Droge Auto: Klaus Gietinger fordert radikale Verkehrswende und „gemeinschaftliche“ Entziehungskur

"Das E-Auto ist keine Lösung", so Sozialwissenschaftler Klaus Gietinger. Der Autor erklärt in seinem neuen Buch, warum Autos an sich keine Zukunft haben: "Sie sind Teil des Problems und haben das Land erst arm gemacht."
Titelbild
Die Bürger brauchen eine "gemeinschaftliche" Entziehungskur von der "Droge" Auto. Autor Klaus Gietinger sieht auch im E-Auto keine Lösung. Es ist Teil des Problems.Foto: i-Stock
Von 3. September 2019

Unter dem Titel „Vollbremsung. Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkommen“ erschien kürzlich Klaus Gietingers Anti-Auto-Buch. Der Sozialwissenschaftler versucht darin zu erklären, warum selbst das E-Auto Teil des Problems statt der Lösung ist. „Der Standard“ sprach mit dem Autor über seine Vision einer autofreien und doch mobilen Zukunft.

Gietinger wurde 1955 im Allgäu geboren und beschreibt sich selbst weder als Wutbürger noch als Autohasser. Trotzdem hat sein neustes Buch eine klare Botschaft: „Das Auto muss weg.“ Sein letztes Auto habe er bereits vor 35 Jahren abgeschafft und verlässt sich seitdem auf Fahrrad und öffentlichen Nahverkehr.

Vom einstigen Auto als Freiheitsbringer hält Gietinger nicht mehr viel, vielmehr habe das Auto „das Land arm gemacht.“ Ganz ohne Autos geht es dann in Geitingers Zukunft nicht. „Natürlich braucht man Feuerwehrautos, Krankenwagen etc. Aber das Privatauto eskaliert immer mehr. […] Es gibt immer mehr Tote, immer mehr Umweltverschmutzung, und vor allem das CO2 nimmt gerade beim Auto, beim Verkehr immer mehr zu.“

Mehr CO2 trotz sinkender Abgas-Emissionen!?

Die Auswertungen des Bundesumweltamtes zeigen, dass Gietingers Aussage nicht der Wahrheit entspricht. „Mehr CO2“ ist unkorrekt, denn trotz deutlich zunehmendem Verkehr sind die verkehrsbedingten Emissionen seit der Jahrtausendwende neun Jahre konstant gesunken. Erst in den letzten Jahren ist ein erneuter, leichter Anstieg zu verzeichnen.

2014 lagen die Emissionen im Verkehrssektor immer noch unter dem Niveau von 1990. Während damals nur etwa 30 Millionen PKW zugelassen waren, fuhren 2015 schon 44 Millionen PKW. Bei etwa gleichbleibenden Gesamtemissionen des Verkehrssektors bedeutet dies eine Verringerung der Emissionen im Verkehrssektor um etwa 30 Prozent pro gefahrenem Kilometer. Durch die nahezu unveränderten Gesamtemission entsteht jedoch der Eindruck, dass der Verkehrssektor „genauso dreckig wie vor 25 Jahren“ ist.

Die Gesamtsumme der bundesdeutschen Kohlenstoffdioxid-Emissionen sind im gleichen Zeitraum von 1.248 Millionen Tonnen CO2 (1990) auf 902 Millionen Tonnen (2014) gesunken. Das entspricht einer Verringerung um 27,7 Prozent. Bis zum Minus-40-Prozent-Ziel der Bundesregierung für 2020 (749 Mio. t CO2) fehlen jedoch noch ein paar Prozent.

Luft hat keine Balken

Im Interview mit dem Standard erläutert Gietinger weiter, dass das Auto das unsicherste Fortbewegungsmittel ist. „In Deutschland haben wir 3500 Tote auf der Straße. […] Stellen Sie sich vor, die Eisenbahn oder das Flugzeug hätten so viele Tote. Die dürften weder fliegen noch fahren“, so der Autor.

