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Konzentration auf das Wesentliche

Der Lehrplan des Aristoteles: Vier Fächer, die den Charakter bilden

Einem der bekanntesten antiken Philosophen zufolge müssen junge Menschen in nur vier Fächern unterrichtet werden, um sie auf ein gutes und gelungenes Leben vorzubereiten.

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Nach Aristoteles sollte der Lehrplan für junge Menschen die Fächer Lesen und Schreiben, Gymnastik, Musik und Zeichnen umfassen.

Foto: Biba Kayewich, The Epoch Times

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Lesedauer: 12 Min.

Die Wurzeln der westlichen Bildungstheorie reichen bis zu Platon und seinem Schüler Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christus zurück. Beide Philosophen schrieben über Bildung und entwarfen eine Theorie über die wahren Ziele und Methoden des Lernens.
Im achten Buch des Werkes „Politik“ schlug Aristoteles ein Studienprogramm für junge Menschen mit nur vier Fächern vor: Lesen und Schreiben, Gymnastik, Musik und Zeichnen. Damit besticht der Lehrplan durch Einfachheit, die dennoch ein tiefes Verständnis der menschlichen Natur und der Ziele der Bildung beinhaltet.

Zu einfach oder einfach genial?

In modernen Ohren klingt dieses Studienprogramm unzureichend. Was ist mit Mathematik und Naturwissenschaften? Was ist mit Sozialkunde und Geschichte? Oder das antike griechische Äquivalent zur Computerprogrammierung – zweifellos das Handwerk zur Herstellung von Sonnenuhren? Schüler, die nur diese vier Fächer studierten, wären nicht einmal ansatzweise gebildet. Oder etwa doch?
Um die Weisheit hinter diesem Bildungskonzept zu verstehen, müssen wir nachvollziehen, wie Aristoteles die einzelnen Begriffe verstand und welche Überlegungen hinter seiner Auswahl steckten. Nur wenn wir den größeren Zusammenhang seiner Bildungstheorie im Auge behalten, wird Aristoteles‘ Lehrplan klar und verständlich.

Büste von Aristoteles aus Marmor. Römische Kopie nach dem griechischen Bronze-Original von Lysippos, um 330 vor Chr.

Foto: Gemeinfrei

Lelouda Stamou, Professorin für Musikwissenschaft und Kunst an der Universität von Mazedonien, erklärt: „Aristoteles stimmt mit Platons Definition von richtiger Erziehung überein, die darin besteht, dass man lernt, Vergnügen oder Schmerz richtig zu empfinden. Dies bedeutet die Entwicklung einer Vorliebe für das Edle und Gute und eines Widerwillens gegen das Unmoralische.“
In diesem Sinne wollen wir uns die vier Fächer nacheinander ansehen.

1. Lesen und Schreiben

Für Aristoteles war das Hauptziel der Bildung nicht zweckgebunden. Es ging in erster Linie nicht um die berufliche Ausbildung, die politische Vorbereitung oder den Erwerb von Fähigkeiten, um im Leben voranzukommen – obwohl er anerkannte, dass diese Dinge ebenfalls wichtig sind.
Stattdessen vertrat Aristoteles die Ansicht, dass einige Dinge um ihrer selbst willen studiert werden sollten, weil sie veredelnd, vervollkommnend und erhebend sind. Bei der Bildung gehe es ihm vor allem um Charakterbildung.
In „Politik“ schreibt er: „Es ist also offensichtlich, dass es eine Art von Erziehung gibt, in der Eltern ihre Söhne ausbilden sollten, nicht weil dies nützlich oder notwendig ist, sondern weil es liberal oder edel ist.“
Aristoteles unterschied deutlich zwischen beiden: „Es gibt Zweige des Lernens, die man nur im Hinblick auf die Muße der intellektuellen Tätigkeit studieren muss, und diese sind um ihrer selbst willen zu schätzen; während jene Arten von Wissen, die im Geschäft nützlich sind, als notwendig zu betrachten sind und um anderer Dinge willen existieren.“
Das Studium des Lesens und Schreibens fällt nach Aristoteles in beide Kategorien. Es hat einen offensichtlichen praktischen Nutzen bei der Abwicklung von Geschäften oder in der Politik. Aber es kann auch ein Selbstzweck sein, wenn jemand ein Werk zum Vergnügen oder Selbststudium liest und seinen Geist erhöht. Diese Art der Lektüre dient keinem anderen Zweck als der bereichernden und veredelnden Wirkung, die sie auf den Leser hat.
Es ist wichtig zu beachten, dass das Lesen und Schreiben, das Aristoteles hier im Sinn hatte, laut Stamou auch das Studium der Poesie einschloss. Die Arbeit des Schülers in der Sprachkunst enthielt also neben dem praktischen Zweck auch einen kreativen und emotionalen Aspekt.
Zeit ist kostbar, nutze sie bewusst.

