In Kürze:
- Andrej Babiš’ Bewegung ANO gewinnt die Wahl in Tschechien mit 34,5 Prozent und 80 Sitzen.
- Präsident Petr Pavel berät mit allen Parteien über eine stabile Regierung.
- Brüssel zeigt sich besorgt wegen möglicher Zusammenarbeit mit EU-skeptischen Kräften.
- Prag steuert auf marktorientierte Politik und Kürzungen im Staatshaushalt zu.
Am Sonntag, 5. Oktober, empfing der tschechische Präsident Petr Pavel die Spitzen der im Parlament vertretenen Parteien in der Prager Burg. Den Wahlsieger Andrej Babiš hat er bislang nicht mit der Regierungsbildung beauftragt. Erst sollen die Parteien mögliche Wege zur Bildung einer stabilen Regierung in Tschechien erörtern.
Pavel plant auch, mit Babiš den Umgang mit möglichen Interessenskonflikten zu besprechen. Babiš, dessen Partei ANO mit 34,5 Prozent und 80 von 200 Sitzen die Wahl gewonnen hat, ist Eigentümer des Mischkonzerns Agrofert. Es ist denkbar, dass der designierte Ministerpräsident wie in seiner ersten Amtszeit zwischen 2017 und 2021 die Leitung des Unternehmens einer Treuhand überträgt.
Babiš strebt Minderheitsregierung mit externen Partnern an
Wie bereits in dieser Zeit strebt Babiš auch künftig eine Minderheitsregierung an, die sich bei entscheidenden Abstimmungen der Rückendeckung externer Kooperationspartner versichert. In seiner ersten Zeit als Premier war dies die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM). Künftig sollen die rechtsnationalistische SPD und die neue Autofahrerpartei (AUTO) diese Rolle übernehmen.
Präsident Pavel hatte bereits im Vorfeld der Wahl angekündigt, keine Minister der SPD oder des „Stačilo!“-Linksbündnisses zu vereidigen, zu dem auch die Kommunisten gehören. Beide verdächtigt er, das Land aus der EU und der NATO führen zu wollen. Im Fall des Linksbündnisses hat sich die Debatte erledigt: Dieses kam trotz der Unterstützung unter anderem von Ex-Präsident Miloš Zeman nur auf 4,3 Prozent der Stimmen und ist nicht im Parlament vertreten. Erste Analysen deuten darauf hin, dass beide an den politischen Rändern angesiedelten Kräfte auf den letzten Metern Stimmen an Babiš abgegeben haben.
ANO dominiert das Land – außer in Prag und der tschechischen Diaspora
Pavel wird voraussichtlich Anfang November die konstituierende Sitzung des Unterhauses des Parlaments einberufen. Bis dahin ist mit Klarheit über die künftige Form der Regierung zu rechnen. Alle Parteien der vorangegangenen Regierungskoalition – das bürgerliche Bündnis SPOLU und die diesmal getrennt kandidierenden liberalen Kräfte Stan und Piratenpartei – schlossen ein Bündnis mit Babiš aus.
Der ANO gelang es, in allen Wahlkreisen deutliche Mehrheiten zu erzielen – mit Ausnahme der Hauptstadt Prag und der Diaspora. Nur 3,95 Prozent der Auslandstschechen gaben der Partei von Babiš ihre Stimme. Auch seine möglichen Kooperationspartner SPD und AUTO landeten dort weit unter der Fünf-Prozent-Hürde.
In Brüssel wird der Wahlausgang in Tschechien mit einer gewissen Besorgnis gesehen. Mit der SPD und der AUTO werden voraussichtlich zwei dezidiert EU-kritische Kräfte zumindest indirekt Einfluss auf die Regierung erhalten. Auch Babiš selbst hat seine Position gegenüber Brüssel verändert.
Brüssel reagiert mit Sorge – neue Tonlage gegenüber der EU
Noch bis zur Europawahl 2024 war ANO Teil der liberalen ALDE-Fraktion im EU-Parlament, zu der auch die FDP gehört. Auch die frühere Justizkommissarin der EU, Věra Jourová, gehörte der Bewegung an. Sie war für eine harte Konfrontationspolitik gegenüber Ungarn sowie Polen während der PiS-Regierungszeit und US-Techkonzernen bekannt. Erst im Vorjahr verließ sie ANO – und die Bewegung verließ die ALDE-Fraktion, um sich der Fraktion „Patrioten für Europa“ anzuschließen. Zu den „Patrioten“ gehören auch die ungarische Regierungspartei Fidesz, die italienische Lega und die österreichische FPÖ.
Martin Vokálek, Leiter der Brüsseler Niederlassung des tschechischen
Europeum-Instituts, erwartet jedoch keine radikalen Brüche in der Außenpolitik und gegenüber der EU. Der Sieg von ANO, so Vokálek, sei „keine Überraschung, sondern die Bestätigung eines langfristigen Trends“. Die Unzufriedenheit mit der Regierung von Premier Petr Fiala sei erheblich gewesen. Sie galt als abgehoben, technokratisch und weit von den Sorgen der einfachen Menschen entfernt.