Tatsächlich: Busse, Bahnen oder Flugzeuge dürften sich bei vergleichbaren Zahlen Verkehrstoter keinen Zentimeter bewegen, geschweige denn Menschen transportieren. Allerdings wird hierbei mit mindestens zweierlei Maßstab gemessen.

Rein auf die Zahlen bezogen, ist das Flugzeug mit 0,3 Toten pro Milliarde zurückgelegter Kilometer das sicherste Verkehrsmittel der Welt. 2018 starben weltweit etwa 500 Menschen bei Flugzeugabstürzen – Kleinflugzeuge nicht berücksichtigt. Im Zug starben 2,7 Menschen pro Milliarde Kilometer, im Auto sogar 276 pro Milliarde Kilometer. Bahnen und Autos legen jedoch deutlich geringer Strecken zurück als Flugzeuge.

Pro Milliarde Personenkilometer (Anzahl der Insassen multipliziert mit der zurückgelegten Strecke) starben 2000 bis 2009 auf der Schiene 0,31 Menschen, im (Reise-)Bus 0,19 Insassen und im PKW 2,4 (Mit-)Fahrer, schreibt die Welt unter Berufung auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes.

„Das Massenvernichtungsmittel verantwortlich für 50 Millionen Krüppel“

Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2018 immerhin 3.275 Menschen aufgrund von Verkehrsunfällen oder ihren Folgen. 2017 waren es tatsächlich weniger (3.108 Tote), die Gesamtentwicklung in den letzten 50 Jahren ist jedoch stark rückläufig, so der ADAC.

Starben 1970 etwa 20.000 Menschen bei Verkehrsunfällen und an ihren Folgen, ist diese Zahl bis heute um knapp 85 Prozent gesunken. Von Gietingers „Massenvernichtungsmittel, das in einigen Jahren 50 Millionen Krüppel produziert“, kann daher nicht die Rede sein.

Es stimmt, die meisten Menschen im Straßenverkehr sterben nach wie vor im Auto, mit ihm werden jedoch auch weit über die Hälfte aller Wege zurückgelegt. Etwa halb so viele Getötete fuhren Motorrad oder Moped. Danach folgen Fahrradfahrer und Fußgänger mit ähnlichen Todeszahlen.

Güterverkehr und Busse sind dagegen die sichersten Verkehrsmittel, wobei im Bus 2018 mit neun Todesfällen mit Abstand die wenigsten Menschen starben. Das zeigt zugleich, dass Verkehrsmittel mit Berufsfahrern (Busse oder LKW) deutlich sicherer sind als private Verkehrsmittel.

Weniger Autos = weniger Tote = mehr Fahrräder?

Auch Gietinger bestätigt, dass das Autofahren deutlich sicherer geworden – vor allem für die Autofahrer. Als Fahrradfahrer oder Fußgänger sehe das anders aus. Während die Zahl der getöteten Fahrradfahrer von 2015 bis 2018 um 16 Prozent auf 445 gestiegen ist, ist die Zahl der getöteten Fußgänger im selben Zeitraum aber um 15 Prozent gesunken.

Wenn Radfahrer „noch schnell“ bei Dunkel-Orange über die Kreuzung huschen, ist es wahrscheinlicher, dass ihnen etwas passiert, als dem – gewohnheitsmäßig – vorausschauenden Busfahrer, der bei Gelb tatsächlich steht. Im Straßenverkehr gilt der Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme – auch für Radfahrer in Eile.

Doch Autos sind nicht nur ein Massenvernichtungsmittel, so der Autor, sondern auch ein gewaltiger Haufen „Blechmüll“, der öffentliche Räume „privat belegt“. Flächen, die andernfalls durch Fahrräder genutzt werden könnten.

