Land der toten Dichter – deutschsprachige Lyrik heute

Epoch Times30. April 2013

 

Ist die deutsche Lyrik vom Aussterben bedroht? Vor genau 200 Jahren veröffentlichte die französische Autorin Madame de Staël ihr Buch De l’Allemagne, in dem sie die Auffassung vertrat, bei den Deutschen handele es sich um ein „Volk der Dichter und Denker“. Mittlerweile ist diese Formel zum Allgemeinplatz geworden – nur mit der Wahrnehmung der Deutschen als „Dichter“ ist es im Ausland nicht mehr weit her.

Zwar wird durchaus noch deutschsprachige Lyrik in andere Sprachen übertragen: Die Gedichte von Paul Celan etwa sind in über dreißig Sprachen übersetzt, es gibt Gesamtausgaben auf Englisch und Chinesisch, demnächst erscheint eine zehnbändige Ausgabe auf Ukrainisch. Und das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse wurde in über sechzig Sprachen übertragen und ist damit, wie die Leiterin der Abteilung Rechte & Lizenzen beim Suhrkamp Verlag Petra Hardt formuliert, „weltweit das erfolgreichste deutsche Gedicht“. Aber zeitgenössische Lyriker haben es eher schwer.

Unter den noch lebenden Dichterinnen und Dichtern, die bei Suhrkamp erscheinen, liegen nur von fünf fremdsprachige Monographien vor, der letzte große Erfolg eines deutschsprachigen Dichters im Ausland liegt Jahrzehnte zurück: „Das war“, so Hardt, „in den Siebzigerjahren Hans Magnus Enzensberger mit seiner politischen Lyrik“. Beim Hanser-Verlag ist die Situation ähnlich: „Wenn ich im Jahr zwei Verträge für Gedichtbände etwa von Oskar Pastior oder Herta Müller machen kann, dann freue ich mich“, erzählt Friederike Barakat von der Auslandsrechte-Abteilung. „Im Prinzip ist jeder Lizenzverkaufsvertrag für einen Gedichtband, der dann auch erscheint, ein Erfolg.“

Warum aber ist die jüngere Lyrik-Szene in der ausländischen Verlagslandschaft so wenig präsent? „Die Situation könnte damit zu tun haben, dass deutsche Literaturvermittlung immer sehr marktorientiert betrieben wird“, vermutet die Dichterin und Verlegerin Daniela Seel vom auf Lyrik spezialisierten Verlag kookbooks. „Und Lyrik funktioniert eben nirgendwo über den Markt – man muss andere Kanäle haben: Festivals, Dichter, die aus anderen Sprachen übersetzen, und so weiter.“ Die Literaturwerkstatt lädt daher jeden Sommer internationale und deutschsprachige Dichterinnen und Dichter nach Berlin ein, um im Rahmen der Veranstaltungsreihe VERSschmuggel Gedichte über die Sprachgrenze zu bringen und den Kontakt zwischen Lyrikern aus unterschiedlichsten Kulturräumen zu vertiefen.

An deutschen Kulturinstitutionen im Ausland hingegen wird die Vermittlung von Gegenwartslyrik nur überaus zögerlich oder gar nicht betrieben. Das German Book Office in New York, das deutschsprachige Bücher an nordamerikanische Verlagshäuser vermittelt, hat sich, so Leiterin Riky Stock, „in den letzten Jahren auf Romane, Kinder- und Jugendbuch und Sachbuch konzentriert und nicht aktiv Lyrik angeboten.“ Auch am Goethe-Institut spielt Lyrik kaum eine Rolle: „Wir kaufen so gut wie keine Gedichtbände“, so Edna McCown, Library Project Manager an der New Yorker Dependance: „Lyrik wird einfach kaum ausgeliehen.“

Die in Berlin und New York lebende Schriftstellerin Uljana Wolf bestätigt, dass ihre Verbindungen zu ausländischen Verlagen noch nie über das German Book Office oder das Goethe-Institut zustande gekommen seien, sondern stets über eigene Kontakte: „Die Paarung von Übersetzerin und Lyrikerin muss eben genau passen, damit ein tolles Buch entsteht“. Dessen ungeachtet wäre eine gezielte Förderung deutscher Lyrik im Ausland aus ihrer Sicht durchaus wünschenswert. „Es würde für den Anfang schon reichen, wenn die gegebenen Institutionen ihre strukturelle Blindheit gegenüber der Lyrik aufgeben würden. Das Goethe-Institut in New York zum Beispiel macht keine Veranstaltungen mit Lyrikern, wenn keine gedruckten und verkaufbaren Übersetzungen vorliegen – wie aber sollen die zustande kommen, wenn keine Vermittlung durch Lesungen geschieht?“

Dass es auch anders geht, zeigt etwa der Nederlands Fonds voor de Letteren. Das niederländische Literaturfonds gibt regelmäßig kleine kostenlose Heftchen mit Probeübersetzungen aus dem Werk eines Dichters oder einer Dichterin heraus, die Appetit auf mehr machen sollen: „Da habe ich eine ganze Reihe davon im Regal stehen“, so kookbooks-Verlegerin Daniela Seel. Darüber hinaus findet sie, dass es Orte geben sollte, „wo man sich informieren kann, was gerade passiert in der Lyrik-Szene des jeweiligen Landes beziehungsweise der jeweiligen Sprache.“ Bisher existieren solche Orte vor allem in der virtuellen Welt – zum Beispiel in Form der Webseite lyrikline.org. „Auch international ist das eine der umfassendsten frei zugänglichen Online-Datenbanken für Gegenwartsdichtung in Übersetzung“, so Seel. „Sie weiter auszubauen, wäre ein großer Gewinn.“

Die Literaturwerkstatt Berlin führt eine Kampagne zur Gründung eines Deutschen Zentrums für Poesie. Dieses Poesiezentrum wird Informations-, Arbeits-, Begegnungs- und Veranstaltungsstätte für Dichterinnen und Dichter sein, für die interessierte Öffentlichkeit aller Altersstufen, für Verleger, für Lernende und Lehrende, für Medien und Multiplikatoren aus dem In- und Ausland. (mcd)

Weitere Informationen finden Sie unter www.poesiezentrum.de

 

 

 



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