Streit um die Juncker-Nachfolge

Erstmals seit 40 Jahren verfügen Konservative und Sozialdemokraten zusammen rechnerisch nicht mehr über eine absolute Mehrheit im EU-Parlament. Diese ist nötig, um den nächsten Kommissionspräsidenten zu wählen. Die Debatte um den Nachfolger von Jean-Claude Juncker beginnt.
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Margrethe Vestager ist einer der Kandidaten für den Vorsitz des EU-Parlamentes.Foto: EMMANUEL DUNAND/AFP/Getty Images
Epoch Times27. Mai 2019

Nach der Europawahl hat das Rennen um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker begonnen. Vertreter der Fraktionen im Europaparlament wollten noch am Montagabend erste Gespräche über ihre Forderung führen, dass nur ein Spitzenkandidat der Parteien bei der Wahl dem Luxemburger nachfolgen könne. Doch die Mehrheitsverhältnisse sind schwierig.

Bereits am Dienstagabend tagen bei einem Gipfel in Brüssel die EU-Staats- und Regierungschefs, die teilweise andere Pläne haben. So sondiert der französische Präsident Macron die Lage. Macron will nach den Worten von Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye eine „fortschrittliche Allianz“ im Europaparlament bilden, der neben der europäischen Liberalen-Partei Alde noch weitere Kräfte angehören könnten. Offenbar sieht Macron auch den Sozialisten Sánchez als möglichen Verbündeten. Er wollte ihn am Montagabend um 20.00 Uhr im Elysée-Palast empfangen.

Am Dienstag waren nach Angaben aus Macrons Umfeld vor dem Sondergipfel weitere Treffen geplant, unter anderem mit Merkel und EU-Ratspräsident Donald Tusk. Das informelle Abendessen der Staats- und Regierungschefs soll um 18 Uhr beginnen.

Bei dem Gipfel geht es vor allem um die Neuverteilung der EU-Spitzenposten – unter anderem die Nachfolge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Dem deutschen Kandidaten Manfred Weber (CSU) fehlt nach Macrons Einschätzung die nötige Erfahrung.

„Die Demokratie ist am Leben und es geht ihr gut“

Konservative und Sozialdemokraten wurden bei der am Sonntag abgeschlossenen Wahl mit 180 beziehungsweise 146 Sitzen wieder stärkste und zweitstärkste Fraktion im Europaparlament. Beide büßten nach den vorläufigen Ergebnissen aber rund ein Fünftel ihrer bisherigen Mandate ein – zugunsten von Grünen, die ein Rekordergebnis erzielten, und Rechtspopulisten.

Die Wahlbeteiligung erreichte mit 50,94 Prozent den höchsten Wert seit zweieinhalb Jahrzehnten. Sie beendete zudem den seit der ersten Abstimmung über das Europaparlament im Jahr 1979 verzeichneten Trend eines stetig sinkenden Interesses der Bürger an der Abstimmung.

„Die Demokratie ist am Leben und es geht ihr gut“, sagte der Sprecher von Kommissionschef Juncker. Entgegen düsterer Vorhersagen hätten die Populisten und diejenigen, „die Europa zerstören wollen“, die Wahl nicht gewonnen, sondern pro-europäische Kräfte.

Tatsächlich landeten Rechtspopulisten und Nationalisten zwar in großen Ländern wie Frankreich, Italien und Großbritannien auf Platz eins. Die Sitzgewinne im Europaparlament hielten sich aber in Grenzen.

Keine rechnerische Mehrheit für Konservative und Sozialdemokraten

Mit den Verlusten für Konservative und Sozialdemokraten ist die Mitte des politischen Spektrums aber geschwächt. Erstmals seit 40 Jahren verfügen beide zusammen rechnerisch nicht mehr über eine absolute Mehrheit im Europaparlament. Diese ist auch nötig, um den nächsten Kommissionspräsidenten zu wählen.

EVP-Chef Joseph Daul bekräftigte am Sonntagabend, der CSU-Politiker Manfred Weber habe als Spitzenkandidat seiner Partei Anspruch darauf, Nachfolger Junckers zu werden. „Ohne die EVP wird es keine Mehrheit auf Ebene der demokratischen Parteien geben“, sagte er.

Kandidat der konservativen Europäischen Volkspartei für den Kommissionsvorsitz ist der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber. Daneben bewirbt sich auch die Dänin Margrethe Vestager als Spitzenkandidatin der europäischen Liberalen. Timmermans ist Spitzenkandidat der Sozialdemokraten auf europäischer Ebene. Das Vorschlagsrecht haben die Staats- und Regierungschefs der EU, sie benötigen dann aber ein Einvernehmen mit dem Europaparlament.

Die SPD bevorzugt Timmermans

Die Sozialdemokraten forderten den Posten für ihren Spitzenkandidaten Frans Timmermans. Die EVP habe „nicht mehr die Ergebnisse und die politische Kraft, um die Europäische Union und die Europäische Kommission zu führen“, sagte der Fraktionsvorsitzende Udo Bullmann (SPD). Timmermans wolle „eine progressive Allianz“ im Europaparlament schmieden, um Kommissionschef zu werden.

Doch Timmermans‘ Pläne für eine „Regenbogen“-Koalition mit Linken, Grünen und Liberalen sind zerplatzt. Die vier Parteien kommen zusammen im Europaparlament nicht auf die notwendige Mehrheit von 376 der 751 Stimmen, um ohne die EVP einen Kommissionspräsidenten zu wählen.

Die deutsche SPD setzt für die Nachfolge weiterhin auf Frans Timmermans. „Wir sehen ihn als nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission“, sagte SPD-Chefin Andrea Nahles am Montag in Berlin. Timmermans werde in diesem Amt dann „für ambitionierten Klimaschutz streiten“.

„Wir haben eine gute Ausgangsposition, Frans Timmermans zum Kommissionspräsidenten wählen zu können“, sagte auch die deutsche Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley. Die bisherige Bundesjustizministerin gibt ihr Amt auf und wechselt als Europaabgeordnete nach Brüssel.

Andere Vorschläge kommen von den Staats- und Regierungschefs

Am Dienstagvormittag tagen die Fraktionschefs zusammen mit Parlamentspräsident Antonio Tajani offiziell in der sogenannten „Konferenz der Vorsitzenden“. Spätestens dann müsste eine gemeinsame Linie stehen, damit das Parlament das erstmals 2014 erprobte Modell des Spitzenkandidaten aufrecht erhalten kann.

Denn die Staats- und Regierungschefs sehen „keinen Automatismus“ bei der Personalfrage. Sie behalten sich vor, auch andere Bewerber vorzuschlagen. Strikt gegen das Spitzenkandidatenmodell sind insbesondere Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder der Luxemburger Regierungschef Xavier Bettel.

Hinzu kommt, dass das Amt des Kommissionspräsidenten im Verbund mit weiteren Top-Jobs wie dem des EU-Ratspräsidenten und des EZB-Präsidenten vergeben werden soll. Die Besetzung eines Postens hat dabei Rückwirkungen auf die Vergabe der anderen, was Parteizugehörigkeit der Kandidaten und die Herkunft aus großen oder kleinen Ländern angeht. (afp)



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