Auch ukrainische Soldaten wollen kein Kanonenfutter sein

Nicht jeder kann sich mit dem Krieg identifizieren, sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite. Ein Gastkommentar.
Titelbild
Das Bild der überzeugt kämpfenden, ukrainischen Soldaten stimmt nur teilweise.Foto: iStock
Von 17. Januar 2023

„Du Feigling! Was machst Du hier?“ ruft die ukrainische Großmutter. „Schämst Du Dich nicht? Du Verräter“, ruft eine andere dem gleichen jungen Mann im Alter von rund 25 Jahren zu. Der junge Mann ist ebenfalls Ukrainer, aber die Beschimpfung des Mannes geht nicht im Hinterland der ukrainischen Front und auch nicht irgendwo sonst in der Ukraine nieder, sondern in Berlin, im Ankunftszentrum für ukrainische Flüchtlinge. Szenen wie diese sind nicht selten im Ankunftszentrum am ehemaligen Flughafen Berlin-Tegel, bei dem sich seit Ende Februar 2022 über 71.000 Ukrainer registrieren ließen.

Bereits am Tag des Einmarsches hatte Präsident Selenskyj die allgemeine Mobilmachung verkündet. In der Folge durften männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ukraine nicht mehr verlassen. Bis zu fünf Jahre Haft drohen denjenigen, die der Einberufung nicht folgen.

Keine Frage: Die große Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge sind Mütter, Kinder und Großmütter. Doch ganz selten sind die ukrainischen Männer auch nicht. Da sind zum einen diejenigen, die es geschafft haben, der Einberufung „irgendwie“ zu entgehen und da sind diejenigen, die mit Geldzahlungen erreicht haben, nicht eingezogen zu werden. Selbstbewusst steuern manche dieser „biznesmen“ ihr Hyundai-, Mercedes- oder AUDI-SUV bis zur Zufahrtstraße zum ehemaligen Terminal. Offiziell ausgenommen vom Wehrdienst sind Familienväter mit drei Kindern.

Freudig berichtet mir Oksana, dass sie für ihre beiden Kinder einen Platz in einer Berliner Schulklasse gefunden hat. Besorgt frage ich nach Ihrem Mann. „Der ist auch in Berlin. Er arbeitet schon als Hausmeister“, lautet die Antwort. Ich bin erstaunt: „Musste er denn nicht zur Armee? „Nein. Wenn man ein behindertes Kind hat, dann nicht.“ Ich bin betroffen und drücke mein Bedauern aus. „Nein. Kind gut. Alles gut. Alles gesund. Attest“ beruhigt mich Oksana. Oksana heißt eigentlich anders, aber wir nennen sie hier so.

Desertierende ukrainische Männer passen nicht ins Bild der ukrainischen Propaganda. Es ist auch nicht leicht, in den Westen zu kommen. 12.000 ukrainische Männer wurden nach Angaben der ukrainischen Grenztruppen beim illegalen Grenzübertritt Richtung Westen bisher festgenommen. Als aussichtsreichste Route gilt noch die über Moldawien.

All dies widerspricht der bisherigen Medienberichterstattung und auch den Stellungnahmen der deutschen Bundesregierung: Deserteure gibt es nur auf russischer Seite. Nur junge Russen setzen sich ins Ausland ab: nach Kasachstan, nach Georgien, nach Armenien. Ukrainer kämpfen für die Freiheit. Ukrainische Soldaten wollen „ihr“ Land von den russischen Besatzern befreien. Die ukrainischen Streitkräfte sind modern, sind demokratisch, sind eigentlich heute schon wie NATO-Truppen. Das russische Militär gleicht demgegenüber weiterhin der ehemaligen Sowjetarmee. Nur die jungen Russen sind Kanonenfutter.

Dieses Bild ist nicht nur zur Stärkung des Durchhaltewillens der ukrainischen Bevölkerung notwendig. Von mindestens gleich großer Bedeutung ist es für die Aufrechterhaltung und Aufstockung der westlichen Waffenlieferungen. Westliche Medien übernehmen die ukrainische Propaganda ungefiltert.

