Macrons entscheidende Bewährungsprobe

Macron versucht ein Problem zu lösen, mit dem so gut wie alle europäischen Nationen konfrontiert sind: Es fehlen die Arbeitskräfte. Diese Katastrophe hat zwei Hauptursachen, die alle rund um das Stichwort „Babyboomer“ festzumachen sind. Haben die 68er „vergessen“, so viele Kinder in die Welt zu setzen, wie nötig wären? Eine Analyse.
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Seit 2017 drängt Emmanuel Macron darauf, dass die Franzosen „mehr arbeiten müssen“, damit das Rentensystem hält. Die Menschen protestieren, angeführt von den Gewerkschaften wie hier in Rennes, Westfrankreich am 10. Januar 2023: der Vorsitzende der Gewerkschaft Force Ouvriere Fabrice Lerestif vor Porträts von Premierministerin Elisabeth Borne, Präsident Emmanuel Macron und Arbeitsminister Olivier Dussopt.Foto: DAMIEN MEYER/AFP via Getty Images
Von 16. Januar 2023

Französische Kommentatoren kommen nicht aus dem Staunen heraus: Emmanuel Macron setze sehenden Auges einen Krieg fort, den er nur verlieren könne, dessen erste Schlacht er auch schon verloren hat.

Deutsche Ökonomen und Politikexperten zeigen sich hingegen beeindruckt: Der französische Staatspräsident sei derzeit fast der einzige Spitzenpolitiker in Europa, der sich mit voller Energie für etwas zwingend Notwendiges in den Kampf begibt, auch wenn er damit höchstwahrscheinlich massiv an Popularität verliert; während fast überall sonst politischer Populismus alles Unangenehme auf die lange Bank schiebt – und zwar so lange, bis es zu spät ist.

Es geht um Macrons neuerlichen Anlauf, das Rentenantrittsalter deutlich hinaufzusetzen, nämlich vereinfacht auf den Punkt gebracht (angesichts des überaus unübersichtlichen und komplexen Rentensystems Frankreichs) von 62 auf 64 bis 65 Jahre.

Ein unfinanzierbares System

Das französische Altersversorgungssystem droht in wenigen Jahren unfinanzierbar zu werden. Diese Gefahr ist auch deshalb so groß, weil die französischen Pensionen einen deutlich höheren Prozentsatz der Aktivbezüge ausmachen als in vielen anderen Ländern. Das kümmert freilich die meisten Franzosen nicht.

Sie lehnen mehrheitlich ganz klar eine Erhöhung des Antrittsalters ab. Ausländische Kritiker sehen darin eine massive Verdrängung der Fakten und eine Bestätigung des Images des Franzosen, dass ihnen das gute Leben wichtiger sei als die Frage, wie das denn finanziert werden kann.

Macron hat eine solche Reform schon einmal versucht, musste den Anlauf aber unter dem Druck massiver Proteste und dem Einsetzen der Corona-Pandemie abbrechen. Damals war ein explosives Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu fürchten. Da schien eine Maßnahme problematisch, welche die Anzahl der Menschen noch erhöht, die sich um die weniger gewordenen Arbeitsplätze balgen.

Inzwischen ist aber die Pandemie kaum mehr ein Thema. Inzwischen hat der Arbeitsmarkt fast europaweit ein ganz anderes und noch dazu rasch wachsendes Problem: zu wenige Arbeitskräfte. Für zahllose qualifizierte Jobs werden dringend Arbeitskräfte gesucht.

Längst gibt es auch aus den südlichen EU-Ländern kaum noch Menschen, die auf der Suche nach einer interessanten Arbeit bereit sind, ihre Heimat zu verlassen und in ein fremdsprachiges Land zu ziehen. Auch in Osteuropa sind solche Menschen rar geworden. Haben doch die mittel-osteuropäischen Länder einen eindrucksvollen wirtschaftlichen Aufstieg hinter sich.

Wer dort doch noch ins Ausland zu gehen gewillt ist, um mehr zu verdienen, ist primär an Ländern interessiert, wo er die Sprache zumindest in der Schule gelernt hat. Und das ist natürlich Englisch und mit Abstand Deutsch (man erinnere sich an die britische Brexit-Kampagne, wo der „polnische Klempner“ geradezu zum Symbol einer von vielen Briten kritisierten Überfremdung geworden ist). Französisch ist lediglich für Rumänen eine interessante Perspektive.

Zwei Ursachen des Arbeitskräftemangels liegen bei den „Babyboomern“

Die Migranten aus der arabischen Welt, die noch bereit wären zu kommen, werden in Frankreich zunehmend abgelehnt, auch wenn in den Maghreb-Staaten Französisch sehr verbreitet ist. Denn erstens gibt es jetzt schon – nicht zuletzt als Hinterlassenschaft der Kolonial- und Algerienkrieg-Zeiten – fünf Millionen von ihnen in Frankreich. Zweitens hat sich erwiesen, dass Moslems deutlich weniger bereit sind, sich in eine europäische Gesellschaft zu integrieren. Und drittens sind von ihnen überhaupt nur wenige imstande, einen qualifizierten Arbeitsplatz zu übernehmen.

