Staatsglaube trotz Staatsversagens: NZZ-Experte richtet zum Abschied kritische Worte an Deutschland

Als im Sommer 2006 die Fußball-WM in Deutschland stattfand, konnte man das Land als „sympathischen europäischen Hegemon“ wahrnehmen, schreibt der scheidende NZZ-Wirtschaftskorrespondent in Berlin, Christoph Eisenring. Mittlerweile jedoch herrsche die Lust an der Apokalypse vor.
Titelbild
Deutschland leide, so der langjährige Wirtschaftskorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Berlin, Christoph Eisenring, an einem sogenannten Gulliver-Syndrom.Foto: iStock
Von 3. September 2019

Der langjährige Wirtschaftskorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) in Berlin, Christoph Eisenring, wird Deutschland verlassen und in die Schweiz zurückkehren. Zum Abschied widmete er sich noch einmal der Entwicklung, die Deutschland in der Zeit seiner Tätigkeit genommen hatte – und kam nicht umhin, dabei den Begriff des „Staatsversagens“ zu verwenden. Paradoxerweise geschehe dies in einem Land, in dem es zunehmend zum guten Ton gehöre, nach dem Staat zu rufen.

Als Eisenring erstmals aus Deutschland berichtet hatte, fand gerade die Fußball-WM 2006 statt. In jener Zeit, als das Land einen zuvor weitgehend ungekannten, unpolitischen und von einer Aufbruchsstimmung begleiteten Patriotismus erlebte, nahm auch der Schweizer Korrespondent Deutschland als einen „sympathischen europäischen Hegemon“ wahr.

Zwar wurde diese Entwicklung damals schon mit Argwohn von links verfolgt. Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye beschwor angebliche No-Go-Areas für Dunkelhäutige in Ostdeutschland, die GEW warnte vor zu viel Schwarz-Rot-Gold und eine PDS-Abgeordnete rief dazu auf, Fan-Fähnchen gegen politische T-Shirts einzutauschen. Der Normalbürger ließ sich das Großereignis jedoch nicht vermiesen und feierte mit Gästen aus aller Welt das „Sommermärchen“.

Untergangsbeschwörungen und Sehnsucht nach der Öko-Diktatur

Die gute Stimmung hielt noch für einige Zeit nach der WM an – und dürfte dazu beigetragen haben, dass die damals angeschlagene Wirtschaft, an die auch Eisenring erinnert, im Laufe der darauffolgenden Jahre die Trendwende schaffte. Mittlerweile erinnert nichts mehr an die Massenarbeitslosigkeit Mitte der 2000er Jahre – aber auch nichts mehr an die positive Stimmung des Sommers des Jahres 2006.

Eisenring diagnostiziert eine „Lust an der Apokalypse“ in einem Land, das einen „unruhigen, zuweilen fiebrigen Eindruck“ mache. Politisch rechts steht der NZZ-Korrespondent dabei zweifellos nicht, kritisiert er doch in diesem Zusammenhang zuallererst die AfD, deren Anhänger „die Zustände in Deutschland in düstersten Farben“ malten und die einen „blanken Hass“ auf Kanzlerin Angela Merkel an den Tag legten, der „nicht zu rechtfertigen“ sei. Dass die AfD in Ostdeutschland so stark sei, interpretiert er als eine Folge der „Altlasten des Kommunismus“ und der Abwanderung.

Allerdings ist der Wirtschaftsexperte auch auf dem linken Auge nicht blind. Sorgen bereite ihm, dass die Diskussion über den Klimawandel zunehmend autoritäre Züge trage. Eisenring verweist auf einen Titel „Öko-Diktatur? Ja, bitte!“ im „Freitag“ Anfang des Jahres und an einen kürzlichen Kommentar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in dem an die Politik appelliert wurde, die Bürger mittels gezielter Preissteigerungen für Fleisch, Autofahren und Fliegen von diesen vermeintlichen Lastern zu befreien.

„Wenn man nicht weiterweiß, ruft man in Deutschland schnell nach dem Staat“ lautet sein Fazit. Die „Energiewende“ stelle eine solche planwirtschaftliche Übung dar, die für den Verbraucher die Strompreise in die Höhe getrieben habe, ohne einen erkennbaren Nutzen fürs Klima zu bewirken. Ähnliches gelte für die Dieselfahrverbote.

Aus Erfahrung nicht klug geworden

Deutschland leide, so Eisenring, an einem sogenannten Gulliver-Syndrom:

Unter Merkels Wacht wurden zahlreiche Regelungen eingeführt, die jede für sich genommen den Riesen nicht an den Boden fesselt, doch in ihrer Gesamtheit für die Wirtschaft lähmend wirken: Mindestlohn, Rente mit 63, faktisches Fracking-Verbot, Rabattverbot für Versandapotheken, Preisbindung für E-Books, Tarifeinheitsgesetz, Entgeltgleichheitsgesetz, Mietpreisbremse, Frauenquote für Aufsichtsräte, höhere Hürden bei Übernahmen durch Ausländer – die Liste ließe sich verlängern.“

Weitere bedenkliche Entwicklungen sei der Ruf nach Enteignung und staatlicher Bewirtschaftung von Wohnraum, obwohl die Erfahrungen der DDR noch frisch genug sein müssten, um die Folgen abschätzen zu können.

Generell wirke der Ruf nach mehr Staat paradox angesichts der Leistungen, die dieser in jüngster Zeit vorzuweisen habe. Die Bauverzögerungen rund um den Hauptstadtflughafen BER seien das prominenteste Beispiel dafür, dass weniger ein stetig behauptetes „Marktversagen“, sondern ein reales Staatsversagen dem Land schade.

Staatsversagen besorgniserregenden Ausmaßes

Dieses habe, so der NZZ-Experte, „besorgniserregende Ausmaße“ angenommen. In der Infrastruktur hinke man selbst in Gewerbegebieten mit dem schnellen Internet hinterher, Unpünktlichkeit bei Fernzügen sei eher die Regel als die Ausnahme.

Dazu kämen Kontrollverluste, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Zustrom von einer Million Migranten ab September 2015, die zunächst nicht einmal registriert wurden, oder die Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16, die vonseiten der Polizeiführung zunächst heruntergespielt worden seien. Aber auch im Zusammenhang mit linksextremen Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg 2017 oder rechtsextremen Vorfällen am Rande von Protesten in Chemnitz 2018 habe der Sicherheitsapparat versagt.

Deutschland habe im Laufe der vergangenen 30 Jahre gleich drei größere Herausforderungen zu bewältigen gehabt, resümiert der NZZ-Korrespondent – von der Wiedervereinigung über die Agenda 2010 bis zur Flüchtlingskrise. In der kommenden Dekade könnte, so Eisenring, eine weitere bevorstehen:

Vielleicht einen Föderalismus, der diesen Namen verdient, weil er den Gemeinden und Menschen vor Ort mehr Autonomie verschafft, oder eine Umweltpolitik, die der Emission von CO2 einen Preis gibt und die planwirtschaftliche Energiewende ablöst.“

Dazu müsse das Land sich jedoch stärker von der Freiheitserfahrung des Jahres 1989 inspirieren lassen.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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