Kontinentaleuropa: Schwächelndes Deutschland und „La Grande Nation“

Der Verteidigungsexperte Gregory Copley ist Präsident der International Strategic Studies Association, geborener Australier und lebt in Washington. Er wirft in diesem Artikel einen Blick über den Teich – auf Frankreich, Deutschland und die Lage in Europa. 
Titelbild
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Kanzler Olaf Scholz am 10. März 2022 in Versailles.Foto: LUDOVIC MARIN/AFP via Getty Images
Von 16. Mai 2022

Allem innenpolitischen Chaos im Vorfeld der im Juni stattfindenden Parlamentswahlen zum Trotz ist Frankreich erneut zur dominanten Macht Kontinentaleuropas aufgestiegen.

In der EU und bei den NATO-Mitgliedstaaten sorgt der militärische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine für Panik und Angst, gleichzeitig deckt es jedoch die Schwächen auf, die sowohl der Europäischen Union als auch dem Nordatlantikpakt innewohnen.

Der Ukraine-Konflikt belebt keineswegs die traditionellen wirtschaftlichen und industriellen Stärken Westeuropas. Stattdessen enthüllt er die wirtschaftlichen, militärischen und industriellen Defizite der EU-Staaten, während sich für andere Staaten der Region – die Türkei beispielsweise – Möglichkeiten eröffnen, strategische Initiativen zu verfolgen, die den Interessen von NATO und EU zuwiderlaufen.

Deutsch-französische Rivalität

Parallel dazu zeichnet sich ein Machtgefüge ab, das der Containment-Politik ähnelt, die Frankreich und Großbritannien 1853 bis 1856 während des Krimkriegs verfolgten. Grundsätzlich ähneln die Machtverhältnisse eher denen von 1850 als denen des 20. Jahrhunderts oder der ersten beiden Jahrzehnte im 21. Jahrhundert.

Pro-EU-Analysten begrüßten den Wahlsieg von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Stichwahl am 24. April als Erfolg für die EU und als Rückschlag für das Lager der europäischen Nationalisten. Der Ukraine-Konflikt weckte zudem in der politisch-akademischen Welt die Hoffnung auf mehr Zusammenhalt der NATO-Mitglieder und mehr Effizienz bei den Rüstungsausgaben und dem weiteren Vorgehen. Doch diese Einschätzungen waren übereilt und oberflächlich.

Alte Sorgen bezüglich der französisch-deutschen Rivalität flackern wieder auf und nehmen zu. Hätte Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewonnen, hätte Frankreich einen Kurs eingeschlagen, der zu einer Lockerung oder einer vollständigen Aufgabe der EU-Mitgliedschaft geführt hätte. Der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen belegt, wie sehr die nationalistische und die EU-kritische Stimmung im Land zugenommen haben.

Le Pen gewann 41,5 Prozent der Stimmen, ein Indiz dafür, dass knapp die Hälfte der französischen Öffentlichkeit der EU relativ negativ gegenübersteht. Um dieser Stimmung entgegenzuwirken, könnte Macron in seiner zweiten Amtszeit Kapital daraus schlagen, dass Deutschland während der vergangenen Jahre in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht dramatisch an Macht eingebüßt hat.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist abgetreten und wurde durch den Sozialdemokraten Olaf Scholz ersetzt. Die Lücke, die dabei entstand, muss Macron besetzen, ihm bleibt keine andere Wahl.

Merkels Abgang war eine langwierige Angelegenheit und es zeichnete sich ab, dass an ihre Stelle eine schwache sozialdemokratische Regierung treten würde. Das wiederum bedeutete mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass ein Franzose Merkels Platz als „Europas Anführerin“ einnehmen würde.

Frankreich muss ein Gegengewicht zu Deutschland bilden, was die Dominanz in Europa anbelangt. Dieses Bedürfnis Frankreichs ist eine bis heute gültige historische Tatsache. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Frankreich diese Rolle ausfüllen und dass es dazu Mitglied in der EU bleiben muss.

