Das Grundproblem der liberalen Gesellschaft, die ihre Liberalität nicht absichert gegen ihre Feinde

Was müsste eine liberale Zivilisation tun, um zu überleben, wenn sie also ihre Variationsfreundlichkeit nicht einer fremden strikten Variationsfeindlichkeit kampflos preisgeben möchte? Eine Analyse.
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Auf dem Weg zur Erleuchtung?Foto: iStock
Von 19. Januar 2019

Wenn die liberale Zivilisation überleben, mithin ihre Variationsfreundlichkeit nicht einer fremden strikten Variationsfeindlichkeit kampflos preisgeben möchte, welche diese Offenheit und Freundlichkeit ausnutzt, dergestalt sie die liberale Gesellschaft mit ihrer Feindlichkeit infiltriert, um diese so gleichsam von innen zu zersetzen, so wird ein sich selbst erhalten-wollender Liberalismus nicht umhin kommen, das zu tun, was er ohnehin immer tun muss, wenn er sich selbst erhalten will: die Breite der geduldeten Varianz so begrenzen, dass sie das unterschiedlich Freundliche zulässt, nicht aber das ihm und überhaupt jeder Varianz Feindliche.

Hochkulturen und die moralische Pflicht, sie zu erhalten

Lebewesen streben gewöhnlich nach Selbsterhaltung. Dies ist ein biologisches Faktum. Würden sie das nicht tun, stürben sie schnell aus. Hochkulturen haben darüber hinaus eine moralische Verpflichtung, sich selbst zu erhalten, zu bewahren und zu schützen, den erreichten Level an die jeweils nächste Generation weiterzugeben und diese so auszustatten, dass sie befähigt wird, die jeweilige Hochkultur zu erhalten, möglichst sogar weiterzuentwickeln. Denn ansonsten gäbe es einen Rückfall auf ein niedrigeres kulturelles Niveau.

Wer in einer Hochkultur lebt und diese moralische Verpflichtung nicht versteht, negiert respektive nicht empfindet, bei dem ist der Bildungsprozess, bei dem ist der Erziehungsprozess, bei dem ist der Prozess der Enkulturation nicht wirklich geglückt. Doch betrachten wir das Ganze genauer.

Was bedeutet Bildung?

Die deutsche Sprache unterscheidet im Gegensatz zu vielen anderen (z.B. dem Englischen, wo beides „education“ genannt wird) zwischen Bildung und Erziehung. Hier zeigt sich wie an vielen anderen Stellen auch die tiefere geistige Durchdringung, die auch und gerade mit der deutschen, sehr differenzierten Sprache zusammenhängt, welche wiederum mit der einzigartigen deutschen Philosophie korrespondiert (das Land der Dichter und Denker). Doch was ist der Unterschied und wie hängen Bildung und Erziehung zusammen?

  • Bildung als Prozess und als Ergebnis dieses Prozesses (gebildet sein, über Bildung verfügen) bedeutet: die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, Verantwortung für sich selbst übernehmen lernen und nicht unmündiger Knecht eines anderen zu sein.
  • Bildung bedeutet die Subjektentwicklung im Medium der Objektivationen bisheriger menschlicher Kultur (Sprache, gesellschaftliche Strukturen und Spielregeln, Literatur, Kunst, Wissenschaften, Philosophie etc.) Bildung ist mithin immer zugleich als Selbst- und Weltverhältnis auszulegen, das nicht nur rezeptive, sondern immer auch verändernd-produktive Teilnahme an der Kultur meint (Mitbestimmungs- und Gestaltungsfähigkeit).
  • Bildung bedeutet gleichermaßen die Gewinnung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit (Solidarität), zwei Pole, die in einer steten Spannung zueinander stehen und immer neu austariert werden müssen, ohne den einen und ohne den anderen Pol zu vernachlässigen oder gar völlig auszublenden (extremer Individualismus bzw. extremer Kollektivismus).
  • Bildung bedeutet im Gegensatz zu Erziehung (sofern darunter nicht auch Selbsterziehung verstanden werden soll) ein lebenslanger, nie endender Prozess.
  • Bildung bedeutet Mehrdimensionalität, bedeutet insbesondere praktische, ästhetische, kognitive (geistige) und moralische Bildung (Charakterbildung).