Lesen ist nicht nur notwendig, um seinen Geist zu erhöhen, sondern auch um seiner selbst Willen zu schätzen.

Foto: Beli_photos/iStock

2. Gymnastik

Als Aristoteles den Begriff „Gymnastik“ verwendete, bezog dies sich nicht nur auf eine Übung auf dem Schwebebalken, sondern war viel weiter gefasst. Stamou erklärt: „Mit Gymnastik meint er ein ganzes Spektrum an körperlichen Ertüchtigungen.“
Der Pädagoge John Senior geht noch weiter und erklärt, dass Gymnastik der Prozess sei, durch den ein Schüler lernt, seinen Körper zu gebrauchen, und durch den er in direkten Kontakt mit der Welt kommt. So war in der griechischen Kultur traditionell die erste Stufe der Bildung „ein kräftiges Training des Körpers in der Gymnastik, dessen Zweck sich nicht einfach in Erholung und Gesundheit erschöpfte, sondern das Schärfen der Sinne koordinierte, so wie die Sehkraft etwa durch Bogenschießen trainiert wird“.
Erstaunlicherweise war Aristoteles der Meinung, dass sich die Erzieher mehrere Jahre lang auf diese Art von Training konzentrieren sollten, bevor sie etwas anderes einführten. Die Schulung des Körpers und seiner Sinne bereitet laut Aristoteles den Weg für das spätere Lernen. „Gymnastik ist die erste Grundlage allen Lernens“, bestätigt Senior. Nichts kommt in den Verstand, wenn es nicht zuerst in die Sinneswahrnehmung des Menschen eingeht.
Aristoteles vertrat die Ansicht, dass wir als unbeschriebene Blätter beginnen und Wissen und Verständnis langsam in unseren Geist eindringen – zunächst über die Sinne. Erst nachdem wir zum Beispiel Bäume gesehen haben, können wir das Konzept eines Baumes verinnerlichen und damit beginnen, weiter über Bäume nachzudenken.
Wenn der Körper und die Sinne eines Schülers nicht gut geschult sind, um die Welt wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren, fehlt ihm ein Teil der unverfälschten Sinneserfahrung, auf der alles andere Lernen aufbaut. „Nun ist klar“, schrieb Aristoteles, „dass in der Erziehung die Praxis vor der Theorie eingesetzt und der Körper vor dem Verstand geschult werden muss.“
Gymnastik gehört für Aristoteles zur Schulung eines guten Menschen dazu

Sport und Gymnastik sind die Grundlage für einen gut geschulten Menschen.

Foto: kzenon/iStock

3. Zeichnen

Wie die Gymnastik kann auch das Zeichnen die Sinne schärfen, da es genaue Beobachtung und Aufmerksamkeit erfordert. Ein guter Künstler muss sein Motiv eingehend betrachten, um es akkurat auf Papier zu bringen.
Das Zeichnen schult die Konzentration, die Aufmerksamkeit für Details und die Fähigkeit der Schüler, die Welt um sich herum genau wahrzunehmen. So lernt er Formen, Farben und Kurven zu erkennen.
Aristoteles glaubte auch, dass das Zeichnen die Seele eines Schülers auf die Schönheit der Welt einstimmen kann. Er schrieb zum Beispiel, dass das Zeichnen „den Schüler zum Richter über die Schönheit der menschlichen Form macht“. Durch das Zeichnen ist also eine Grundausbildung in Ästhetik im Lehrplan integriert.
Zeichnen gehört für Aristoteles zur Schulung eines guten Menschen dazu

Menschen, die zeichnen, schulen ihre Aufmerksamkeit und den Blick für Details.

