Nikolaus Harnoncourt – ein Zuruf, kein Nachruf

Am vergangenen Sonnabend starb der österreichische Dirigent Nikolaus Harnoncourt im Alter von 86 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit im Kreise seiner Familie in St. Georgen im österreichischen Attergau.
Titelbild
Nikolaus Harnoncourt bei Orchesterproben in der Berliner Philharmonie 2011.Foto: Werner Kmetitsch
Von 7. März 2016

Veränderungen brauchen Überzeugungskraft. Allein schon der K l a n g  seiner Stimme hatte diese Kraft. Und auch die Sprache seines Körpers hatte diese Kraft, damals, als er noch nicht Dirigent, sondern junger Cellist war. Schon Herbert von Karajan war der junge Cellist beim Probevorspiel bei den Wiener Symphonikern aufgefallen: „Wie der sich schon hinsetzt, seh ich, dass ich ihn engagier … – Harnoncourt sollte dann in diesem Orchester 17 Jahre lang am hinteren Cello -Pult „dienen“, und er widersetzte sich den Bestrebungen Karajans, ihn zum Solocellisten zu machen.

In dieser Zeit als Orchestermusiker und der Unterordnung unter die Überzeugungen anderer Dirigenten er erlebt und begegnet neben Karajan dem jungen Zubin Metha, Christoph von Dohnanyi, Lorin Maazel, Claudio Abbado, Wolfgang Sawallisch, Sergiu Celibdache und Carlo Maria Guilini, Karl Böhm, Paul Hindemith, Bruno Walter reifen seine eigenen Überzeugungen und Begründungen heran oft genug durch den inneren Widerspruch zu den musikalischen Traditionen und Auffassungen anderer Dirigenten.

Kompromisslos und mutig

Bis sich der Konflikt Harnoncourts zwischen Dienen und Sollen, nicht hinterfragbarem Müssen und Anpassen an tradierte Vorstellungen von Klang und musikalischem Ausdruck einerseits und eigenen Erkenntnissen und Wollen, eigenen Klang- und Ausdrucksvorstellungen anderseits, derart zuspitzt, dass er seine Stelle im Orchester aufkündigt, ja auf einen Karrieresprung in die Position des 1. Cellisten verzichtet. Er hält es einfach nicht mehr aus, unter gefeierten Dirigenten die Musik Bachs und Mozarts zu schönen Klangtapeten herabdegradiert zu spielen, obgleich es, anderthalb Jahrzehnte nach Ende des 2. Weltkriegs, auch verständlich erscheint, dass Menschen durch Musik Beruhigung, Schönheit, Harmonie, ja Vergessen erleben möchten nach so viel Verstörung und Zerstörung …

Kompromisslos, mutig und nicht ohne große wirtschaftliche Risiken für seine Familie, eröffnet er sich mit dem Schritt aus der gesicherten Position des Orchestermusikers heraus seinen eigenen Weg. Dabei ist ein kleines äußeres Detail symbolisch: Der damalige Noch-Orchestermusiker hat zur (Proben-)Arbeit noch vorschriftsmäßig Anzug und Krawatte zu tragen, was ein Harnoncourt jedoch nur tut, wenn ihm der oberste Hemdenknopf fehlt. Zum andern erscheint er tagsüber stets unvorschriftsmäßig unrasiert zum Dienst …

Vier Jahre lang von 1953 bis 1957 und im Geheimen, proben und disputieren Harnoncourt, seine Frau Alice und seine Musiker-Freunde in ihrer damaligen Wiener Altbauwohnung im achten Bezirk auf alten Instrumenten. Schon Gottfried Keller hatte hier gewohnt und Johannes Brahms war als regelmäßiger Besucher bei der Hausbesitzerfamilie Exner aus- und eingegangen.

Nikolaus Harnoncourt erzählte über die besondere Atmosphäre des großen Probenraumes: Ich habe jedes Loch eines Cellostachels im Parkettboden mit Ehrfurcht betrachtet.“

So wurde der Concentus Musicus" geboren

Der Brief eines Schulfreundes Harnoncourts, Federik Mirdita (damals Regieassistent an der Staatsoper und Babysitter während der Proben), ist mit entscheidend dafür, dass Harnoncourt und seine Mitstreiter ihre künstlerische Insel verlassen und an die Öffentlichkeit gehen. „Seits ihr deppert?“ schreibt er damals provokant.“ Ihr Deppen ihr, sitzt herum und überlegt, ob ihr gut genug seid …?“

(Dieser Urfreund, der dem Ensemble den entscheidenden „Tritt“ zum Coming-out versetzte, starb knapp zwei Wochen vor Harnoncourts Tod an den Folgen eines Verkehrsunfalls).