Worauf zielt Erziehung zum Menschen?

Erziehung zum Menschen, das heißt das intentionale (bewusste, absichtliche und gezielte) Eingreifen in den Prozess der Individuation (ein einzigartiges Individuum werden), hat das Ziel der Aufhebung ihrer selbst. Erziehung will also das nichten, auf dem sie aufbaut, nämlich die Unmündigkeit des zu Erziehenden. Sie strebt mithin nach dem Sich-selbst-überflüssig-machen.

Erziehung zum Menschen zielt im Gegensatz zur Dressur und Abrichtung auf Mündigkeit, zielt auf Autonomie, zielt auf Emanzipation (Freiheit von Fremdbestimmung), zielt auf die Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung, zielt – da der Mensch ein Gemeinschafts- und Kulturwesen ist – auf die Befähigung zu vernünftiger Mitbestimmung, zielt auf die Befähigung zur Solidarität.

Kultur: cura und cultura

Oder wie der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk es in seinem großartigen Buch Du mußt dein Leben ändern (S. 424 f.) beschreibt:

„Der Begriff ‚Kultur‘ bezeichnet in seiner am wenigsten konfusen Definition Dressur-Systeme zur Übertragung von regional lebenswichtigen kognitiven und moralischen Gehalten auf folgende Generationen. Weil diese Übertragung allenthalben die Quelle ernsthafter Intelligenzarbeit bildet, entwickeln alle real erfolgreichen, hinreichend reproduktionsfähigen Kulturen eine Art von ontologischem Zentralorgan, in dem das Urteil über die Lebenswichigkeit und Nicht-Lebenswichtigkeit von »Dingen« gefällt wird – sechstausend Fuß jenseits der philosophischen Unterscheidung zwischem Substanziellem und Akzidentiellem. (…)

Die ‚Pflege‘-Dimension von cultura bezieht sich hier auf die Sorge um die ewige Wiederkehr des Ähnlichen in den Nachkommen. Wo cura und cultura, Sorge und Pflege, auftreten, steht sie fürs erste im Dienst der Ähnlichkeit. Sie verlangt von den Mitgliedern einer Population, sich immer so zu verhalten, daß aus der Summe der Handlungen in der Gruppe hinreichend ähnliche Junioren hervorgehen können. Wer sich hier sorglos oder nicht-pflegend verhält, läßt Wildwuchs zu, der öfter dekadent als originell erscheinen muß. (…)

Das Paradoxon der liberalen Gesellschaft

Und Sloterdijk beschreibt auch wunderbar das Grundproblem der liberalen Gesellschaft, so sie zu grenzenlosem Libertarismus degeneriert:

Das Wunder der späten, liberal aufgebrochenen Zivilisationen läßt sich vor diesem Hintergrund noch einmal ausdrücklich bezeichnen: Es bedeutet die Möglichkeit, daß eine gegebene Population ihrer Reproduktionsfähigket, ihrer didaktischen Techniken und der Attraktivität ihres Lebensmodus hinreichend gewiß geworden ist, um es sich leisten zu können, auf die althergebrachte Unterdrückung von unwillkommener Variation zu verzichten und sich statt dessen zu dem neuen, riskanten Habitus breiter Variationstoleranz zu bekennen.

Daraus ergeben sich die typischen Spätkulturprobleme, die uns heute täglich beschäftigen – sie erwachsen aus der nicht-friedensfähigen Koexistenz von variationsfeindlichen und variationsfreundlichen Gruppen innerhalb einer zivilisatorisch ungleichzeitigen Staatsbevölkerung.“

Wenn die liberale Zivilisation überleben, mithin ihre Variationsfreundlichkeit nicht einer fremden strikten Variationsfeindlichkeit kampflos preisgeben möchte, welche diese Offenheit und Freundlichkeit ausnutzt, dergestalt sie die liberale Gesellschaft mit ihrer Feindlichkeit infiltriert, um diese so gleichsam von innen zu zersetzen, so wird ein sich selbst erhalten-wollender Liberalismus nicht umhin kommen, das zu tun, was er ohnehin immer tun muss, wenn er sich selbst erhalten will: die Breite der geduldeten Varianz so begrenzen, dass sie das unterschiedlich Freundliche zulässt, nicht aber das ihm und überhaupt jeder Varianz Feindliche.

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