Ich saß auf einem Steine – Von Richard Zoozmann / Walther von der Vogelweide

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Den Ellenbogen stützt ich auf und schmiegte in die Hand darauf das Kinn und eine Wange. So grübelte ich lange: Wozu auf Erden dient dies Leben? ... (Der Denker - Skulptur von Auguste Rodin)Foto: iStock

Ich saß auf einem Steine

Ich saß auf einem Steine

und deckte Bein mit Beine,
Den Ellenbogen stützt ich auf
Und schmiegte in die Hand darauf
Das Kinn und eine Wange.
So grübelte ich lange:
Wozu auf Erden dient dies Leben? …
Und konnte mir nicht Antwort geben,
Wie man drei Ding erwürbe,
Daß keins davon verdürbe.
Die zwei sind Ehr und irdisch Gut,
Das oft einander Abbruch tut,
Das dritte Gottes Segen,
Der allem überlegen.
Die hätt ich gern in einem Schrein;
Doch leider kann dies niemals sein,
Daß weltlich Gut und Ehre
Mit Gottes Gnade kehre
In ganz dasselbe Menschenherz.
Sie finden Hemmnis allerwärts;
Untreu hält Hof und Leute,
Gewalt geht aus auf Beute,
Gerechtigkeit und Fried ist wund,
Die drei genießen kein Geleit,
Eh diese zwei nicht sind gesund.

Richard Zoozmann / Walther von der Vogelweide

Ich saz ûf eime steine

Ich saz ûf eime steine
und dahte bein mit beine:
dar ûf satzt ich den ellenbogen:
ich hete in mîne hant gesmogen
daz kinne und ein mîn wange.
dô dâhte ich mir vil ange,
wie man zer welte solte leben:
deheinen rât kond ich gegeben,
wie man driu dinc erwurbe,
der keines niht verdurbe.
diu zwei sint êre und varnde guot,
daz dicke ein ander schaden tuot:
daz dritte ist gotes hulde,
der zweier übergulde.
die wolte ich gerne in einen schrîn.
jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg unde wege sint in benomen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze:
fride unde reht sint sêre wunt.
diu driu enhabent geleites niht, diu
zwei enwerden ê gesunt.

Walther von der Vogelweide  (ca. 1170 – 1230)



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