Egon W. Kreutzer: Hundert Prozent Ökostrom?

Dass Vodafone in Europa komplett auf Grünstrom umstellt, am 23. Juni von „dpa“ ausgesendet und auch hier veröffentlicht, veranlasste unseren Gastautor Egon W. Kreutzer zu einer Nachprüfung, ob das realistisch ist.
Von 25. Juni 2021

Immer mehr Unternehmen betreiben ihre Image-Werbung mit der Behauptung, bald gänzlich klimaneutral wirtschaften zu wollen, schon jetzt nur noch Ökostrom zu beziehen oder dies zumindest für die allernächste Zukunft ernsthaft anzustreben.

Hinter diese Aussage gehört ein sehr großes Fragezeichen.

Die Werbebotschaft hält einer ernsthaften Nachprüfung nämlich überall da nicht wirklich stand, wo Strom aus dem Netz bezogen wird. Zuletzt hat wohl Vodafone über die „dpa“ verbreiten lassen, an allen Standorten in ganz Europa ab dem 1. Juli 2021 nur noch Ökostrom zu verbrauchen, soweit die Stromlieferung nicht über den Vermieter der jeweiligen Räumlichkeiten veranlasst wird.

Wenige Grundkenntnisse in Physik oder Elektrotechnik reichen allerdings aus, um diese Behauptung vollständig zu widerlegen:

  • Im europäischen Verbundnetz existiert ausschließlich „Strom“.
    Die Unterscheidung in Atomstrom, Solarstrom, Biogasstrom, Wasserkraftstrom oder Windstrom ist mit der Einspeisung in das große gemeinsame Netz nicht mehr möglich. Was beim Abnehmer an der Steckdose ansteht, ist ein Gemisch aus den Angeboten aller Einspeiser. Wie der insgesamt zur Verfügung stehende Strom im Detail entstanden ist, das wird zwar gemessen, aber es gibt keine technische Möglichkeit, irgendeinem Abnehmer ausschließlich Strom aus sogenannten erneuerbaren Quellen anzuliefern. Das ist genauso unmöglich, wie es unmöglich ist, aus der Donau in Budapest reines Isar- oder Lechwasser zu schöpfen.
  • Die Anteile des Stroms aus unterschiedlichen Erzeugungsarten sind ganz erheblichen Schwankungen unterworfen.
    Am 23. Juni 2021 um 4 Uhr morgens lag die Gesamtstromerzeugung in Deutschland bei 48,327 Gigawatt. Der Anteil von Strom aus konventioneller Erzeugung lag zu diesem Zeitpunkt bei 78,43 Prozent.
    Am 9. Januar 2021 um 18.00 Uhr wurden insgesamt 66,764 Gigawatt erzeugt. 9,37 Prozent davon stammten aus Biomasse und Wasserkraft. 2,85 Prozent aus Windkraft (onshore+offshore). Die Photovoltaik leistete zu diesem Zeitpunkt keinen Beitrag.
    Es gibt aber auch Tage mit hohem Ertrag der erneuerbaren Energien.
    Am sonnigen 17. Juni 2021 um 12 Uhr wurden insgesamt 83,569 Gigawatt zur Verfügung gestellt. Alleine der Strom aus Photovoltaik hatte daran einen Anteil von 40,48 Prozent, die konventionellen Kraftwerke lieferten 41,80 Prozent, der Gesamtanteil der Erneuerbaren lag zu diesem Zeitpunkt also tatsächlich bei stolzen 57,2 Prozent. Diese Informationen sind hier frei zugänglich im Internet zu finden.
    Daraus folgt, dass auch dann, wenn ein Abnehmer einen Ökostrom-Tarif abschließt, und sein Stromversorger Ökostrom von Ökostrom-Erzeugern einkauft, für keinen Zeitpunkt sichergestellt sein kann, dass tatsächlich so viel Ökostrom ins Netz gelangt, wie zu diesem Zeitpunkt von den Öko-Tarif-Kunden abgenommen wird, und umgekehrt, dass auch viele Abnehmer, die keinen Ökostromtarif haben, an guten Sonnen- und Windtagen zu fast 60 % Ökostrom
    erhalten. Je mehr Großabnehmer aus der Wirtschaft sich den Orden „100 % Ökostrom“ an die Brust heften, desto unwahrscheinlicher wird es jedoch, dass der von ihnen insgesamt „bezahlte“ Ökostrom auch tatsächlich ausreicht, um deren Bedarf immer dann zu decken, wenn der Strom benötigt wird.
  • Mit 100 % Ökostrom zu werben, ist nur dann im Wortsinn „Lauterer Wettbewerb“, wenn der Ökostrom in eigenen oder vertraglich gebundenen Anlagen permanent selbst erzeugt wird und ohne Kontakt mit dem Netzverbund an den Verbrauchstellen angeliefert wird. Ansonsten bedient man sich, wie alle anderen, einfach aus dem Mix des Angebots.

Der Trick mit den Zertifikaten

Es gibt „gute“ Ökostromzertifikate, mit denen dem Erzeuger bestätigt wird, dass sein Strom Ökostrom ist und dieser auch physisch in das Netz eingespeist wird, dass er – je nach Art des Zertifikates – außerdem einen Teil der Kundengelder in den Ausbau der erneuerbaren Energien investiert oder einen Beitrag zur Systemintegration leistet und dass, beziehungsweise mit welchen Einschränkungen, der Strom zeitgleich mit dem Verbrauch geliefert werden kann.

Es gibt auch „wundersame“ Ökostromzertifikate. Hier ist zum Beispiel das RECS-System (Renewable Energy Certificate System) zu nennen, bei dem es gelungen ist, den „werbewirksamen“ Mehrwert der Bezeichnung „Ökostrom“ vom physikalischen Strom abzukoppeln und in frei handelbaren Zertifikaten in den Markt zu werfen.

Wo also in europäischen Regionen aus geologischen und meteorologischen Gründen sehr viel Strom aus Wasserkraftanlagen zur Verfügung steht, der im heimischen Markt zu sehr niedrigen Preisen angeboten wird, ist es möglich, z.B. für „Jahresstrommengen“ Zertifikate an Versorger oder Endkunden zu verkaufen, damit diese sich mit dem Label „100 % Ökostrom“ schmücken können. Eine Kopplung zwischen Lieferzeitpunkt und Verbrauchszeitpunkt besteht nicht. Es genügt, die zertifizierte Zusage zu haben, dass der Erzeuger irgendwann die zertifizierte Strommenge auch ins Netz einspeisen wird.

Durch den regen Handel mit solchen Zertifikaten ist es nicht mehr nachprüfbar, ob dabei nicht Kohle-, Atom- oder andere Stromsorten mittels Zertifikaten zu Ökostrom umetikettiert wurden (sagt Wikipedia).

Fazit

Der Strommix aus der Steckdose besteht zu wechselnden Anteilen aus konventioneller und regenerativer Erzeugung. 100 % Ökostrom zu verbrauchen ist für den Abnehmer aus dem Netz physikalisch unmöglich. Was der Abnehmer machen kann, ist, …

  • einen sogenannten Ökostromtarif abzuschließen, der auf Basis diverser, zum Teil umstrittener Zertifizierungen gestaltet ist,
  • und dann für die Bezeichnung „Ökostrom“ (und deren werbliche Verwendung) einen (geringen) Aufpreis zu entrichten.

Der Autor Egon W. Kreutzer ist Unternehmensberater, Publizist und Buchautor. Seine Website: www.egon-w-kreutzer.de



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