klavierunterricht, und abends durfte der Junge an den privaten Konzerten im Hause seiner Eltern teilhaben.

Ohne eine Musikschule beendet zu haben, wurde das jugendliche Musiktalent als Korrepetitor bei der Oper angestellt, wo er mit Sängern Partituren einübte; nebenher spielte er wie ein Besessener Klavier. Mit 19 Jahren gab er seinen ersten Klavierabend in Odessa; der Chefdirigent der Oper war von dem Talent des jungen Mannes begeistert und schlug ihm vor, Dirigent zu werden. Davon träumte auch der junge Richter. Da er eine solide Ausbildung erhalten wollte, ging er nach Moskau.

Neuhaus, ein begnadeter Lehrer für Pianisten

In der Hauptstadt lehrte der bekannte Professor und Pianist deutscher Abstammung, Heinrich Gustafowitsch Neuhaus, am Konservatorium Klavier. Richter wusste, dass er nie Karriere als Pianist machen würde, wenn er nicht die Meisterklasse von Neuhaus besuchte.

Das geniale, leider längst vergriffene Lehrbuch von Heinrich Neuhaus „Die Kunst des Klavierspiels“ studiere  ich immer wieder mit größter Ehrfurcht. In seinem Vorwort schreibt Neuhaus u.a.: Kennzeichnend für die Meisterschaft in der Arbeit, im Erlernen eines Werkes, als ein sicheres Kriterium der durch den Pianisten erreichten Reife, ist die Geradlinigkeit und die Fähigkeit, keine Zeit zu vergeuden. Je mehr an diesem Prozess Wille (Zielstrebigkeit) und Aufmerksamkeit beteiligt sind, umso eindrucksvoller ist das Ergebnis.“

Richter schreibt als Vorspann in seiner sehr künstlerischen Handschrift: „Ich begrüße mit großer Freude die deutsche Übersetzung des Buches von Heinrich Neuhaus, dem einmaligen genialen Künstler, meinem großen Lehrer und Freund, und wünsche allen, die daraus profitieren wollen, viel Erfolg.“ (Musikverlag Hans Gerig, Köln 1967).

Man muss wissen, dass Heinrich Neuhaus (1888 – 1964) ein herausragender Pianist war, der seine erfolgreiche Konzertlaufbahn aufgegeben hatte, um als Lehrer seinen Schülern zu dienen. Das ist uns heute leider verloren gegangen. Neben Richter gehörten Emil Gilels (1916 – 1985) und Radu Lupu (1945 -) zu den später bekannten Schülern von Neuhaus.

Ein Lehrer lernt von seinem Schüler

Als Svjatoslav Richter aus der Provinz nach Moskau kam, wollte Professor Neuhaus den jungen Mann erst gar nicht anhören. Seine Studenten, die Richter schon hatten spielen hören, versuchten Neuhaus zu überreden, ihn vorspielen zu lassen. Als Neuhaus erfuhr, dass Richter keine Musikschule absolviert hatte, wurde er noch skeptischer. Schließlich hörte er ihn doch an.

Als Richter nur einige Minuten gespielt hatte, war der Professor begeistert und flüsterte einer Studentin ins Ohr: „Ich finde, er ist ein genialer Musiker.“ Nachdem Richter schon lange sein Schüler war, sagte Neuhaus: „Bis zum Ende meiner Tage werde ich von Svjatoslav Richters Spiel nicht nur begeistert sein, sondern werde auch immer bei ihm lernen.“

Richters Klavierspiel ergriff den Lehrer so sehr, dass er nach dessen Konzerten nachts kaum Schlaf finden konnte.

Unmittelbar nach Kriegsende nahm Richter auf den Rat von Neuhaus hin am ersten sowjetischen Pianisten Wettbewerb teil, obwohl er eigentlich gegen Wettbewerbe war, und gewann. Richter wurde sehr schnell zum gefragtesten Pianisten nicht nur in seiner Heimat, sondern in der ganzen Welt. Er konzertierte später in China, Japan, den USA, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, England, Kanada. Überall erhielt er begeisterte Kritiken, man nannte ihn ein Genie, einen Titanen, ein Phänomen.

Familienschicksal und der Weg zur Weltkarriere

Sein Vater wurde im Jahr 1937 im Rahmen der „stalinistischen Säuberungen“ inhaftiert und1941 als angeblich deutscher Spion erschossen. Seine Mutter heiratete den Bruder ihres verstorbenen Mannes und zog nach Stuttgart. Svjatoslav Richter wähnte seine Mutter als verschollen. Erst am 26. Dezember 1960 (er war fast 46 Jahre alt) sah er sie nach einem Konzert in der New Yorker Carnegie Hall erstmals wieder.

