Zu hoch gepokert? Fall Nawalny könnte dem Kreml auch bei bisher loyalen Putin-Anhängern schaden

In einem Beitrag für die „Wiener Zeitung“ hält Osteuropa-Experte Alexander Dubowy Russlands Präsident Putin zumindest indirekt für mitverantwortlich am Giftanschlag auf Alexej Nawalny. Es sei jedoch möglich, dass tiefe Strukturen im Kreml ohne sein Wissen agierten.
Titelbild
Das Hauptgebäude der Charite in Berlin-Mitte, wo der russische Oppositionsführer Alexej Navalny, behandelt wird.Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP über Getty Images
Von 18. September 2020

Der Kreml bestreitet nach wie vor jede Verantwortung für die versuchte Vergiftung des nationalistischen Publizisten und Regierungskritikers Alexej Nawalny. Neben der toxikologischen Untersuchung vom 2. September durch ein Speziallabor der Bundeswehr haben mittlerweile auch Speziallabore in Frankreich und Schweden am Montag (14.9.) bestätigt, dass Nawalny ein chemischer Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe zugeführt wurde.

In der „Wiener Zeitung“ befasste sich nun der Experte für Internationale Beziehungen, Alexander Dubowy, mit möglichen Hintergründen und Folgen für Russland.

Putin verantwortlich für Mängel im Rechtsstaat, aber nicht zwingend Auftraggeber

Seine Einschätzung lautet: Es sei ungewiss, ob und inwieweit der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, selbst in den mutmaßlichen Mordversuch an dem Investigativjournalisten eingeweiht war und diesen abgesegnet habe. Zwar trage er nach 20 Jahren an der Macht die politische Verantwortung für erhebliche rechtsstaatliche Mängel in Russland und dafür, dass die versuchte oder vollendete gewaltsame Ausschaltung von regierungskritischen Persönlichkeiten immer noch mit einem sehr geringen Risiko persönlicher Konsequenzen verbunden sei. Putin treffe insofern zumindest „indirekte Schuld“ an dem Vorfall, der Nawalny beinahe das Leben gekostet hätte.

Dubowy warnte jedoch auch vor vorschnellen und eindimensionalen Schuldzuweisungen an den Präsidenten persönlich. Die russische Macht- und Elitenstruktur sei keineswegs homogen. Das von Putin-Gegnern im Ausland gerne gezeichnete Bild vom allmächtigen Despoten im Kreml, der alle Fäden in der Hand halte und bei Bedarf aus einer bloßen Laune heraus Killer in die Welt ausschicke, sei unzutreffend – und dies mache die Angelegenheit noch prekärer:

„Der Kreml hat viele Türme, insofern kann die Vergiftung auch durch einflussreiche Vertreter der mächtigen Elitengruppen (etwa Ewgenij Prigoschin, Herr über (Gift-)Küche und private Armeen) mit Hilfe einzelner Geheimdienstler erfolgt sein. Sie könnte aber auch mit Nawalnys jüngsten Investigativaktivitäten zusammenhängen. Vor seiner Vergiftung untersuchte er mutmaßliche kriminelle Machenschaften der Abgeordneten von ‚Einiges Russland‘ im Stadtrat von Nowosibirsk.“

Kontrollverlust des Kreml?

Der politische Mord habe offenbar aufgehört, die alleinige Prärogative des Staates zu sein – auch scheint der Zugriff auf Nervenkampfstoffe kein ausschließliches Monopol der russischen Staatsspitze mehr zu sein. Für den Kreml ergäben sich daraus zwar äußerst unangenehme Fragen, angefangen von der Herkunft des Giftes über die nach den Auftraggebern bis zur Frage, welche Versäumnisse den offenbaren Kontrollverlust über tiefstaatliche Elemente und deren Instrumente bewirkt hätten.

Andererseits eröffnete dieses Szenario auch mögliche Antworten auf die Widersprüche im Zusammenhang mit der Frage nach Kosten und Nutzen des Vorgehens. Immerhin hatten Skeptiker jedwede Motivation des Kremls bestritten, überhaupt ein Vorgehen dieser Art gegen Nawalny zu dulden. Immerhin verfügt dieser außerhalb der Großstädte weder über einen nennenswerten Bekanntheitsgrad noch wächst seine Beliebtheit in den Himmel. Ihm durch einen Anschlag auf sein Leben einen Märtyrerbonus zu verschaffen und dazu noch Sanktionen und gar ein Ende des Pipeline-Projekts „Nord Stream 2“ zu riskieren, würde für Putin ein zu großes Risiko bei einem zu geringen Vorteil bedeuten.

