Rachmaninows verlorenes Russland eingebettet in seinem Choral „Vesper“

Sergej Rachmaninow (1873-1943): Das große Abend- und Morgenlob – Vesper op. 37 für gemischten Chor a cappella
Titelbild
Russische Holzkirche an einem sonnigen Wintertag.Foto: iStock
Epoch Times6. Dezember 2018

Der brillante Komponist Sergej Rachmaninow (1873 – 1943) steht für die meisten Kenner für kraftvolle Klavierwerke und einen unverkennbaren russischen Klang. Nur wenige halten ihn für einen besonders religiösen Charakter, und so sind die meisten beeindruckt, wenn sie seine einzigartige chorale Kirchenmusik „Nacht-Vigilie“ hören, das dem Publikum weitgehend als „Vesper“ bekannt ist. Neben seiner Tiefgründigkeit gehört diese die herausragende Arbeit zu einem der wichtigsten Bestandteile des Chorrepertoires auf der ganzen Welt. Jedoch wurde sie 70 Jahre lang in Rachmaninows russischer Heimat nicht mehr aufgeführt.

Rachmaninows Russland

„Der Klang der Kirchenglocken beherrschte alle Städte Russlands, die ich kannte, wie z.B. Nowgorod, Kiew, Moskau“, schrieb Rachmaninow 1913 in seinen Memoiren. „Sie begleiteten jeden Russen von Kindheit an bis ins Grab, und kein Komponist konnte sich ihrem Einfluss entziehen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich an den unterschiedlichen Stimmungen der Kirchenglocken erfreut, die gerne läuten, der Musik freudig schlagender und traurig läutender Glocken. Diese Liebe zu den Glocken ist jedem Russen eigen. Wenn es mir überhaupt gelungen ist, Glocken in meinen Werken mit menschlichen Gefühlen zum Vibrieren zu bringen, ist dies vor allem darauf zurückzuführen, dass ich den größten Teil meines Lebens unter den Vibrationen der Glocken Moskaus gelebt habe.“

Diese Verbundenheit zur orthodoxen Kirchenmusik mag auch aus Rachmaninows früher Jugend stammen, als seine Großmutter regelmäßig mit ihm während der Sommermonate Klöster und Kirchen auf dem Land besuchte.

Rachmaninows Zeit als Komponist fiel tatsächlich mit dem Wiederauftreten der russischen Kirchenmusik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zusammen. Nach etwa einem Jahrhundert gemischter fremder Einflüsse auf die russische Chormusik und dann wegen Zensoren nicht mehr populär, half Prinz Wladimir Fjodorowitsch Odojewski die russische liturgische Musik wieder in die Gesellschaft einzuführen.

Odojewski war Schriftsteller, Musikwissenschaftler und Gründungsmitglied der russischen Musikgesellschaft. Er brachte viele Musiker zusammen, die an dem Studium dieser liturgischen Gesänge sowie an alten Büchern und Manuskripten interessiert waren, und versorgte die damaligen Komponisten und Musiker mit einer Grundlage für neue geistliche Werke.

Die bewegte Geschichte der russischen Chormusik: außer Mode – hochgelobt – verboten

Laut Vladimir Morosan, dem Gründer des Musikverlegers Musica Russica, war eine der führenden Kräfte der Neuen Russischen Choralschule der Moskauer Synodalchor, der in den 1880er Jahren als eine Art mittelmäßiger Kirchenchor begann und sich zu einem erstklassigen Publikum entwickelte. Er wurde Mitbegründer dieses musikalischen Ensembles. Es war einer der Komponisten der Moskauer Synodalschule, Stepan Smolensky, dessen Ermutigung und Ratschläge Rachmaninow dazu verleiteten, einige seiner heiligen Werke zu vollenden, und denen Rachmaninow die „Vesper“ widmete.

Die „Vesper“ ist ein musikalisch schwieriges Werk. Ein Grund dafür ist, dass der Text Kirchenslawisch ist und die Aussprache und Grammatik selbst für russische Muttersprachler als anachronistisch und fremd erscheinen kann. Der Text war auch für Rachmaninow neu, aber das Ergebnis war, dass er den Text der Hymnen bei der Arbeit an der „Vesper“ gründlich durchforstete und jede Zeile poetisch und kraftvoll ausarbeitete. Das Stück fühlt sich bis heute ungewöhnlich modern und aktuell an. Es ist ein A-cappella-Stück, das keine instrumentale Unterstützung beinhaltet und eine virtuose Intonationsgabe erfordert. Es enthält auch sehr tiefe Bässe und viele Gesangseinlagen, was es so schwierig wie einzigartig macht. Das große „Abend- und Morgenlob“, auch „Nacht-Vigilie“ genannt, bezieht sich auf die in der orthodoxen Kirche vor Sonn- und Feiertagen zu einer rituellen Einheit zusammengefassten Abend- und Morgengebeten.

Dieses Stück wurde 1915 komponiert und uraufgeführt. Zu dieser Zeit waren öffentliche Konzerte heiliger Chorwerke in Russland alltäglich. Bekannte Kirchen veröffentlichten die Programme vorab, schrieb Morosan. Opernsolisten wurden eingeladen, in den Kirchen zu singen, und an einigen Orten reisten Menschen extra an, speziell für diese eigenwillige Musik oder explizit für die Sänger.