Svjatoslav Richter hatte ein Repertoire, das die gesamte Klassik von Bach über Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Chopin, Brahms bis Schostakowitsch umfasst. Er hat diverse Werke von Benjamin Britten, die ihm gewidmet waren, uraufgeführt. Er war ein Mensch, der die Öffentlichkeit scheute. Richter hat immer sehr viel gespielt und studierte neue Programme in kürzester Zeit ein. Er gab Ende der 1960-er Jahre zu, über 80 mögliche Klavierabende mit jeweils unterschiedlichem Programm zu verfügen.

Er hat es leider stets kategorisch abgelehnt, zu unterrichten. Dazu fühlte er sich nicht befähigt. Noch im hohen Alter von 70 Jahren übte er lieber selbst, niemals unter sieben bis acht Stunden täglich! Er fühlte sich schuldig, wenn er einen Tag nicht geübt hatte.

Als Richter im Spätherbst 1960 seine 10-wöchige USA-Tournee begann, war er mit der Hypothek beladen, seinen Ruf als erster Pianist der Welt vor einem anspruchsvollen, kenntnisreichen Publikum, verteidigen zu müssen. Emil Gilels war bereits fünf  Jahre zuvor erstmals in den USA aufgetreten.

Der künstlerische Eindruck, den Richter nach über 20 Konzerten in den Vereinigten Staaten hinterlassen hatte, der poetische Geist und die technische Kühnheit seines Spiels, fasste die sonst eher zurückhaltende NEW YORK TIMES in dem euphorischen Satz zusammen: Wenn er in der richtigen Stimmung ist, hat er keinen Konkurrenten unter den Pianisten seiner Generation.“ Dies schrieb der gefürchtetste Musikkritiker der USA, Harald C. Schonberg (1915 – 2003), ein wirklich kompetenter Kenner. Sein Buch Die großen Pianisten, ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis, ist leider seit Jahren vergriffen.

Der 45-jährige Richter spielte damals u.a. in der Carnegie Hall Beethovens Sonate f-moll op. 57Appassionata“, die damals als Sensation aufgenommen wurde. Richter selbst war mit dieser Interpretation gar nicht so glücklich, wie er mir persönlich sagte. Er schenkte mir einen Live-Mitschnitt der „Appassionata“ vom 21. Dezember 1959 in Moskau, die bis zu seinem Lebensende seine Lieblingseinspielung war.

Unter Leonard Bernstein hat er nur ein einziges Mal gespielt: das b-moll-Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky. Er sprach von einem ständigen Wettrennen, zu dem er wenig Lust hatte.

Herbert von Karajan konnte er wegen dessen Eitelkeit nicht ertragen. Er berichtete mir en détail von der legendären Aufnahme aus dem Jahr 1969 von Beethovens Triple-KonzertDavid Oistrach, Violine – Mstislaw Rostropovitch, Cello – Svjatoslav Richter, Klavier. Karajan hatte kaum zum Proben Zeit, weil er mit Fotoaufnahmen seiner Person vorrangig beschäftigt war.

Svjatoslav Richter mit Rose im Juli 1992 beim  Internationalen Kreuther Musikfestival. Eines der wenigen Bilder, die Richter lächelnd zeigen.Svjatoslav Richter mit Rose im Juli 1992 beim Internationalen Kreuther Musikfestival. Eines der wenigen Bilder, die Richter lächelnd zeigen.Foto: Roland R. Ropers

Begegnung in Deutschland

Im Rahmen des Internationalen Kreuther Musikfestivals, an dem wir einige Jahre aktiv unterstützend mitgewirkt haben, gastierte in den Jahren 1992 – 94 auch Svjatoslav Richter. Er kam stets in Begleitung seiner liebenswerten Frau Nina Dorliac (1908 – 1998), einer berühmten Gesangspädagogin, die einem jüdischen Elternhaus aus Petersburg entstammte. Sie war um einige Jahre älter als ihr Mann, wirkte aber wesentlich jünger und dynamischer. Richter musste sich im Jahre 1989 in der Schweiz zwei schweren Herzoperationen unterziehen und nahm täglich eine Fülle von diversen Tabletten.

Mit seiner Frau sprach er in unserem Beisein deutsch; beide redeten sich mit „Sie“, der alten russischen Anredeform, an. Er dachte stets geradezu ungeduldig ans Üben und hatte zum Essen kaum Ruhe. Er wirkte in vielen Äußerungen sehr depressiv, und ein Lächeln war ihm kaum abzuringen. In dem wunderschönen Film über Yehudi Menuhins Leben (anlässlich seines 80. Geburtstages 1996) berichtet der große Geiger und Musiker auch über seine enttäuschende Begegnung mit Svjatoslav Richter, der keinen Sinn für Humor hatte und zum Lachen nicht zu bewegen war.

