Nippon – das Land der aufgehenden Sonne, auch in der Flagge sichtbar, so nennt sich Japan nach uralter Tradition selbst. Ein echtes Morgenland, und der Europäer denkt sich nach alter abendländischer Tradition: Ex oriente lux – aus dem Osten kommt das Licht, kommt die Erleuchtung, kommt die Weisheit, kommt der Messias als Erlöser, kommt die Ewigkeit.
Denn im Osten lag nach alter Überlieferung der sagenhafte Paradiesgarten von Eden, der ideale Lebensraum des Menschen, wie er von Gott ursprünglich in der jüdischen und christlichen Überlieferung gedacht war und voll Hoffnung als zukünftige Wirklichkeit erwartet wird.
Deswegen heißt es in der Bibel – im
Buch Genesis im 4. Kapitel – von Kain nach dem Brudermord an Abel und der Verurteilung durch Gott: „So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.“
Ein Besuch in Japan
Der Mensch lebt vom Licht, körperlich wie geistig. Er lebt auf ein fernes, aber verheißungsvolles Ziel hin – jedenfalls in westlicher Tradition, nach linearer Zeitrechnung und in Erwartung von Fortschritt in der Zeit. Dies ist jedoch nicht der Fall im Buddhismus mit seiner zyklischen Zeitauffassung und einem ewigen Wechsel von Werden und Vergehen durch Wiedergeburten hindurch.
Vor zwei Monaten waren wir, ein Freund und Bundesbruder, selbst Sozialethiker und Schüler von mir, und ich, in Japan, dem Land von Shintoismus und Buddhismus: Tokyo, im Fuji-Nationalpark, in der alten Kaiserstadt Kyoto und natürlich in Nagasaki, dem „japanischen Rom“, wo, im Gegensatz zu 0,5 Prozent Katholikenanteil an der japanischen Gesamtbevölkerung, 5 Prozent katholisch sind. Dort besuchten wir die katholische Universität mit Professor Araki, katholischer Freund und ausgezeichneter Kenner von Land und Geschichte, die Stätten der Märtyrer von Nagasaki und der verborgenen Christen in der Zeit nach der Missionierung durch den heiligen Franz Xaver.
Immer wieder war uns die Frage des Kämmerers an den Apostel Philippus in der Apostelgeschichte gegenwärtig: „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?“ (
Apg 8, 36) Denn kein Land der Welt zeigt sich vermutlich so resistent gegenüber christlicher Mission wie Japan – bis heute. Überall ist das Christentum anerkannt und respektiert, doch es gibt kaum Bekehrungen. Im Gegenteil bestätigte uns der Erzbischof in Nagasaki: Die Zahl der Christen nimmt langsam aber stetig ab. Der Gedanke an ein ewiges Leben und ewiges Glück bei Gott als Ziel von Zeit und Geschichte ist den Japanern in der überwiegenden Mehrheit bis heute sehr fremd.
Eine Kultur der Ehre und der Scham
Im Gepäck hatten Marco und ich natürlich das berühmte Büchlein von Ruth Benedict „Chrysantheme und Schwert“ aus dem Jahre 1946 zu „Formen der japanischen Kultur“, worin sie erstmals überhaupt und auf Veranlassung der US-amerikanischen Regierung Roosevelt im Vorfeld des geplanten Abwurfs der Atombombe die japanische Mentalität untersuchte. Damals war die Intention der USA zu erkennen: Wird Japan nach dem Abwurf der Atombombe dem zu erwartenden Befehl des Tenno, des himmlischen Kaisers, zur bedingungslosen Kapitulation folgen oder sich in endlosem Guerillakrieg gegen die USA zerfleischen?
Benedict beschrieb, und siehe da, so kam es: Das Land folgte einmütig und ohne mit der Wimper zu zucken dem Befehl des Kaisers. Denn Japan denkt hierarchisch und traditionell, es folgt dem Vater, den Eltern, der Familie. Jeder an seinem Platz! Nichts gilt mehr und ist ehrenvoller. Chrysantheme und Schwert, Scham und Ehre sind seit Hunderten Jahren der Samurai-Herrschaft die Säulen der Gesellschaft. Benedict notierte: „Offene Mißachtung von Autorität wird aufs Strengste bestraft!“ Wer Ehre im Leib hat, folgt dem Vater, der Familie, dem Kaiser.