So war der „Concentus Musicus" geboren, jenes Ensemble, mit dem Harnoncourt seine Intentionen, seine eigenen Ideen und Überzeugungen kompromisslos und wahrhaftig verwirklichen konnte. (Dessen Geschichte ist wunderbar von Milan Turkowvic und Monika Mertel in „Die seltsamsten Wiener der Welt“ erzählt.)

Die Geschichte und Entwicklung des Concentus Musikus zeigt auch, wie wichtig der Dialog, die Diskussion der Musiker untereinander war. Der Dialog, Rede und Gegenrede, überzeugen und überzeugen lassen im Für und Wider des Argumentierens das war Harnoncourts Art, sein Arbeits-, Lebens- und Unterrichtsstil, den er von Kindheit an in seinem Elternhaus prägend erfahren hatte. So hatte er als Zehnjähriger seinem Vater einst erbittert entgegengehalten: „Höflich sein ist Lügen.“

Was ist Wahrheit?

Wahrhaftig sein das umschreibt vielleicht einen wesentlichen Charakterzug Harnoncourts. In seinem Büchlein mit dem großen Titel „Was ist Wahrheit?“ wird noch ein anderer Wesenszug deutlich: Das Suchen im besten lessing’schen Sinne: Nicht der Besitz der Wahrheit ist entscheidend, sondern der Weg, die Suche nach ihr …

Schon die allerersten Konzerte des „Concentus“ Ende der fünfziger Jahre im Wiener Palais Schwarzenberg, quasi „handgemacht“  in Eigenregie organisiert und beworben, waren für viele der Zuhörer ein überzeugendes Erlebnis, Ergebnis wahrhaftiger Suche und suchender Wahrhaftigkeit nach adäquatem musikalischem Ausdruck, für andere wiederum etwas, was sie aus ihren vertrauten Hörgewohnheiten zunächst nur abzulehnen vermochten.

Harnoncourt polarisierte damals und auch später immer wieder auch durch Paradoxa, z.B. durch den Gedanken, dass „das wirklich Schöne an der Musik nicht die Reinheit, sondern der Schmutz ist“. Oder: Unmöglichkeiten seien die schönsten Möglichkeiten

„Was ist wertvoller als Gold? „Das Licht“. „Was ist wertvoller als Licht? „Das Gespräch. In Abwandlung dieses berühmten Dialogs aus Goethes „Märchen“ möchte man im Hinblick auf Harnoncourt sagen: „Was ist wertvoller als Gold und Licht? „Der Dialog.“

Wenn Harnoncourt sich Monteverdi, Bach, Mozart, Beethoven und Bruckner, später Bartok, Bizet oder Gershwin annäherte, so geschah dies in der geistigen Vorbereitung und seelischen Einstimmung auf einen Komponisten und dessen Epoche immer höchst eindringlich und dialogisch. Immer gab es überraschend Neues, Übersehenes und bis dato Unerhörtes in Proben und Konzerten zu erleben. Das gelang, weil Harnoncourt mehr als nur ein überzeugender Interpret war. Er überzeugte, weil er sich jedes Mal zum Seelenverwandten des Komponisten machte, in dessen Welt er so tief wie möglich eintauchte, mit ihm lebte, soweit das überlieferte Material es zuließ. Das fing bei der suchenden Beschäftigung mit den originalen Notenmanuskripten an, führte über die Suche nach geeigneten Instrumenten für den intensivsten musikalischen Ausdruck bis in die geistige Welt von Briefen, Tagebüchern, zeitgenössischen Berichten über Aufführungen bis hin zu jahrhundertealten Traktaten und Lehrwerken.

Maestro war für ihn die Bezeichnung für einen Friseur

Sicherlich hätte der ernste, das Keep smiling verweigernde Harnoncourt, der die Titulierung „Maestro“ strikt und beharrlich ablehnte (- ein Maestro war für ihn die Bezeichnung für einen Friseur -) diese Seelenverwandtschaft als „zu groß“ abgewiegelt. Ein ganz großer Interpret war für ihn z.B. Leonard Bernstein, da dieser nicht nur Dirigent sondern zugleich schöpferisch fruchtbarer Komponist war …

Und doch entstanden in diesem Prozess des schöpferischen sich-seelenverwandt-Machens  überzeugende und langanhaltend wirkende Nachschöpfungen, die selbst noch in konservierter Form, erst recht aber im Konzert (und noch mehr in seiner Probenarbeit) ein Werk nicht nur seiner Fassade nach restauriert aufführten, sondern darüber hinaus hineinführten ins Innere eines musikalischen Gebäudes oder Organismus’, das da durch das „Sprachrohr“ Harnoncourt und seiner Mitmusiker sinnerfüllt erlebbar wurde.