In einem unserer Tischgespräche fragte ich ihn, wer für ihn der größte und wichtigste Komponist sei, und er antwortete spontan: „Wagner!“

Schmuck wollte er nicht

Die großen Konzertsäle mit 2.000 – 3.000 Plätzen waren nicht seine Welt. Er sagte immer, dass er maximal in einem Récital nicht mehr als 40 kundige Zuhörer erreiche. Wenn er auftrat, dann verwandelte sich jeder Konzertsaal in eine mystische Kultstätte. Schmuck wollte er nicht; Licht nur so viel, wie es nötig war, um die Tastatur eines Flügels zu beleuchten. Die schlichte Stehlampe aus einem alten Wohnzimmer brachte ihn und uns in Stimmung. Wer Richter hören durfte, der brauchte auch kein Licht, musste nicht im Programmheft Dramaturgen-Erklärungen lesen. Richter legte die Strukturen mit seinem Spiel offen. Von Bach bis Prokofiev, ob Beethoven oder Schubert, dieser begnadete Musiker zauberte aus seinem Instrument die zartesten Töne, die beliebtesten Melodien und trotzigsten Akkorde. Seine Musik sprach, auch für den Nichtfachmann verständlich.

Er erzählte mir persönlich die bewegende Geschichte, dass er seine Mutter, die in Stuttgart lebte, Jahrzehnte lang nicht gesehen hatte und dass sie plötzlich nach seinem legendären Auftritt in der Carnegie Hall am 26. Dezember 1960 in seinem Künstlerzimmer stand. Die damals schwer herzkranke Dame erkannte er nicht sofort. Sie sagte dann: „Ich bin Deine Mutter!“ Natürlich war das für ihn ein erschütterndes Erlebnis.

Ein Konzertabend in Tokyo in den 1980er-Jahren wurde für ihn zum traumatischen Erlebnis. Richter war berühmt für sein phänomenales Gedächtnis und musste das Konzert plötzlich abbrechen. Die Gage der damaligen Japan-Tournee war zur Finanzierung seines schwer alkoholkranken Neffen gedacht. Und während des Konzerts dachte er an das Elend seines Lieblingsneffen und verlor augenblicklich die Kontrolle. Seit jenem Abend spielte er nur noch nach Noten.

Die letzten Jahre

Am Sonntag, 3. Juli 1994, spielte er sein letztes Konzert in Wildbad Kreuth. Mir wurde gegen 17 Uhr mitgeteilt, dass Richter erhebliche Herzbeschwerden bekommen hatte und das Konzert am Abend auf dem Spiel stand. Aber er trat auf, wenngleich unter sichtbaren Anstrengungen. Er begann seinen Vortrag mit einer Sonate von Joseph Haydn, einem seiner Lieblingskomponisten, und spielte dann relativ kraftvoll Beethovens frühe Sonate B-Dur op. 22. Nach der Pause dann ein monumentales Werk von Max Reger für Klavier zu vier Händen zusammen mit einem deutschen Nachwuchspianisten. Die Luft im Festsaal von Wildbad Kreuth, der ehemals als feudaler Speisesaal der von Hofrat Dr. Heinrich May geleiteten Kuranstalt diente, war unerträglich. Für den herzkranken 79-jährigen Pianisten eine große Belastung. Nur wenige Tage später lag er mehrere Wochen lang in einem Krankenhaus in Pinneberg bei Hamburg.

Danach folgten nur noch wenige öffentliche Auftritte. Die Lebensuhr des Tastentitanen Richter war fast abgelaufen. Im Frühjahr 1997 führte der engagierte Filmemacher Bruno Monsaingeon in Frankreich stundenlange Interviews vor der Kamera mit Svjatoslav Richter, der zu den später hinzugeschnittenen Archivdokumenten die Stationen seines bewegten Lebens preisgab. Richter – L’Insoumis – Der Unbeugsame

Bereits vom Tode gezeichnet spricht der legendäre Pianist in bewundernswerter Offenheit; die verbissene Härte aus seinem bäuerlichen Gesicht hat sich in ein freundlich-verklärtes Antlitz verwandelt. Ein erschütterndes und großartiges Dokument über das zum großen Teil tragische Leben eines der ganz großen Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Am Freitag, dem 1. August 1997, stirbt Svjatoslav Richter 82-jährig in Moskau. Bereits am 2. August berichten alle großen internationalen Zeitungen über das Leben und Wirken dieses herausragenden Pianisten unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts. Nina Dorliac stirbt ein Jahr später, am 17. Mai 1998 – sieben Wochen vor ihrem 90. Geburtstag.

Richter – L’Insoumis – Der Unbeugsame

Sviatoslav Richter

Regisseur: Bruno Monsaingeon  

Format: DVD

€ 22.99



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion