Experte zu Afghanistan: 20 Jahre falsche Politik – Hunderttausende sind nach Deutschland unterwegs

Deutschland habe 20 Jahre lang eine falsche Politik in Afghanistan gemacht, sagt der investigative Journalist und Nahostexperte Shams Ul-Haq. Dafür werde es nun den Preis in neuen Flüchtlingsströmen zahlen.
Von 4. August 2021

Afghanen, die es sich leisten können, beantragen zu Tausenden Visa, um ihr Land zu verlassen. Sie befürchten einen gewaltsamen Abstieg ins Chaos. Türkische Medien schätzen, dass täglich mindestens 1.000 Menschen aus Afghanistan über den Iran in die rund dreitausend Kilometer entfernte Türkei kommen. Manchmal würden sich ganze Fahrzeugkonvois auf den Weg machen – teilweise sogar mit Armee- und Polizeifahrzeugen, erklärt Thomas Rettig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Er wirft dem Auswärtigen Amt in Berlin vor, die Lage im jüngsten Afghanistan-Lagebericht zu beschönigen.

Suhalil Shaheen, ein Sprecher der Taliban, fordert die Absetzung von Präsident Ashraf Ghani, berichtet „Associated Press“. Zuvor werde es keinen Frieden in Afghanistan geben. Er nannte Ghani einen Kriegstreiber und sprach ihm das Recht ab, zu regieren. Vor einem Waffenstillstand müsse es eine Einigung auf eine neue Regierung geben, „die für uns und die anderen Afghanen akzeptabel ist“, sagte der Taliban-Sprecher. Dann „wird es keinen Krieg geben“.

Viele Afghanen setzen auf die Hilfe von Schleusern, um auf Schleichwegen in die EU-Staaten und nach Deutschland zu gelangen. In Griechenland können sie nicht mit Asyl rechnen, da die zuvor zu passierende Türkei als sicheres Drittland gilt. Damit könnten sie entsprechend abgeschoben werden. Allerdings nimmt die Türkei seit März 2020 keine Migranten aus Griechenland zurück, trotz ihrer Verpflichtung im Flüchtlingspakt 2016.

20 Jahre falsche Politik

Deutschland habe 20 Jahre lang eine falsche Politik in Afghanistan gemacht, sagt der investigative Journalist und Nahostexperte Shams Ul-Haq. Dafür werde es nun den Preis in neuen Flüchtlingsströmen zahlen. Epoch Times sprach mit dem Terror-Experten.

Ul-Haq recherchiert seit zehn Jahren in Afghanistan und Pakistan zu Geschehnissen in der islamischen Welt, er besuchte auch pakistanische Gefängnisse und deutsche Asylbewerberheime. Unter anderem schrieb er das Buch „Eure Gesetze interessieren uns nicht“ über islamistische Vorgänge in deutschen Moscheen.

Deutschland will vermeiden, dass sich die Migrationskrise 2015/16 – bei der viele Syrer ins Land strömten – wiederholt. Was müsste oder sollte dazu getan werden?

Shams Ul-Haq: Die Frage ist doch, was hat Deutschland in Afghanistan hinterlassen? 20 Jahre hat die deutsche Bundeswehr in Afghanistan Milliarden an Steuerzahlergeld ausgegeben. Was aber hat es den Afghanen gebracht? Zudem flossen Unterstützungsgelder vor allem an korrupte Politiker, teilweise auch über Umwege an die Taliban.

Der normale Bürger hat nur minimale Summen der westlichen Hilfen gesehen. Was hat sich die deutsche Regierung bei dieser Politik gedacht? Warum hat sich Deutschland von den USA zu diesem Abenteuer zwingen lassen? Sind die Deutschen so schwach, dass sie sich von der US-Politik zwingen lassen?

Nun ist mit dem Abzug das Dilemma da. Deutschland hat 20 Jahre lang eine falsche Politik in Afghanistan gemacht. Dafür wird es nun den Preis in neuen Flüchtlingsströmen zahlen. Die USA werden keine, wenn überhaupt, Afghanen bei sich aufnehmen. Die Last werden Europa und insbesondere die Deutschen tragen.

Was ist das dringendste Problem?