Macron versucht ein Problem zu lösen, mit dem so gut wie alle europäischen Nationen konfrontiert sind: Das ist die demografische Katastrophe, die sich derzeit insbesondere im Mangel an Arbeitskräften mit brauchbarer Ausbildung zeigt. So werden in Deutschland derzeit nicht weniger als zwei Millionen qualifizierte Mitarbeiter gesucht. Und nicht gefunden.

Diese Katastrophe hat zwei Hauptursachen, die alle rund um das Stichwort „Babyboomer“ festzumachen sind:

  • Diese Generation der Geburtenfreude der vor Optimismus strotzenden Nachkriegsjahre geht jetzt im Gleichschritt in den Altersruhestand.
  • Die Babyboomer haben dabei „vergessen“, so viele Kinder in die Welt zu setzen, dass der Bevölkerungsstand der autochthonen europäischen Bevölkerung in etwa gleich bleiben würde. Warum auch immer: Sei es, dass sie eine egoistische Generation sind; sei es, dass niemand mehr wie früher in einer agrarischen Gesellschaft Kinder nur deshalb in die Welt setzt, um billige Arbeitskräfte für den eigenen Bauernhof zu haben; sei es, dass Ende der 60er Jahre die Antibabypille das Vermeiden von Kindern viel leichter gemacht hat.

Zwei Beschäftigte für einen Rentner

Aber nicht nur, dass diese Boomer (die auch als 68er-Generation bezeichnet werden) zu wenige Kinder haben und jetzt in Massen in Pension gehen.

Sie haben auch eine weit höhere Lebenserwartung als alle früheren Generationen. Um nur zwei Zahlen zu nennen: am Beginn des 19. Jahrhunderts betrug – so wie in der gesamten Geschichte – die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa 36 Jahre.

Aus jenem Jahrhundert stammt in vielen Ländern die Grundkonzeption des Pensionssystems mit einem Antrittsalter, das die meisten Menschen damals ohnedies nie erreichten. Heute beträgt die fast alljährlich (mit Ausnahme der Corona-Jahre) steigende Lebenserwartung jedoch 82 Jahre.

Das hat dazu geführt, dass heute rund zwei Aktive einen Rentner erhalten müssen, während sich noch vor 40 Jahren vier die Last aufgeteilt haben. Deshalb ist auch eine so drastische Erhöhung der Rentenbeitragszahlungen der Aktiven, die das Überalterungsproblem lösen könnte, politisch völlig undenkbar.

Daher ist eigentlich völlig klar, dass das System kollabieren muss, wenn die Menschen trotz viel besserer Gesundheit weiterhin gleich früh in Rente gehen wie ihre Vorfahren. Jedoch für die Gewerkschaften ist das gar nicht klar. War es doch für sie Teil ihrer Kernidentität, sogar immer wieder eine Senkung des Antrittsalters erkämpft zu haben.

Macron wirkt mit seinen Plänen, den Pensionsantritt von 62 auf 64 oder 65 zu erhöhen, für viele Franzosen jedenfalls provozierend, obwohl das ohnedies nur in langsamen Schritten erfolgen soll. Sein Ziel im internationalen Vergleich ist durchaus noch milde und wohlfahrtsstaatlich.

Hier die Liste aller Industrieländer, die jetzt schon ein allgemeines Antrittsalter von mindestens 66 Jahren haben: Dänemark, Griechenland, Island, Italien, Niederlande, Portugal, Australien, USA, Spanien, Irland und Großbritannien. Würde man nur das Antrittsalter für Männer berücksichtigen, wäre die Liste noch länger.

Macron hat keine Mehrheit im Parlament

Als ob der Widerstand von Gewerkschaften und einer reformunwilligen Bevölkerung nicht groß genug wäre, muss Macron auch mit einem politischen Problem fertig werden: Seine Regierung hat im Gegensatz zu seinem ersten Anlauf keine Mehrheit mehr im Parlament.

Wohl wären die konservativen Republikaner nicht abgeneigt mitzumachen – aber sie wollen ihren Kaufpreis für Macron naturgemäß sehr hoch ansetzen. Stehen sie doch jetzt schon massiv unter Druck der Le-Pen-Nationalisten von rechts. Da wollen sie sich nicht als billige Mehrheitsbeschaffer bei unpopulären Beschlüssen blamieren.

Frankreichs nächste Wochen werden also noch sehr spannend: auch deshalb, weil viele andere Länder vor der gleichen Herausforderung stehen.

Der Autor

Andreas Unterberger war 14 Jahre Chefredakteur von „Presse“ bzw. „Wiener Zeitung“. Er schreibt unter www.andreas-unterberger.at sein „nicht ganz unpolitisches Tagebuch“, das Österreichs meistgelesener Internet-Blog ist.



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