Autohändler: Der „Drogendealer“ der Moderne

Darüber hinaus sind Autos laut Gietinger, der Grund, dass wir überhaupt Autos brauchen. „Immer mehr Menschen ziehen an den „automobilkreierten Ar***der Welt“ – freiwillig – und fahren dann immer weiter, um die Kinder in die Schule, zu Freunden oder zum Pferdehof zu fahren.“ Wer einmal die „Droge“ Auto gekostet habe, will sie nicht mehr missen – auch in dem Wissen, dass Drogen mitunter tödlich wirken.

Früher, so Gietinger, gab es Kinos, Kneipen, Tante-Emma-Läden, sowie Eisenbahn und Bahnhof in fast jedem Ort. Mit der automobilen General-Mobilmachung verlor nicht nur Tante Emma ihre Lebensgrundlage, sondern das Land seine Originalität und seine Struktur. „Das Auto hat das Land erst arm gemacht.“

Natürlich sorge die Automobilindustrie für viele Arbeitsplätze und hohe Wertschöpfung. Geht es nach Gietinger, dürfte das Auto jedoch kein Sonderstatus bekommen. Andere Verkehrsmittel wären ebenso, wenn nicht sogar wichtiger. Dass in den öffentlichen Verkehrsbetrieben in den letzten Jahren massiv Stellen abgebaut wurden, scheint die Autofahrer laut Gietinger jedoch nicht zu stören.

Keine Autos beleben das Geschäft – in einer spanischen Küstenstadt

Wie alle Drogen verschlingt auch das Auto enorme Geldbeträge. Gietinger beruft sich auf eine „kürzlich herausgekommene Studie“ nach der sich die externen Kosten des Verkehrs „etwa Umweltverschmutzung, Unfälle etc.“ auf 150 Milliarden Euro belaufen. Etwa 140 Milliarden davon entfielen allein auf den Autoverkehr, dieses Geld könne man viel besser in „vernünftige Projekte“ investieren.

Dass es auch ohne Autos geht, beweise das spanische Ponte Vedra, eine Kleinstadt mit „nahezu autofreier Innenstadt“. Laut Gietinger funktioniert es prima, die Geschäfte haben mehr Kunden. „Solche Sachen werden überall in Europa kommen müssen.“

Die Kartendaten und das Luftbild der 82.000-Einwohner-Stadt verraten, dass lediglich die Altstadt autofreie Zone ist. Die sie umschließende Straße ist mindestens vierstreifig ausgebaut.

Radikale Verkehrswende und „gemeinschaftliche“ Entziehungskur

Auch vom allgemeinen Hoffnungsträger E-Auto hält Gietinger nicht viel. „Da habe ich trotzdem den gleichen Platzverbrauch und die gleichen Gefahren für Fußgänger und Radfahrer.“

Ganz abgesehen davon sei die Umweltverschmutzung nur verlagert wurden. Der Strom komme nach wie vor aus dreckigen Kraftwerken und die Rohstoffe für die E-Autos unter denkwürdigen Bedingungen aus der Dritten Welt. „Es muss ein anderes Verkehrskonzept her.“

E-Autos besetzten in Gietingers Vision nur noch „irgendwelche Nischen […] bei Polizei, Feuerwehr, Sammeltaxis“. Dafür feiert der O-Bus sein Comeback. Im Gegensatz zu Batterie-elektrischen Fahrzeugen, bräuchte der keinen schweren Akku, keine seltenen Erden und hätte deutlicher weniger Verlustleistung.

Dass die Bürger freiwillig auf ihre Autos verzichten, sieht Gietinger kritisch – und will sie dazu zwingen. Statt eines „staatlichen Entwöhnungsprogramms“ – „das klingt so böse“ – empfiehlt er eine „gemeinschaftliche“ Entziehungskur.

Um das eigene Auto so unattraktiv wie möglich zu gestalten, fordert er bundesweite Tempolimits, die noch unter den Forderungen der Grünen liegen: In geschlossenen Ortschaften 30, auf der Landstraße 70 und auf der Autobahn 100. „Und Parkplätze müssen teurer werden.“

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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