Logo Epoch Times

Meinung

Maya Mizrachi

Die Selbsttäuschung, die uns zerstört

Wir lernen, andere nicht zu belügen, doch die Lügen, die wir uns selbst erzählen, manipulieren Erinnerungen und verdunkeln unser moralisches Urteil. Nur durch ehrliche Selbstbetrachtung oder den Blick eines Außenstehenden, wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, können wir der Selbsttäuschung entkommen.

top-article-image

Das Volksmärchen „Des Kaisers neue Kleider“ (1837) von Hans Christian Andersen hat seine Wurzeln in einer Sammlung spanischer Geschichten aus dem 14. Jahrhundert und möglicherweise sogar noch früher. Illustration von Vilhelm Pedersen (1820 - 1859)

Foto: Gemeinfrei

0:00
author-image
Artikel teilen

Lesedauer: 7 Min.

„Vor allen Dingen: belügen Sie nicht sich selbst! Wer sich selbst belügt und an seine eigene Lüge glaubt, der kann zuletzt keine Wahrheit mehr unterscheiden, weder in sich noch um sich herum; er achtet schließlich weder sich selbst noch andere. Wer aber niemand achtet, hört auch auf zu lieben und ergibt sich den Leidenschaften und rohen Genüssen, um sich auch ohne Liebe zu beschäftigen und zu zerstreuen“, schrieb Fjodor Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“.

Von klein auf wird den meisten von uns beigebracht, ehrlich zu sein und niemals zu lügen. Dies führt dazu, dass wir Lügner oft mit Argwohn betrachten und das Vertrauen in sie verlieren. Doch paradoxerweise lernen wir kaum etwas über die Lügen, die wir uns ständig selbst erzählen.

Manipulation der Erinnerung: Der Ursprung der Selbsttäuschung

Nehmen wir als Beispiel die am weitesten verbreitete Form der Selbsttäuschung. Dabei handelt es sich nicht um die Lüge, die wir anderen erzählen und selbst glauben, sondern jene Lüge, die entsteht, sobald wir unsere Erinnerungen manipulieren: Wir haben jemandem Unrecht getan und empfinden Reue, doch anstatt uns zu entschuldigen, tun wir so, als wäre nichts passiert.

In unserem Kopf treffen wir die Wahl, wie wir uns an einen Vorfall erinnern. Auf diese Weise erschaffen wir eine Selbsttäuschung. Wie Friedrich Nietzsche sagt: „‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ Im Ergebnis bleibt der Eindruck, als hätten wir keiner Fliege etwas zuleide getan.

Ähnlich ist die Erzeugung falscher Erinnerungen oder Fantasien. Eine Begierde nach einer fremden Person kann der Beginn einer solchen Selbsttäuschung sein. Auch Angst ist oft mit Bildern und Vorstellungen verbunden, die durch unser Unterbewusstsein erzeugt werden. Manchmal ist darin nicht einmal ein Funken Wahrheit enthalten.

Eine weitere häufige Form der Selbsttäuschung tritt auf, wenn wir unseren Partner verzerrt wahrnehmen und ihm Eigenschaften andichten, um einen Streit mit ihm zu rechtfertigen, oder wenn ein Kind sich einredet, ein anderes Kind habe „es verdient“.

Antike Weisheit und moderne Erkenntnisse

Bereits in der Antike galt Selbsttäuschung als schwerwiegendes Problem. Sokrates wird in einem von Platons Dialogen mit den Worten zitiert, „denn von sich selbst hintergangen zu werden ist doch das allerärgste“. Für ihn zeigte sich die Selbsttäuschung bei Menschen, die „sich selbst nicht kennen“ (ein Spruch, der einer alten Inschrift in Delphi entnommen ist: „Erkenne dich selbst“), sowie bei Menschen, die nicht im Einklang mit sich selbst sind, und bei jenen, die ihren Begierden freien Lauf lassen. Platon und Sokrates glaubten, dass die Vernunft das menschliche Verhalten leiten solle. Wer sich selbst belügt, entfremdet sich von sich selbst und seinem klaren, rationalen Denken.

In der Aufklärung betrachtete der schottische Philosoph Adam Smith, der als Vater der modernen Ökonomie gilt, Selbsttäuschung als ein großes Hindernis für Wissen und moralisches Verständnis. Ein Mensch, der sich selbst täuscht, denke gut von sich und ignoriere seine moralischen Fehler. „Dieser Selbstbetrug, diese verhängnisvolle Schwäche bildet die Quelle, aus der vielleicht die Hälfte aller Zerrüttungen des menschlichen Lebens entspringt“, schrieb Smith in seinem Werk „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759) [Anm. d. Red.: Übersetzung von Walther Eckstein, 1926].

„Sähen wir uns in dem Lichte, in welchem andere uns sehen, oder in dem sie uns sehen würden, wenn sie alles über uns wüßten, dann wäre im allgemeinen eine Änderung zum Besseren unvermeidlich. Wir könnten sonst den Anblick nicht ertragen.“ Laut Smith gibt es einen Weg, um Selbsttäuschung zu erkennen. Die Natur habe uns diese Schwäche nicht ganz ohne Heilmittel überlassen.

Kognitive Dissonanz und der Weg zur Wahrheit

Im letzten Jahrhundert trug der amerikanische Psychologe Leon Festinger zu der Erkenntnis bei, dass Selbsttäuschung unter anderem durch „kognitive Dissonanz“ entsteht – einen Zustand, in dem eine Person zwei Kognitionen (Überzeugungen, Ideen, Meinungen) vertritt, die nicht miteinander vereinbar sind.

Zum Beispiel: „Ich bin ein guter Mensch“, aber „ich habe gerade jemanden verletzt“; „ich glaube, ich bin klug und talentiert“, aber „ich arbeite in einem einfachen Job, der kein Denken erfordert und mich nicht voranbringt“; oder „ich achte auf meine Gesundheit“, aber „manchmal rauche ich eine Zigarette“.

Solche Dissonanzen erzeugen psychisches Unbehagen, das der Mensch zu lindern versucht – etwa durch Selbsttäuschung, die ein falsches Narrativ im Kopf erschafft.

Da Selbsttäuschung verheerende Folgen haben kann – wie zerstörte Beziehungen, Selbstschädigung oder das Verletzen Unschuldiger –, ist es offensichtlich, dass wir die Lügen, die wir uns selbst erzählen, eindämmen müssen. Auf diese Weise vermeiden wir, anderen zu schaden und unsere Beziehungen aufs Spiel zu setzen. Das Ergebnis ist ein friedvolleres Leben, in dem wir unsere Energie auf bedeutungsvolle Dinge richten – oder, wie Sokrates es ausdrückte, uns selbst erkennen.

Der wichtigste Weg dazu ist die Selbstreflexion unserer Gedanken und der Verzicht auf die Gewohnheit, uns selbst zu täuschen. Sollte dies nicht gelingen, benötigen wir vielleicht eine ehrliche Person in unserem Umfeld, die uns die Realität aufzeigt, wie sie wirklich ist – so wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen. Da rief ein kleiner Junge: „Aber der Kaiser ist nackt!“, und machte damit allen klar, dass der Kaiser und das gesamte Königreich getäuscht worden waren.

Dieser Artikel erschien im Original auf epoch.org.il unter dem Titel תמונה למחשבה: ההונאה העצמית שהורסת אותנ. (deutsche Bearbeitung sza)

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.

Kommentare

Noch keine Kommentare – schreiben Sie den ersten Kommentar zu diesem Artikel.