Es werde eine „Änderung des Tons, des Stils und der Prioritäten geben“, erklärte der Think-Tank-Experte weiter.
Babiš gegen Militärhilfe für die Ukraine
Babiš bezeichnet sich selbst als „Friedensstifter“ und hat sich gegen die tschechische Militärhilfe für die Ukraine und für einen möglichst raschen Waffenstillstand ausgesprochen.
Andererseits weiß Babiš um die tief verwurzelte Abneigung gegen Russland in seinem Land. Das Trauma von 1968 – die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Panzer der Sowjetunion und anderer Ostblock-Staaten – prägt Tschechien bis heute. Die Solidarität für die Ukraine und die Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft sind parteiübergreifend groß.
„Wir helfen der Ukraine über die EU, und die EU hilft der Ukraine. Und so werden wir auch weiterhin helfen“, sagte er in einem am Sonntag vom ukrainischen öffentlich-rechtlichen Sender „Suspilne“ veröffentlichten Video. Auf die Frage eines ukrainischen Journalisten, ob er den Antrag Kiews auf EU-Beitritt unterstützen würde, antwortete Babiš, die Ukraine sei „nicht bereit für die EU“. „Wir müssen zuerst den Krieg beenden“, fügte er hinzu.
Tschechien ist unter der von Fiala angeführten Mehrparteienregierung bislang ein entschlossener Verbündeter der Ukraine im Verteidigungskampf gegen Russland. Die bisherige tschechische Regierung hat die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 mit humanitärer und militärischer Hilfe unterstützt. Viele Tschechen hatten ihr aber vorgeworfen, die Probleme im eigenen Land zu ignorieren.
Unter einer von Babiš geführten Regierung könnte das Land sich in dieser Frage der Slowakei und Ungarn annähern, den derzeit Russland politisch am nächsten stehenden EU-Staaten. Babiš versteht sich gut mit dem slowakischen Regierungschef Robert Fico und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán.
Babiš sei jedoch pragmatisch und nicht so ideologisch gefestigt wie Orbán, so der belgische Politologe Jean-Michel De Waele von der Brüsseler Universität ULB gegenüber der tschechischen Nachrichtenagentur ČTK. Entsprechend werde er eher versuchen, tschechische Interessen innerhalb der EU zu behaupten und den Beitrag Prags zur Unterstützung der Ukraine auf das Nötigste zu beschränken.
Babiš-Stellvertreter kündigt Änderung der Prioritäten an
Auch der Vizechef der ANO, Karel Havlíček, hat bereits zur Frage der künftigen politischen Ausrichtung einer Babiš-Regierung Stellung genommen. Er erklärte, die Regierung werde im Einklang mit der Verfassung handeln, und diese sichere die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO ab. Allerdings werde es voraussichtlich kein eigenes Ministerium für die EU mehr geben.
Die Prioritäten der künftigen Regierung würden zudem bei nationalen Themen liegen, die viele Menschen bewegten. Der Haushalt müsse gekürzt werden. Es seien gleichzeitig 40 Milliarden Kronen (circa 1,65 Milliarden Euro) erforderlich, um die Verkehrswege auszubauen. Zudem müsse man etwas gegen die hohen Strompreise unternehmen.
Außerdem würde eine ANO-Regierung wieder zu einer betont marktorientierten Politik zurückkehren. Gegenüber „Denik.cz“ machte Havlíček deutlich: „Ich bin stark marktorientiert. Ich habe immer gesagt, dass die treibende Kraft der Wirtschaft nicht der Staat sein kann, sondern der private Sektor, der Menschen beschäftigen und investieren muss.“
Der Fokus werde auf Wirtschaftswachstum und einer Vermehrung des Wohlstands liegen, erklärte der Babiš-Stellvertreter.
SPD und AUTO wollen in die Regierung eintreten
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Radim Fiala, äußerte, seine Bewegung wolle über eine Regierungsbeteiligung verhandeln. In gleicher Weise hatte sich zuvor bereits Parteichef Tomio Okamura geäußert. Die SPD habe auch kein Referendum über einen Verbleib in der NATO im Sinn. Allerdings strebe man eine Befragung der Bürger über einen möglichen Austritt aus der EU an, da diese ein „bürokratischer Moloch“ sei und einer sinnvollen Wirtschafts- und Migrationspolitik im Weg stehe.
Auch AUTO-Chef Petr Macinka betonte, seine Partei wolle Teil der neuen Regierung sein. Man werde keine Regierung mittragen, die von Parteien der abgewählten Koalition gebildet werde. Gleichzeitig sei keine Regierung ohne die Stimmen seiner Partei möglich.
Analyst Vokálek warnt die EU gleichzeitig gegenüber „České Noviny“ davor, Babiš als „Unruhestifter“ abzustempeln. Wie die Beispiele von Orbán oder dem slowakischen Premier Robert Fico zeigten, könne dies auch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden und Tschechien tatsächlich in eine Konfrontation mit Brüssel treiben.
(Mit Material der Nachrichtenagenturen)