Der Knabe im Moor – Von Annette von Droste-Hülshoff

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Wär nicht Schutzengel in seiner Näh, seine bleichenden Knöchelchen fände spät ein Gräber im Moorgeschwele.Foto: iStock

Der Knabe im Moor

Oh schaurig ist’s übers Moor zu gehn,

Wenn es wimmelt vom Heiderauche,

Sich wie Phantome die Dünste drehn

Und die Ranke häkelt am Strauche,

Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,

Wenn aus der Spalte es zischt und singt,

O schaurig ist‘s übers Moor zu gehn,

Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind

Und rennt, als ob man es jage;

Hohl über die Fläche sauset der Wind –

Was raschelt drüben am Hage?

Das ist der gespenstische Gräberknecht,

Der dem Meister die besten Torfe verzecht;

Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!

Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,

Unheimlich nicket die Föhre,

Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,

Durch Riesenhalme wie Speere;

Und wie es rieselt und knittert darin!

Das ist die unselige Spinnerin,

Das ist die gebannte Spinnlenor´,

Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran! nur immer im Lauf.

Voran, als woll es ihn holen!

Vor seinem Fuße brodelt es auf,

Es pfeift ihm unter den Sohlen

Wie eine gespenstische Melodei;

Das ist der Geigenmann ungetreu,

Das ist der diebische Fiedler Kanuf,

Der den Hochzeitsheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht

Hervor aus der klaffenden Höhle;

Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:

„Ho, ho, meine arme Seele!“

Der Knabe springt wie ein wundes Reh;

Wär nicht Schutzengel in seiner Näh,

Seine bleichenden Knöchelchen fände spät

Ein Gräber im Moorgeschwele.

Da mählich gründet der Boden sich,

Und drüben, neben der Weide,

Die Lampe flimmert so heimatlich,

Der Knabe steht an der Scheide.

Tief atmet er auf, zum Moor zurück

Noch immer wirft er den scheuen Blick:

Ja, im Geröhre wars fürchterlich,

O schaurig war‘s in der Heide!

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)



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