Europa als „Grande Nation“ unter Führung Frankreichs

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten befindet sich Frankreich wieder in einer Position, Napoleons Konzept mit neuem Leben zu erfüllen und zu modernisieren. Wir sprechen von einem Europa als Grande Nation unter Führung Frankreichs und dem Ende des von Deutschland kontrollierten Euro, der ein Europa ermöglichte, das von Deutschlands Politik und Deutschlands Wirtschaftspolitik dominiert wurde.

Viele französische Wähler dürften die Aussicht – oder auch nur den Anschein – begrüßen, dass Paris nun endlich zur „wahren“ Hauptstadt Europas wird. Der Grund: Innerhalb der EU-Staaten gewinnt der Nationalismus – oder vielmehr das Nein zu einem zentralen und erstickenden Bürokratieapparat – weiter an Boden.

Macron unterdessen bleibt wenig Zeit, seine Wiederwahl zu feiern. Am 12. und 19. Juni werden alle 577 Sitze in der Nationalversammlung neu gewählt und vom Ausgang dieser Wahl hängt die Zusammensetzung der neuen französischen Regierung ab. Im alten Parlament hatte Macrons LREM eine klare Mehrheit, aber die Verhältnisse könnten sich nun ändern. Macron wird möglicherweise eine Koalition bilden müssen, um die von ihm angestrebten Gesetze durchzubringen … wenn er denn überhaupt so weit kommt.

Stärkere Nationalstaaten und die EU

Allgemein wird erwartet, dass Macron versuchen wird, ein Bündnis seiner LREM mit linken Parteien zu schmieden. Doch die wichtigsten Parteien im linken und rechten Spektrum haben aus unterschiedlichen Gründen angekündigt, die Zusammenarbeit zu verweigern.

Möglicherweise wird es Macron leichter fallen, in Einzelfällen zu einer Einigung mit Le Pens RN und der noch konservativeren Partei Reconquête von Eric Zemmour zu kommen als mit der radikalen Linken unter dem in Marokko geborenen Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise, LFI), der sich bei den bevorstehenden Wahlen aktiv um das Amt des Ministerpräsidenten bemüht.
Vor dem Hintergrund dieser Gefahr rief Zemmour die nationalistischen Parteien auf, für die Parlamentswahlen und im Anschluss die Reihen zu schließen: „Ohne dass sich die gesamte Rechte zusammentut, kann es keinen Wahlsieg geben. Unsere Koalition ist keine Option, sie ist eine Notwendigkeit. Sie ist eine Pflicht.“

Macron tritt vehement für die EU ein und lehnt den Brexit vehement ab. Dennoch ist seine Haltung deutlich konservativer und auf gewisse Weise „traditioneller“ als die Position der radikalen Linken um die alten Sozialisten, die Grünen oder die LFI.

All das spielt der stärker werdenden nationalistischen Strömung innerhalb der Europäischen Union in die Karten, und zwar nicht nur in Ungarn und Österreich, sondern auch in Italien, Polen und andernorts. Solange die EU allerdings weite Teile Europas in einer Art symmetrischer Geiselnahme festhält, kann Frankreich den seit 150 Jahren geltenden Auftrag nicht ignorieren und muss als Gegengewicht zu Deutschland agieren.

Wer wird auf dem Festland das Sagen haben?

Letztlich steuert alles still und heimlich auf eine große Auseinandersetzung zu – Frankreich oder Deutschland, wer wird auf dem europäischen Festland das Sagen haben? Der jüngste (und Prognosen zufolge anhaltende) wirtschaftliche Einbruch Deutschlands spricht dafür, dass Frankreich in den kommenden Jahren die Oberhand gewinnen wird – zumal, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland die Ausfälle bei der Versorgung mit russischer Energie wird kompensieren müssen.

So weit, so absehbar. Der russisch-ukrainische Konflikt hat Deutschland hochgradig anfällig für Energie-Engpässe gemacht, was zulasten der Wirtschaft gehen könnte. US-Präsident Biden hat zwar vorübergehende Lieferungen aus den strategischen Ölreserven seines Landes versprochen, aber auch damit käme Deutschland nicht lange hin, ohne dass Amerika gleichzeitig seine Energiesicherheit gefährdet.