Gelungenes Attentat wäre mit geringem Risiko verbunden gewesen

Dubowy relativiert diese Überlegung, indem er darauf hinweist, dass Nawalny zwar als eigenständiger politischer Akteur chancenlos wäre, aber als Investigativjournalist im Kampf gegen die Korruption durchaus Beachtung fände und der Kreml-Partei „Einiges Russland“ bereits mehrfach in Kommunalwahlen geschadet habe, indem er unter dem Banner des „Smart Votings“ seine Anhänger zur Stimmabgabe für den jeweils aussichtsreichsten Gegenkandidaten aufgerufen habe. In Nowosibirsk und Tomsk hatte damit Erfolg – und im nächsten Jahr könnte diese Taktik die Kreml-Kandidaten Mandate kosten.

Darüber hinaus hätte – was Dubowy ebenfalls erwähnt – ein gelungenes Attentat im Inland kein Anlass für Sanktionen gegeben: „In Bezug auf potenzielle westliche Sanktionen ist zu beachten, dass es dazu bei einer erfolgreichen Vergiftung Nawalnys keinen Anlass gegeben hätte. Diese erfolgte im russischen Inland, und die Behörden wären nach seinem Tod alleinige Herren über das Narrativ gewesen. Tatsächlich war sein Überleben einer Verkettung mehrerer günstiger Umstände geschuldet, etwa der schnellen Reaktion des Piloten und des Rettungsarztes. Die Einbindung des westlichen Auslands kam zudem völlig unerwartet.“

„An Nawalny wird Nord Stream 2 nicht scheitern“

Das Scheitern des Anschlages könnte dem Kreml nun jedoch tatsächlich unerwünschte Konsequenzen verschaffen. Der Heldenbonus für Nawalny sei dabei vielleicht noch das geringste Problem.

„Nawalnys Vergiftung könnte zu einem zentralen Bestimmungsfaktor für die Beziehungen zwischen Russland und der EU werden, von der Verhängung individueller Sanktionen bis zu einem umfassenden europäischen Pendant zum US-‚Magnitsky Act‘ ist vieles denkbar“, schreibt Dubowy. „Sehr wahrscheinlich bildet die Causa den endgültigen Auslöser für eine tiefe Zäsur, von einer hybriden Entfremdung hin zu einem offenen Konflikt.“

An ein Ende von Nord Stream 2 glaubt er hingegen nicht. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel werde zwar als „taktische Finte“ eine harte Position gegen Russland in Sachen Nawalny einnehmen, das strategische Eigeninteresse Deutschlands an der Pipeline dürfte jedoch die Bereitschaft, ein Aus zu riskieren, drastisch begrenzen.

Russland könnte auch unter Putin-loyalen Kräften an Autorität einbüßen

Dubowy geht auch davon aus, dass die Nawalny-Affäre dem Kreml unter den in westlichen Medien als „Putinversteher“ geschmähten Befürwortern einer Annäherung an Russland schaden könnte. Immerhin präsentiere Moskau inklusive seiner Auslandsmedien immer wieder neue Spekulationen und einander widersprechende Erklärungen zur Vergiftung des Investigativjournalisten – in der offenbaren Hoffnung, diese Verschleierungstaktik reiche aus, um angesichts des Misstrauens vieler Teile der westlichen Bevölkerung in die eigenen Medien und deren Russlandberichterstattung die Sache ad acta legen zu können.

Die Summe der Fälle von Übergriffen auf Kreml-Kritiker und deren Häufigkeit, gepaart mit medialen Blendgranaten, so Dubowys Fazit, „lässt sogar bei loyalsten Putin-Anhängern ernste Zweifel an der Unschuld des Kremls aufkommen und führt zu einer schleichenden Erosion“.

Auf diese Weise werde Nawalny „aus einem minder erfolgreichen und relativ unbekannten Oppositionspolitiker schrittweise zum Symbol für den moralischen Legitimitätsverlust der alternden russischen Führung und zu einem wichtigen Faktor der russischen Innenpolitik“.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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