Vom Schandfleck zur Kulturhauptstadt: Matera ist „ein Rohdiamant“ im Süden Italiens

Reiseführer preisen Matera als "absolut einmalig" an. 2019 ist die Stadt an Italiens Peripherie Kulturhauptstadt. Das war einmal unvorstellbar.
Titelbild
Traumhaftes Panorama von Matera.Foto: iStock
Epoch Times17. Januar 2019

Nach Matera zu kommen war zuletzt noch schwieriger als ohnehin schon. Verwunschener denn je wirkte die Felsenstadt in Italiens Süden, als kurz nach dem Jahreswechsel seltenes Schneegestöber über sie hereinbrach. Nun, da Schnee und Eis geschmolzen sind, richtet sich der Blick wieder auf etwas anderes: Matera ist in diesem Jahr Europäische Kulturhauptstadt.

Am 19. Januar fällt der offizielle Startschuss, eine Woche nach den Eröffnungsfeierlichkeiten in der zweiten europäischen Kulturhauptstadt des Jahres, dem bulgarischen Plowdiw.

„Zuerst erschien uns das als etwas viel zu Großes für Matera“, sagt Mario Daddiego. „Aber jetzt wird die Welt verstehen, dass Matera existiert. Die Stadt ist ein Rohdiamant.“ Der 46-Jährige steht in seinem Laden, der gleichzeitig Werkstatt ist. Er ist wie so viele andere Geschäfte, Restaurants und Unterkünfte in dem Ort in den Fels gehauen worden. Matera ist berühmt für seine „Sassi“. Die antiken Höhlensiedlungen baut Daddiego für seine Weihnachtskrippen nach.

Das römische Theater in Plowdiw. Foto: iStock

Antikes Erbe: Eine Stadt im Fels

Die Felsen entlang der Schlucht inmitten zerklüfteter Landschaft sind durchzogen von Höhlen, die Menschen schon vor Tausenden Jahren bewohnten. In den Vierteln Sasso Caveoso und Sasso Barisano lebten bis in die 50er Jahre Menschen unter hygienisch desaströsen Zuständen. Teilweise Seite an Seite mit ihren Tieren.

1952 erließ die Regierung in Rom ein Gesetz, das die Zwangsräumung der in Stein gehauenen Behausungen veranlasste. Matera galt als „vergogna nazionale“, als nationale Schande. Rund 17 000 Menschen wurden umgesiedelt. Die Sassi drohten zu verfallen. Bis 1986 ihre Erhaltung und Sanierung angeordnet und sie 1993 Unesco-Weltkulturerbe wurden.

Was gestern Schande war, ist heute Stolz. Und mittlerweile zieht die Stadt mit ihrer Jahrtausende alten Geschichte und den unzähligen Gewölben immer mehr Besucher an. Im Jahr der Kulturhauptstadt werde mit 800 000 Übernachtungen gerechnet, sagt der Sprecher für Matera 2019, Serafino Paternoster.

Fast eine Verdoppelung im Vergleich zu 2017: Da waren es noch rund 480 000, 2010 gerade mal 200 000. Vielleicht wird es schon bald ein Segen sein, dass der nächste Flughafen mehr als 60 Kilometer entfernt ist und sich so schnell niemand nach Matera verläuft, der nicht wirklich dort hin will.

Die San Pietro Kirche in Matera. Foto: iStock

Geteilte Meinung: Bürger sehen den Titel „Kulturhaupstadt“ verschieden

„Es gibt diejenigen, die sagen: Nach 2019 kommt niemand mehr. Und es gibt die, die sagen: Es kommen schon jetzt zu viele“, sagt Paolo Verri, Leiter der Stiftung Matera 2019. „Ich glaube, die Wahrheit liegt in der Mitte. Wir sind nicht Venedig und hoffen auch nicht, es zu werden. Aber wir müssen auch ehrlich sein. Wenn der Tourismus keine Beschäftigung geschaffen hätte, wäre die Situation heute anders. Der Tourismus schafft neue Möglichkeiten. Und bringt frisches Geld.“