Aus ideologischen Gründen lehnen es die SPD und der grüne Koalitionspartner ab, die deutschen Reaktoren oder stillgelegte Kohlekraftwerke wieder hochzufahren; dabei wären sie die einzige Möglichkeit, rasch Störungen bei der Erdgasversorgung auszugleichen und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es 2004 die damals unter Kanzler Gerhard Schröder regierende SPD war, die die Entwicklung von Nord Stream 2 vorantrieb und Deutschlands Abhängigkeit von russischer Energie auf diese Weise verstärkte.

Bei der aktuellen Krise geht es in erster Linie um Deutschlands politische und wirtschaftliche Malaise. Sie könnte dazu beigetragen haben, dass der Euro gegenüber dem US-Dollar und britischen Pfund auf den niedrigsten Stand seit fünf Jahren gefallen ist.

Auch Frankreich leidet unter innenpolitischen Problemen, aber nicht so stark wie Deutschland. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts hat Deutschland versprochen, seine Rüstungsausgaben massiv anzuheben. Diese Aussage könnte in den nächsten Jahren bedeutungslos werden, wenn die SPD sich immer größeren und dringenderen gesellschaftlichen Forderungen ausgesetzt sieht, die dann Vorrang vor einem größeren Rüstungshaushalt hätten.

Um wieder an Prestige und Verhandlungsmacht zu gewinnen, muss Macron seinen Zwist mit Großbritannien beilegen. Dass es ihm nicht gelang, nach dem Ausstieg der Briten aus der EU einen größeren Anteil der Fischerei-Erträge aus britischen Gewässern herauszuhandeln, hatte seiner Glaubwürdigkeit geschadet.

Macron benötigt Großbritannien als strategischen Verbündeten – nicht nur, um einem potenziell instabilen Deutschland etwas entgegensetzen zu können, sondern auch, um ein Gleichgewicht zu überregionalen Mächten wie den Vereinigten Staaten, Russland und China herzustellen.

In der zweiten Amtszeit Macrons könnte Frankreich einen deutlich nationalistischeren Kurs einschlagen. Das wiederum könnte den Beifall von Wählern finden, die in das Lager von Le Pen gewechselt waren, weil ihnen Macron der EU zu nahe stand.

Wichtig in diesem Zusammenhang: Auch Deutschland hat überzeugende Gründe, an seinem Verhältnis mit Großbritannien zu arbeiten, denn die Briten sind ein wichtiger Abnehmer deutscher Exportartikel.

USA lösten Haltung Europas gegen Russland aus

Dass sich Europa gegen Russland stellte, haben im Grunde die Vereinigten Staaten Ende 2021/Anfang 2022 ausgelöst. Ihre Führungsrolle beim Ringen mit Russland könnten die USA allerdings einbüßen, wenn die Regierung Biden bei den Zwischenwahlen im November Verluste hinnehmen muss oder wenn Biden, wie es hier und da spekuliert wird, vor dem Ende seiner ersten Amtszeit zurücktritt.

Ganz egal, wie es in den USA weitergeht: Russlands Handelsverbindungen zu Westeuropa wurden gewaltsam gekappt und daran dürfte sich in den nächsten zehn Jahren (mindestens) nicht viel ändern.

Und nehmen wir an, dass Russland aus dem Krieg mit der Ukraine – und dem Westen – stark geschwächt hervorgeht. In diesem Fall hätte der Konflikt das Absinken der EU in die Bedeutungslosigkeit sogar noch beschleunigt. Der einzige Existenzgrund der EU bestünde dann darin, als Sicherheitsnetz für den Fall zu dienen, dass Deutschland instabil wird oder ein extremer Nationalismus wieder aufflackert.

Gregory Copley ist Präsident der in Washington ansässigen International Strategic Studies Association. Der gebürtige Australier ist Mitglied der Order of Australia. Er ist Regierungsberater, Unternehmer, Autor und veröffentlicht im Bereich der Verteidigungspolitik. Sein aktuelles Werk heißt „The New Total War of the 21st Century and the Trigger of the Fear Pandemic“. 

Der Artikel erschien zuerst bei The Epoch Times USA: France Emerging as the Great Power of Continental Europe, (Übersetzung ms, leicht gekürzt).

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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