Wichtig ist, dass vor allem Menschen, die eng mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben, aufgenommen werden. Sie und ihre Familien sind in großer Gefahr, weil sie für die Deutschen gearbeitet haben.

Natürlich bleibt die Gefahr, dass unter den Flüchtlingen getarnte Terroristen ins Land kommen. Es werden durch die Taliban extra solche Schläfer nach Europa geschickt, nicht nur nach Deutschland.

Es wird sich zeigen, wie viel Deutschland aus der Welle 2015/2016 gelernt hat. Es muss eine gute Struktur zur Aufnahme und der Prüfung der Aufnahme geschaffen werden.

Wie viele Afghanen wollen flüchten? Wohin?

Shams Ul-Haq: Die Welle ist schon unterwegs und dürfte von den Deutschen gar nicht zu stoppen sein. Es geht um Hunderttausende. Diese sind schon geflüchtet, nach Pakistan beispielsweise. Pakistan hat die meisten Flüchtlinge aus Afghanistan aufgenommen. Usbekistan hat Flüchtlinge aufgenommen, bis nun die Grenze geschlossen wurde. Auch gingen viele in den Iran.

Natürlich kommt diese Welle auch nach Europa und Deutschland. Und es werden sich dem Strom viele Leute aus anderen Ländern anschließen, aus dem Iran, aus Syrien, aus Afrika. Die meisten flüchten über Iran und die Türkei nach Europa.

Wir werden wieder Bilder sehen, in denen Menschen beim Übersetzen mit dem Schiff sterben werden. Und die türkische Regierung wird es sich wieder mit Millionenbeträgen vergüten lassen, die Leute etwas aufzuhalten.

Was erwartet Afghanistan unter einer Regierung der Taliban?

Shams Ul-Haq: Was eine Taliban-Regierung bedeutet, hat man bereits in der Vergangenheit gesehen. Die Frage ist auch, welche Taliban gemeint sind. Es gibt zurzeit mehrere Gruppierungen unter den Taliban, die Hardcore-Taliban gehören zum Islamischen Staat. Das Land wird wieder so wie vor 9/11. Friseurläden werden schließen, Fahrradfahren und Musikhören werden verboten. Frauen werden nicht zur Schule gehen dürfen und Burka tragen müssen. Nur ist es momentan noch nicht so weit.

Die westlichen Truppen ziehen ab und die Taliban kontrollieren nach eigenen Angaben schon jetzt 90 Prozent des Landes. Einige Orte werden sie in absehbarer Zeit noch nicht erobern können, zum Beispiel die Green Area in Kabul. Diese wird von vielen Soldaten gesichert, auch Städte wie Masar-e Scharif sind noch eine große Hürde.

Was tun die Taliban jetzt?

Die Taliban sind gut organisiert und gnadenlos. Sie lassen Selbstmordattentäter Bomben in Menschenmengen zünden. Das führt wiederum dazu, dass viele Leute zermürbt nachgeben.

In vielen Städten, beispielsweise in Kundus, habe ich mit Menschen gesprochen. Häufig hört man, dass ihnen die Taliban lieber sind als das erneute Aufflammen des Krieges oder dass sie zwischen die Fronten und in ein Blutbad geraten.

Lieber die Macht den Taliban einfach übergeben, als dass wieder Kinder und Frauen umgebracht werden, sagen sie. Gerade auf dem Land sind viele Menschen nicht sehr gebildet, sie unterschätzen die negative Entwicklung des Landes durch eine Taliban-Herrschaft.

Das Land wird jedenfalls wieder zu einer Brutstätte des Terrors. Zugleich ist eine russische Intervention noch nicht auszuschließen.

Wie sollte die westliche Welt mit den Taliban umgehen?

Shams Ul-Haq: Es gibt verschiedene Taliban, das sollte beachtet werden. Es gibt Gemäßigte, die durchaus verhandeln wollen, aber es gibt auch radikale Islamisten.

Die Radikalen wollen auf keinen Fall Verhandlungen mit westlichen Vertretern und der afghanischen Regierung, sie arbeiten mit dem IS zusammen. Sie verstecken sich unter der weißen Flagge mit schwarzem arabischen Schriftzug. Sie sagen, sie haben die ganze Zeit auf den Tag gewartet, an dem sich die internationalen Truppen zurückziehen.