Die Straßen im italienischen Matera. Foto: iStock

Die kleinen, winkelreichen Gassen sind malerisch. Sie ziehen sich die vielen Hügel rauf und runter. Die Häuser sind mit dem Stein verschmolzen. Über ihren Dächern ragt auf einem wuchtigen Felsen ein Kreuz. Hollywood hat längst entdeckt, dass Matera eine perfekte Kulisse ist. Mel Gibson trug als Jesus in der „Passion Christi“ das Kreuz durch die Straßen. Hier kann man sich verlieren. Googlemaps hilft nicht immer weiter, aber das ist auch nicht nötig, um auf urige Cafés, Restaurants und Weinbars zu stoßen.

Das Kulturhauptstadt-Jahr gebe Italien die Möglichkeit, „mehr von unserer Kultur und vor allem die weniger bekannten Aspekte unserer Kultur zu zeigen“, sagte Kulturminister Alberto Bonisoli. Öffnung und Austausch zwischen den „Materani“ und den Besuchern wird groß geschrieben. Die Eintrittskarte für die zahlreichen Events ist gleichzeitig Ausweis, der die Touristen zu „temporären Bürgern“ macht. Die Besucher sollen Matera auch außerhalb der Sassi entdecken, zu Botschaftern der Stadt werden und wiederkommen.

Verwinkelte Gassen in der Kulturhauptstadt Matera. Foto: Lena Klimkeit

Vergangenheit und Zukunft: „Der Materano von heute ist nicht im Programm“

Projekte lokaler, nationaler und europäischer Teilnehmer drehen sich um Kontinuität und Bruch, Wurzeln und Wege. Die Themen des recht abstrakten Programms sind alle eng mit der DNA Materas verknüpft und können auf ganz Europa übertragen werden. Es geht um Abwanderung und Vernachlässigung ländlicher Regionen oder reale Beziehungen in einer immer digitaler werdenden Welt.

Den Auftakt machen Musiker aus der Umgebung und aus Kulturhauptstädten der Vergangenheit und der Zukunft, die durch die Straßen der Stadt marschieren sollen. Die Hauptveranstaltung findet am Samstagabend im Beisein von Staatspräsident Sergio Mattarella statt.

Blick auf die beleuchtete Altstadt von Matera. Foto: Lena Klimkeit/dpa

Doch es gibt auch Zweifel, ob den Einwohnern wirklich so viel Bedeutung zukommt, wie die Initiatoren glauben machen. „Der Materano von heute ist nicht im Programm“, sagt Nadia Della Chiara, die in ihrem Geschäft Handgemachtes aus der Region wie Textildrucke oder Vasen verkauft. Lange Zeit sei die Stadt verschlossen gewesen. Ein Event für Matera würde ein Außenstehender nicht verstehen – und umgekehrt. „Es werden zwei Welten bleiben“, meint Della Chiara.

In die Rolle der größten Kritikerin der Organisation vor Ort schlüpfte bisweilen die italienische Ministerin für den Süden, Barbara Lezzi. Sie bemängelte Verzögerungen bei Bauarbeiten und nahm sich der Beschwerden einiger lokaler Reiseveranstalter an, die sich von der Planung ausgeschlossen gefühlt hatten.

Zuletzt stattete sie der Stadt Überraschungsbesuche ab, um zu schauen, ob alles rechtzeitig fertig wird. Die Tageszeitung „La Stampa“ kommentierte, „angesichts nicht fertig gestellter Parkplätze, der ausgebauten Bahnstrecke, auf der aber noch immer keine Fernzüge fahren, wirke Matera derzeit noch wie ein weit entferntes, wenn nicht isoliertes Wunderland.“ (dpa/ts)

Blick auf die historische Altstadt von Matera. Foto: Lena Klimkeit



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