1917, zwei Jahre später, wurde die Zensur eingeführt und verbot die Werke berühmter Komponisten wie z.B. von Rachmaninow, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Nikolai Rimski-Korsakow und Mily Balakirev, um nur einige zu nennen. Dies war auch für Rachmaninow seine letzte heilige Chorarbeit.

Foto der Alexander Nevsky Kathedrale, einer russisch-orthodoxen Kirche in Paris, ca. zehn Jahre nach ihrer Fertigstellung 1861. Foto: Hulton Archive/Getty Images

Die Revolution

„Die Komposition vermittelte bereits etwas Revolutionäres, was im Grunde genommen seltsam und ironisch war, weil das Stück komponiert wurde und dann im Herkunftsland jahrzehntelang wegen des kommunistischen Umganges mit der Religion nicht aufgeführt werden durfte“, sagte Julian Wachner, Musikdirektor an der Trinity Church Wall Street. Julian Wachner selbst dirigierte den Trinity Choir in einer Abendaufführung.

Tatsächlich führte die Russische Revolution 1917 zum Aufstieg der Sowjetunion als eine führende Weltmacht, die von der Kommunistischen Partei regiert wurde. Jegliche Form von Religion und Glauben wurden als erstes von der Partei verboten und sämtliche Kirchenverbände und Gottesdienste aufgelöst.

„Wir müssen die Religion bekämpfen, das ist die Wurzel des gesamten Materialismus und folglich des Marxismus“, schrieb Wladimir Lenin.

Nur wenige Wochen nach der Machtübernahme der Partei wurden alle religiösen Bezüge aus dem Lehrplan gestrichen. Dann zerstörten oder ließen sie Kirchen und andere religiöse Räume zerstören, töteten Geistliche zu Tausenden und schickten Intellektuelle in Internierungslager. Infolgedessen wurden viele geistliche Musikwerke in der Sowjetunion verboten.

Rachmaninow gehörte zu einer Reihe von Komponisten, die Russland danach verließen. Während des Krieges kehrte er für einen Tag zurück, nur um sein Zuhause von der Partei der Sozialen Revolution beschlagnahmt und im Chaos vorzufinden. Er ging und schwor, nie wiederzukommen. Daraufhin gab er Konzerte in vielen anderen Ländern, bis er sich in den Vereinigten Staaten niederließ. Im Jahr 1918 zog er mit seiner Familie nach New York City. Rachmaninow kehrte nie nach Russland zurück. In seinen Auslandsjahren hat der Komponist nur sechs Werke fertiggestellt, darunter auch seine 3. Sinfonie.

„Ich habe den Wunsch und die Sehnsucht zu komponieren zurückgelassen, dort in der Ferne. Ich habe mein Land verloren, ich habe mich dabei auch selbst verloren“, sagte er 1934 in einem Interview. „Seit dem Exil, bei dem die musikalischen Wurzeln, all die Traditionen und das Heimatverbundende vernichtet wurden, seit dem besteht kein Wunsch nach irgendeiner Selbstdarstellung.“

Sergei Rachmaninow (1873 – 1943), um 1935. Foto: Hulton Archive/Getty Images

Schöne Nostalgie

Julian Wachner hat bis zum heutigen Tag die „Vesper“ so oft dirigiert, sodass er behaupten kann: „Das liegt mir irgendwie im Blut. Es ist meiner Meinung nach eines der schönsten Stücke für einen Cappella-Chor“, sagte Julian Wachner. „Es ist eine perfekte Verschmelzung von Text und Musik.“

Julian Wachner ist selbst ein preisgekrönter und produktiver Komponist und Dirigent, dessen musikalische Reise mit einem heiligen Chorlied begann. „Grandiose Chormusik erkennen Sie einfach daran, wie alle Beteiligten zusammenarbeiten, um Schönheit zu schaffen“, sagte er. „Etwas gemeinsam erschaffen, das größer ist als die Summe seiner Einzelteile. Ich denke, die Philosophie davon ist unglaublich schön und unglaublich wichtig.“

Große Kunst hat die Kraft, Sie in eine andere Welt zu tragen, das bewiest auch Rachmaninows Chorwerk. Sein Werk zeichnet ein wunderschönes Bild seines verlorenen Russlands. Es war eines seiner letzten Werke vor seinem selbst auferlegten Exil, in dem er eher als Pianist als Komponist bekannt wurde.

„In diesem Werk steckt ein Gefühl der Nostalgie“, beschreibt Julian Wachner. „Gleichzeitig gibt es Notizen, die auf eine hoffnungsvollere Zukunft hindeuten: Es sind eine Menge Emotionen dabei“, so Julian Wachner. „Dies ist die Art von Komposition, bei der die Leute definitiv eine Gänsehaut bekommen. Sie werden in Ehrfurcht vor dieser Schönheit still sein, in sich gehen. Und ich denke, es wird eine Art transformatives Gefühl geben, bei der Sie ihren Arbeitstag oder ihre Probleme für eine Weile vergessen können. Sie werden über diese Musik zu diesem Ort der reinen Schönheit und Freude getragen werden. Ich denke, das ist eine sehr wichtige und große Aussage Rachmaninows.“

Übersetzt und bearbeitet von Jacqueline Roussety

Quelle: Rachmaninoff’s Lost Russia, Captured in his ‘Vespers’



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