Trotzdem muss man das Gespräch mit diesen Radikalen suchen. Wenn nicht auf diese Hardcore-Taliban um Haibatullah Akhunzada eingegangen wird, werden sie schrittweise und rücksichtslos die Macht erobern. Eventuell sind gewisse Zusagen von ihnen und Kompromisse möglich, wie der Verzicht auf Blutbäder. Längerfristig aber sehe ich schwarz.

Seit 2019 empfängt Peking diverse Gruppen von Taliban-Führern. Wie sehen Sie die Beziehungen zwischen dem künftigen Afghanistan und China?

Shams Ul-Haq: China hat eine kurze gemeinsame Grenze mit Afghanistan. Es sind 76 Kilometer im Gebirge. Die Chinesen beklagen die Unordnung, die die amerikanische Militäraktion hinterlassen hat und sie befürchten einen negativen Einfluss auf ihre uigurische Minderheit, die muslimischen Glaubens ist.

Aber sie sind sehr schlau. Sie verstehen die Taliban als reale politische Macht und haben längst in Peking Verhandlungen mit ihnen aufgenommen. Dabei geht es um die finanzielle Unterstützung Afghanistans und die Wirtschaftsförderung, auch durch chinesische Schürfrechte an Bodenschätzen. Im Gegenzug sagen die Taliban zu, keine islamistischen Terroristen nach China durchreisen zu lassen.

Die Taliban wiederum haben China bereits als „Freund Afghanistans“ bezeichnet. Es finden immer wieder Treffen der Taliban in Peking statt und es fließt viel Geld in die Kasse der Taliban, damit die Taliban keine Terroraktionen in China ausüben.

Hintergrund zur aktuellen Lage

Afghanistans Verteidigungsminister hat die Zivilbevölkerung aufgerufen, zu den Waffen zu greifen und ihren Soldaten beizustehen.

Die Taliban herrschen über über 200 der 388 Distrikte des Landes und die meisten Überlandstraßen. In vielen Distrikten stehen lediglich die Bezirkszentren noch unter Kontrolle der Regierung. Bisher ist keine der 34 Provinzhauptstädte gefallen, es gab Angriffe auf Vororte in Kandahar und Kundus. Die Menschen wurden vielerorts angewiesen, die Häuser nicht zu verlassen, was als Zeichen für bevorstehende Kämpfe gilt.

Zwei der drei wichtigsten Grenzübergänge Afghanistans, Spin Boldak (nach Pakistan) und Islam Kala (nach Iran, mit deutschen Geldern modernisiert) und auch die Grenzübergänge Scher Chan Bandar (zu Tadschikistan) und Hairatan in Balch (nach Usbekistan) sind in der Hand verschiedener Talibangruppen.

Zudem sind wichtige Handelsrouten unterbrochen, die Handelszölle an diesen Routen brächten täglich 4,2 Millionen US-Dollar ein, sagt Vizefinanzminister Khaled Payenda. Diese fielen nun in die Hände der Taliban.

Die Taliban beherrschen zudem die Stadt Torghundi im Norden des Distrikts Herat, über die die meisten Exporte nach Europa und ein Großteil der Gas- und Treibstoffimporte Afghanistans laufen.

Deutschland hat seine Streitkräfte im Rahmen des Truppenabzugs zurückbeordert. Die Soldaten der Bundeswehr sind schon seit Ende Juni komplett aus Afghanistan abgezogen. Berlin überlegt, wie afghanischen Ortskräften, die für die Bundeswehr oder die deutsche Polizei gearbeitet haben, geholfen werden kann. Aktuell leben laut Ausländerzentralregister 281.214 afghanische Staatsangehörige in Deutschland.

Rund 3.000 Menschen haben Aufnahmezusagen für Deutschland erhalten, darunter sind 490 ehemalige Mitarbeiter der Bundeswehr oder der deutschen Polizei. Hinzu kommen durchschnittlich fünf Familienangehörige. Möglicherweise werden Charterflüge organisiert.



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