Wie ganz anders hingegen Sophokles mit seiner Hauptfigur Antigone im gleichnamigen Drama der alten Griechen! Autorität? Nein, Gewissen! Gegen die Autorität des Königs und ihres Stiefbruders reklamiert sie: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!“
Manche Zeitgenossen – mich eingeschlossen – halten Japan für die einzige Europa ebenbürtige Zivilisation außerhalb Europas. Das führt aber zu der interessanten Frage: Wenn Japan eine Kultur der Ehre und der Scham ist, wo man es außerhalb der Familie eher vermeidet, einem hilfsbedürftigen Menschen zu helfen, nicht aus Hartherzigkeit, sondern um ihn nicht zu beschämen, weswegen auch der japanische Sozialstaat ausgesprochen mager daherkommt: Was für eine Kultur ist Europa?
Eine Kultur der Schuld und Verantwortung
Vielleicht ist es auf der Grundlage von altbabylonischen Gesetzestafeln, altägyptischem Totengericht und altisraelitischem Glauben an Jahwe tatsächlich eine Kultur der Schuld. Mehr jedenfalls als eine Kultur der Ehre und der Scham. Eine Kultur der geschuldeten Verantwortung und des inneren Gewissens, das ehern und unbestechlich auf die immer gleichbleibende Pflicht des Menschen verweist: Ja, Du bist der Hüter Deines Bruders! Selbst (und gerade), wenn er nicht zur Familie gehört oder Dir fremd und feindlich ist.
So entwickelt sich aus Sippenliebe Nächstenliebe, Fernstenliebe und Solidarität. Einzulösen als Weitergabe der von Gott geschenkten Erlösung ist der berechtigte Anspruch eines anderen Menschen auf Hilfe durch mich und das Recht auf Förderung der jeweils schwächeren Menschen.
Daraus entwickelt sich eine typisch europäische Ethik der Ordnung von Verantwortung: anders im Staat mit begrenzten Räumen von Solidarität, anders in der Familie mit unbegrenzter Antwort von Liebe und Fürsorge. Wir schulden als Menschen einander Respekt und Toleranz im Staat, darüber hinaus aber Liebe und Vergebung in Familie und Freundschaft. Und in dieser Sicht und angesichts der aufgehenden Sonne von ewiger zukünftiger Liebe sind alle hergebrachten und altgewohnten Hierarchien aufgehoben und überwunden: Vor Gott zählt jeder Mensch und jeder ganz und gar, absolut und unbedingt.
Von der Pflicht, mitmenschlich zu sein
Das exakt feiern wir als Christen an Weihnachten: Gott wird Mensch und erinnert uns mit dieser Liebe von der Krippe bis zum Kreuz an unsere verflixte Pflicht und Schuldigkeit mitmenschlich und mitliebend sein Abbild zu sein. Und besonders das schwache und arme menschliche Leben zu lieben und zu fördern.
Und diese Menschwerdung Gottes wird nach europäischer Tradition, nicht zuletzt durch so unterschiedliche Philosophen der Neuzeit wie Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant, unmittelbar politisch greifbar, in der Form eines Sozialstaates, der in sterblicher Weise den unsterblichen Gott abbildet, der doch selbst Abbilder von sich wollte und unsere Verantwortung anfragt: Abbilder seiner nicht begrenzten Liebe sollen wir sein.
Sozialstaaten fallen nicht vom Himmel? Doch, und letztlich fallen sie nur vom Himmel! Allerdings müssen sie auf Erden bezahlt werden … Aber das ist ein anderes, neues und höchst kompliziertes Kapitel, jenseits von Eden und jenseits von Japan. An Weihnachten jedenfalls ist alles gratis, wie echte Liebe und echte Vergebung es immer ist, reine Gnade, wie jede echte Freundschaft unter Menschen auch: Vorleistung Gottes, damit wir nachdenken können und auf ihn zuleben dürfen! Denn nach dem Dürfen fragt der freie Christenmensch, nach dem Müssen fragt nur der gezwungene Lastenträger.
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