Neuer Anlauf zur Organspendereform – was in der Debatte verschwiegen wird

Niere, Leber, Herz ... 8.500 Menschen warten in Deutschland auf ein Spenderorgan. Für Gesundheitsminister Karl Lauterbach Grund genug, um neuen Wind in die Debatte zur Organspende zu bringen. Rechtliche und medizinethische Aspekte geraten dabei in den Hintergrund.
Eine Entscheidung über eine mögliche Organspende setzt eine unabhängige, umfassende Aufklärung voraus. Foto: Sean Gallup/Getty Images
Eine Entscheidung über eine mögliche Organspende setzt eine unabhängige, umfassende Aufklärung voraus.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 17. Januar 2023

Vor zwei Jahren scheiterte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit der Idee der doppelten Widerspruchslösung zur Organspende. Nun schiebt sein Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) die Debatte neu an. Dabei steht die rechtliche Grundlage für die Organspende auf wackligen Beinen.

Viele Menschen seien zwar zur Organspende bereit, würden dies aber nicht dokumentieren, so Lauterbach. Aus diesem Grund solle jeder automatisch als Organspender gelten – es sei denn, er widerspricht. „Das sind wir denjenigen schuldig, die vergeblich auf Organspenden warten“, begründet der Gesundheitsminister seine Haltung.

Organspende als erste Bürgerpflicht

Wenn mit der Widerspruchslösung alle Menschen zu Organspendern werden, die einer solchen nicht ausdrücklich widersprochen haben, könne nicht mehr von Organspende die Rede sein. Dieser Ansicht ist Rainer Beckmann, Richter, Dozent an der Juliusspital Pallitativakademie in Würzburg und Lehrbeauftragter für Medizinrecht an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.

Dann sei die Organspendebereitschaft die neue Norm. Sich normgemäß zu verhalten, sei „erste Bürgerpflicht“, was die Entscheidungsfreiheit schon von vornherein und grundlegend beeinträchtigt.

„In einer so schwierigen Frage wie der Organtransplantation darf niemand einem Entscheidungszwang unterworfen werden“, so Beckmann. Dass ein Mensch überhaupt widersprechen muss, um nicht der „Organabgabepflicht“ zu unterliegen, sieht er als „unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit“.

„Wenn Organspende als ‚Gemeinschaftsaufgabe‘ kommuniziert wird, dann sind alle, die nicht mitwirken, schon sprachlich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen“, so Beckmann.

Zudem kritisiert der Medizinrechtsexperte, dass die schon lange bekannten Einwände gegen die Hirntodkonzeption nicht gesellschaftlich diskutiert, sondern einfach ignoriert werden. Auch in den Informationen von Krankenkassen werde regelmäßig von „postmortaler“ Organspende gesprochen, als sei dies unbestritten.

Wann ist die Organentnahme zulässig?

Voraussetzung für eine Organspende ist, dass der Patient zuvor für „hirntot“ erklärt wurde. „Gebetsmühlenartig wird immer wieder behauptet, dass die Hirntoddiagnostik absolut verlässlich und das Hirntod-Kriterium ein ‚sicheres Todeszeichen‘ sei“, schildert Beckmann. In seinem aufgrund der 2018 geführten Organspendedebatte erschienenen Beitrag nahm er die rechtlichen Hintergründe unter die Lupe.

Nach der deutschen Rechtslage müssen vor einer Organentnahme „der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“ festgestellt werden. So sieht es § 3 Absatz 2 Satz 2 Transplantationsgesetz vor.

Die Funktion des Atemimpulses, der vom Stammhirn ausgeht, kann jedoch durch eine Beatmungsmaschine übernommen werden. Da diese Teilfunktion des Gehirns maschinell ersetzt werden könne, liege bei beatmeten „Hirntoten“ kein „nicht behebbarer“ Funktionsausfall des Gehirns vor, wie es das Gesetz verlangt.

„Damit fehlt es an einer Zulässigkeitsvoraussetzung zur Organentnahme“, stellt Beckmann klar.

Das gelte auch für den Fall, dass die Aussendung des Atemimpulses nie mehr vom Stammhirn ausgehen könne, weil es endgültig funktionsunfähig geworden sei.

Wie Beckmann schildert, ist eine „Irreversibilität“ von Körperfunktionen nur dann gegeben, wenn auch ein medizintechnischer Ersatz ausgeschlossen ist – analog zum Ersatz zum Beispiel der Pumpfunktion des Herzens durch ein Kunstherz.

Körperfunktionen trotz „Hirntod“ intakt

Bei für hirntot erklärten beatmeten Patienten funktioniere der Blutkreislauf, Stoffwechsel, Immunsystem und der für die Beatmung unerlässliche Gasaustausch in der Lunge – ebenso das Rückenmark und fast das gesamte vegetative Nervensystem. Wundheilungen und Wachstum bei jungen Menschen mit „Hirntod“-Syndrom ließen sich ebenfalls feststellen.

„Am deutlichsten zeigen ‚hirntote‘ Schwangere, dass Patienten mit Ausfall der Gehirnfunktionen noch keine Leichen sind: Über Wochen und Monate sind sie in der Lage, ein Kind auszutragen“, schildert Beckmann. „Es ist offensichtlich, dass hier sehr komplexe Interaktionen zwischen allen Körperorganen stattfinden und dass der Körper als Ganzes integriert bleibt – das genaue Gegenteil von Tod und Verwesung.“

Für den Medizinrechtler ist es nicht nachvollziehbar, dass beatmete Patienten mit Hirnfunktionsausfall als Leichen betrachtet werden. „Der ‚Hirntod‘ ist nicht die sicherste, sondern die unsicherste Diagnose der Welt, weil sie nicht das nachweist, was sie zu beweisen vorgibt: den Tod des Menschen.“

Um transplantierbare Organe zu erhalten, würden Teilfunktionen des Gehirns ersetzt, gleichzeitig aber soll ein „nicht behebbarer“ Funktionsausfall des gesamten Gehirns vorliegen; für Beckmann „ein Widerspruch in sich“.

Organspendezahlen rückläufig

Nach Daten der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) gab es im vergangenen Jahr 869 Menschen, die ein oder mehrere Organe spendeten. In den Vorjahren waren es 933 Spender (2021) und 913 (2020). Die Zahl der entnommenen Organe sank im letzten Jahr laut DSO auf 2.662. In den Vorjahren waren es 2.905 (2021) und 2.941 (2020). Aktuell stehen rund 8.500 Menschen auf der Warteliste für Organe.

Im Bundestag scheiterte die Widerspruchslösung am 16. Januar 2020, wonach jeder, der nicht ausdrücklich seinen Widerspruch zur Organ- oder Gewebespende oder einen entgegenstehenden Willen erklärt hatte, als potenzieller Spender gelten sollte.  Stattdessen verabschiedeten die Abgeordneten die sogenannte Entscheidungslösung. Bürger sollten regelmäßig durch Hausärzte und Behörden aufgefordert werden, sich zu entscheiden, ob sie ihre Organe spenden wollen oder nicht.



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