Beim Gespräch mit ukrainischen Deserteuren zeigt sich aber schnell: Nicht wenige haben nicht nur Freunde und Bekannte, sondern Verwandte dort, wo mittlerweile die „andere Seite“ ist. Wer in Lemberg, in Kiew, ja selbst in Odessa aufwuchs, der fühlt sich dem Westen, der fühlt sich in Warschau heimischer als in Luhansk oder Donezk.

Manche waren schon mehrfach in Berlin, aber noch nie im Donbass. Und die Krim? Wer Urlaub machen wollte, für den lag schon vor der russischen Besetzung 2014 die Türkei näher als die Krim. Die Krim zurückerobern? Wieso? Hinzu kommt für die meisten: Kann man eine Sache verraten, mit der man einfach nichts zu tun haben will? Fahnenflucht? Was ist das?

Die traditionellen Muster passen nicht mehr. Sie passen auch deshalb nicht, weil Mut keine wesentliche militärische Kategorie mehr ist. Der russische Gegner ist eine GPS-Koordinate, die von einer Drohne oder einem US-Satelliten an ein Waffensystem übermittelt wird. Nachschub westlicher Munition ersetzt Kampfbereitschaft und Durchhaltewillen.

Die ukrainische Armeeführung und auch Präsident Selenskyj zeichnen weiterhin täglich das Bild siegreicher ukrainischer Streitkräfte und Soldaten hoher Kampfmoral, die, wenn sie keine Geländegewinne machen, dann doch russische Angriffe erfolgreich abwehren.

Die Opferzahlen sind weiterhin ein Tabu. In einer seltenen Stellungnahme sprach ein Berater von Präsident Selenskyj am 1. Dezember 2022 von „bis zu 13.000 getöteten ukrainischen Soldaten seit dem 24. Februar 2022. Im Juni sprach Präsident Selenskyj von „60 bis 100 toten Soldaten und 500 Verwundeten täglich“. Laut inoffiziellen ukrainischen Quellen sterben mindestens 100 ukrainische Soldaten, Tag für Tag, auch bei den gegenwärtigen Kämpfen um Bachmut.

US-General Mark Milley, Vorsitzender des Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, ging im November 2022 von 100.000 getöteten und verwundeten Soldaten aus. Auf beiden Seiten.
Der ukrainische Generalstab hat die Stimmung in der Truppe erkannt: Kurz vor Weihnachten wurde am 13. Dezember ein Gesetz in der Werchowna Roda – dem ukrainischen Parlament – durchgepeitscht.
Das Gesetz 8271 sieht drastische Strafen zur Aufrechterhaltung der Disziplin vor. Wer Befehle nicht befolgt, seine Einheit oder sogar seine Position verlässt, soll zukünftig mindestens fünf Jahre und in schweren Fällen bis zu zehn Jahre ins Gefängnis müssen. Für Desertation unter feindlichem Beschuss drohen sogar bis zu zwölf Jahre Gefängnis.

Selenskyj und seine Berater wissen: Wenn sich das Bild der ukrainischen Freiheitskämpfer nicht mehr aufrechterhalten lässt, dann gerät auch die westliche Militärhilfe ins Wanken.

Wolfgang J. Hummel (Jurist) war nach 1991 bei der Treuhandanstalt mit der Reprivatisierung von in DDR-Zeit verstaatlichten Unternehmen befasst. Später war er an der Privatisierung des Berliner Energieversorgers BEWAG an VATTENFALL und am Konzessionsverfahren für das Gasverteilungsnetz der GASAG im Land Berlin beteiligt. 2014 erhielt er als Vertreter Deutschlands bei der Mission des Internationalen Währungsfonds in der Ukraine Einblicke in die Kooperation des staatlichen ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz mit den russischen Öl- und Gaskonzernen GAZPROM und Rosneft.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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