Das hatte ein stark verändertes und veränderndes Hören zur Folge, provozierte zum Hinhören: neue Klangfarben, neu entdeckte Klanggesten, Gebärden, Rede, Widerrede und dann erst Versöhnung, Erlösung, Harmonie;  ein Klang, befreit vom Druck des fassadenhaften Gefallen-wollens und müssens. So war auch die Sprache seines Körpers, seiner Hände beim Dirigieren: Kein Stab, stattdessen hörbare  Atemimpulse und Augen, die allerdings Blitz und Donner schleudern konnten; in seinen Bewegungen etwas „Auftriebiges“, ganz Direktes, der großen dirigentischen Geste und Pose Abholdes.

Alice Harnoncourt spielte lange im Concentus die 1.Geige

Harnoncourt vermochte aber auch darum so zu überzeugen, weil es im schöpferischen musikalischen Dialog immer eine zweite Stimme gab, einen Kontrapunkt: die weibliche Stimme seiner Frau, die von Anfang an auf Augenhöhe seinen Weg mitging souverän und keineswegs symbiotisch. Sie Alice Harnoncourt spielte lange im „Concentus“ die 1.Geige, wirkte aber menschlich, organisatorisch und oft vermittelnd als ruhender Pol im Hintergrund. Harnoncourt hat ihren Anteil an der Wirkung und am Erfolg „seiner“ Musik als „unermesslich hoch“ eingeschätzt.

Der von sich selbst allzu Überzeugte riskiert die Aura der Unnahbarkeit. Er schüchtert ein, und die Versuchung wächst, mit dem Machtmittel der Angst zu arbeiten, um zu seinen kompromisslosen Zielen zu gelangen. Harnoncourt hat nach eigenen Erzählungen z. B. Karajan so erlebt, bei aller Wertschätzung, die er dem „seltsamen Mann“ (Wolfgang Stresemann) auch sonst entgegenbrachte. Auch z.B. der berühmte Celibidache war ein großer Einschüchterer, in dessen Workshops und Kursen sich gestandene Dirigenten manchmal nur noch auf allen Vieren auf dem Boden kriechend hineinwagten, wenn sie mit einer auch noch so kleinen Verspätung in den Saal hineinwollten.

Undenkbar so etwas bei Harnoncourt, diesem überzeugten und überzeugenden Vermittler und Verbinder, der auf Vertrauen (und Selbstvertrauen seines Gegenübers) und den Dialog baute, der sich dabei selbst genauso gerne und bereitwillig hinterfragen ließ wie er andere hinterfragte nicht nur auf gleicher Höhe der Augen, sondern, womöglich, auch auf gleicher Höhe des Herzens.

Aus dem Geist des Dialogs und aus dem Denken des Herzens

Freilich vermochte auch Harnoncourt nicht, den „Betrieb“ der klassischen Musik zu verändern. Mehr und mehr wurde er, je prominenter er wurde, Teil dieses Betriebes, wenn auch als immer wieder aufstörender, bewegender, überraschender Teil. Er entzog sich jedoch immer wieder, auch, weil er sich nicht (z.B. als Chefdirigent) band. Monteverdi, Mozart, Bach, Schubert, Beethoven sie waren für ihn nicht wegen des Betriebes da, sondern der Betrieb und die Bewegung waren und sind da, weil es ein lebendiges Gedächtnis für ihre Werke, ihre Lebensenergien gibt und Menschen, die der Seelenverwandtschaft fähig sind und ihr Ausdruck verleihen können.

Schweiß, Arbeit, Tausende von Stunden Lesen, Proben, Arbeit und Gesprächen stecken in dieser Wiedergeburt der Musik aus dem Geist des Dialogs und aus dem „Denken des Herzens“ (Pascqual), das Nikolaus Harnoncourt so liebte und zu vermitteln verstand.

Er suchte, begriff und verwirklichte die Kunst, die Musik als etwas, was uns Menschen wie mit einer Nabelschnur mit dem Göttlichen verbindet. Folgt man diesem seinem Bilde, dann mag sein Tod eher eine Geburt und Abnabelung als ein Ende bedeuten. Oder, wie Novalis einmal sagte: Wenn ein Geist stirbt, wird ein Mensch geboren, wenn ein Mensch stirbt, wird ein Geist geboren.

Jürgen Motog ist Musiker, Pädagoge und Therapeut. Er leitet in Caputh bei Potsdam das „Haus der Klänge".

http://haus-der-klaenge.de/hdk.html

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