Foto: Oleksandr Todorov/iStock

4. Musik

Während Gymnastik den Körper und die Sinne des Schülers entwickelt, schulen die anderen drei Fächer – Lesen und Schreiben, Musik und Zeichnen – die Gefühle, die Vorstellungskraft und den Intellekt des Schülers.
In seinem Werk geht Aristoteles besonders tief auf die Rolle der Musik ein und ihre Wirkung auf den Geist und das Herz des Schülers. Für ihn war die Musik das deutlichste Beispiel für ein Fach, das um seiner selbst willen studiert wird – wegen der Art und Weise, wie es den Schüler vervollkommnet.
In seiner Analyse erinnert Aristoteles seine Leser zunächst an den höchsten Bildungsgewinn: einen Geist und ein Herz, die in Tugend geformt sind. „Die Tugend besteht darin, sich zu erfreuen und das Rechte zu lieben oder zu verabscheuen“, schreibt er und fügt hinzu: „Es gibt offensichtlich nichts, was wir so sehr erwerben und kultivieren müssen wie die Fähigkeit, richtige Urteile zu fällen und uns an guten Gesinnungen und edlen Handlungen zu erfreuen.“
Und genau dazu ist die Musik laut Aristoteles imstande. Ihre emotionale Anziehungskraft ermöglicht es, Gefühle zu entwickeln und den Charakter in Übereinstimmung mit der Vernunft zu formen:
Rhythmus und Melodie liefern Nachahmungen des Zorns und der Sanftmut, aber auch des Mutes und der Mäßigung und aller diesen entgegengesetzten Eigenschaften sowie der anderen Charaktereigenschaften, die, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, kaum hinter den eigentlichen Neigungen zurückbleiben, denn beim Hören solcher Töne erfährt unsere Seele eine Veränderung. Die Gewohnheit, bei bloßen Vorstellungen Freude oder Schmerz zu empfinden, ist nicht weit entfernt von demselben Gefühl für Wirklichkeiten.“
Aristoteles zufolge kann Musik die Gefühle der Schüler so schulen, dass sie auf die Freuden und Leiden, denen sie im wirklichen Leben begegnen, angemessen reagieren.
Musik gehört für Aristoteles zur Schulung eines guten Menschen dazu

Das Musizieren vervollkommnet in den Augen des Aristoteles einen Menschen.

Foto: romrodinka/iStock

Mehr als Freizeit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Aristoteles eine klare Struktur in der Erziehung von Kindern vor Augen hatte. Sie basierte auf dem Körperlichen, bezog das Emotionale mit ein und baute auf dem Rationalen auf.
Stamou resümiert: „Der Erziehungsprozess muss mit der Ausbildung des Körpers beginnen, zur Ausbildung des Appetits – dem Geschmack für das Edle – übergehen und in der Ausbildung der Vernunft gipfeln.“
„Wer immer nur nach dem Nützlichen strebt, wird nicht zu einer freien und erhabenen Seele“, argumentierte Aristoteles. Das Nützliche, das Pragmatische, das Monetäre – all diese Dinge werden um eines anderen Willen angestrebt.
Dieses andere, so Aristoteles, sei die Muße, die nur von einem tugendhaften Menschen in vollem Umfang genossen werden könne. Aristoteles stellte sich eindeutig eine Kategorie von Studien vor, die über das Praktische hinausgehen und darauf abzielen, junge Menschen in Tugend zu erziehen und sie auf die volle Erfahrung wahrer Muße vorzubereiten. Aristoteles glaubte, dass Muße nicht nur bloße Unterhaltung oder Erholung ist, sondern eine tiefe und kontemplative Begegnung mit der Güte der Wirklichkeit selbst.
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Aristotle’s Curriculum: 4 Subjects That Build Character“. (redaktionelle Bearbeitung kms)
Prior to becoming a freelance journalist and culture writer, Walker Larson taught literature and history at a private academy in Wisconsin, where he resides with his wife and daughter. He holds a master\'s in English literature and language, and his writing has appeared in The Hemingway Review, Intellectual Takeout, and his Substack, The Hazelnut. He is also the author of two novels, \"Hologram\" and \"Song of Spheres.\"

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