NATO geschwächt? Absage von „Defender 2020“ verstärkt Sorgen in osteuropäischen Mitgliedstaaten

Die Absage der Übung „Defender 2020“ hat die NATO in ihren Bemühungen, die militärische Mobilität in Europa zu optimieren, gebremst. In osteuropäischen Mitgliedstaaten sorgt dies für Argwohn. Experten warnen davor, die östliche Flanke des Bündnisses zu vernachlässigen.
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Das Militärpersonal beim Entladen eines M1 Abrams Kampfpanzer der 2. Brigade Combat Team, 3rd Infantry Division, am 21. Februar 2020 im Hafen von Bremerhaven. Dieser traf für die internationalen Militärübungen Defender 2020 in Deutschland ein.Foto: PATRIK STOLLARZ/AFP über Getty Images
Von 29. April 2020

Das groß angelegte NATO-Manöver „Defender 2020“ sollte für das westliche Militärbündnis einen weitreichenden Schritt zur Herstellung militärischer Mobilität über die Grenzen der Mitgliedstaaten markieren. Bedingt durch die Corona-Krise sind die Grenzen geschlossen, das Manöver vorzeitig beendet, zehntausende Soldaten mussten unverrichteter Dinge an ihre Stationierungsorte zurückkehren.

Vor allem in den osteuropäischen Bündnisstaaten fürchtet man nun eine Schwächung der Verteidigungskapazitäten – und auch in den USA werden Mahnungen laut, die Verlegungsfähigkeit auf dem europäischen Kontinent weiter als Priorität anzusehen.

Clementine G. Starling von der Transatlantischen Sicherheitsinitiative des Atlantikrats befasst sich in einer Analyse für das Magazin „Defense One“ mit dem aktuellen Stand der Vorwärtsverteidigungsbereitschaft des Bündnisses in Osteuropa.

Defender 2020 als Nagelprobe für Verlegungsfähigkeit

„Es klingt recht einfach, aber Militärs zeitgerecht von Punkt A nach Punkt B bewegen zu können, kann den Unterschied zwischen einer vermiedenen Krise und einem verlorenen Krieg ausmachen“, erklärt Starling. „In der Realität beinhaltet das komplizierte transkontinentale und regionale Verlegungen. In Europa ist die militärische Mobilität besonders komplex, weil sie eine nahtlose Bewegung von Menschen und Material über den Atlantik und mehrere Grenzen und Mitgliedstaaten erfordert.“

Die Ukraine-Krise und die erzwungene Umgliederung der Krim vom ukrainischen in den russischen Staatsverband haben bei osteuropäischen NATO-Partnern die Angst vor möglichen weiteren russischen Gebietsansprüchen verstärkt. Vor allem in Polen und im Baltikum, wo der Kreml noch 1991 gewaltsam gegen Unabhängigkeitsbestrebungen vorgegangen war, misstraut man Moskau und befürchtet, in Konflikte gezogen zu werden, wie sie neben der Ukraine nach dem Ende der Sowjetunion auch etwa in Georgien entstanden waren.

Vor allem in Lettland, Estland und Litauen, wo ethnische Russen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung stellen, befürchtet man, der Kreml könnte diese instrumentalisieren, um Druck aufzubauen.

Russische Militäraktivitäten und Desinformation halten an

Entspannungssignale kommen aus dem Kreml bislang nicht, im Gegenteil, Medien wie die „Welt“ berichten von niedrigschwelligen Signalen, die in osteuropäischen NATO-Staaten als durchaus unfreundlich aufgefasst werden.

So kursierte in Litauen in der Vorwoche ein gefaktes Schreiben des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg an den dortigen Verteidigungsminister Raimundas Karoblis in sozialen Medien. In diesem soll Stoltenberg unter Verweis auf die Zahl der COVID-19-Erkrankungen unter Bündnissoldaten in Osteuropa erklärt haben, dass die NATO „ihre Truppen im Mai 2020 aus Litauen abziehen wird“ – aber immerhin noch „auf eine andere Art mit Litauen zusammenarbeiten“ werde.

Das Schreiben war eine Fälschung, und die Verbände der Enhanced Forward Presence (EFP) bleiben in den baltischen Staaten und in Polen. Der Fake war aber so professionell gemacht, dass sich die NATO zu einem offiziellen Dementi genötigt sah – und damit hatten die Urheber ihr Ziel erreicht. Offenbar war es auch nicht der einzige Vorfall dieser Art. „Desinformationskampagnen“, die gegen die NATO und deren Truppen im Baltikum gerichtet sind, haben, wie ein Diplomat des Bündnisses gegenüber der „Welt“ erklärte, „klar zugenommen“.

Derselbe Diplomat berichtet auch von „bedeutsamen militärischen Aktivitäten Russlands“ auf der anderen Seite der Grenze. Im westlichen Militärdistrikt, der das europäische Russland von der finnischen Grenze bis in den Kaukasus umfasst, und wo 40 Prozent der russischen Streitkräfte konzentriert sein sollen, habe es Mitte März ungeachtet der Corona-Krise ein Manöver gegeben. Zudem habe man russische Kriegsschiffe in der Nordsee und Atombomber über dem Atlantik registriert.

NATO blickt auch mit Besorgnis auf China

Die Aktivitäten seien auf „dem üblichen saisonalen Niveau“, allerdings sei dieses ohnehin erheblich. In Kaliningrad stationierte S-400-Luftabwehrsysteme, nuklear bestückbare Iskander-Boden-Boden-Raketen und neuartige Marschflugkörper würden Moskau ermöglichen, mittels sogenannter Raum- und Zugangsverweigerungsstrategien einen NATO-Nachschub über die Luft unmöglich zu machen.

Zudem stünden Moskau 27 Bataillone aus dem gesamten westlichen Militärdistrikt zur Verfügung, sollte der Kreml tatsächlich eine Invasion im Baltikum beabsichtigen. Die Wahrscheinlichkeit dafür schätzt auch die NATO selbst als gering ein, schließlich hat der Kreml kein Interesse, einen Bündnisfall auszulösen. Entlang der östlichen Flanke des Bündnisses will man sich auf solche taktischen Überlegungen jedoch nicht verlassen.

Die Vorwärtspräsenz sei jedoch nicht nur mit Blick auf das Restrisiko eines russischen Angriffs erforderlich, meint Clementine Starling. Auch Chinas KP-Regime sei aggressiver geworden – mit militärischem Aufbäumen, kurzfristig anberaumten Manövern und Investitionen in kritische militärische Infrastruktur.

Demgegenüber säßen die US-Truppen und ihre Verbündeten in ihren Kasernen fest. Manöver, die zeigen sollten, dass auch die NATO in der Lage sei, schnell und nahtlos Truppen an die Ostflanke zu bringen, wurden abgesagt. Vielversprechende Pläne würden nun verschoben, erforderliche Investitionen zurückgefahren oder in der Priorität zurückgestuft.

„Militärisches Schengen“ als Wunschszenario

Das Jahr 2020 gäbe europäischen Regierungen immerhin noch die Chance, weitreichende Entscheidungen zu veranlassen, um die Bereitschafts-Initiative der NATO langfristig abzusichern. Nationale Erfolge in der Corona-Bekämpfung könnten sicherstellen, dass auch der Fortschritt im Bereich der militärischen Mobilität abgesichert werden könnte. Starling spielt dabei zweifellos auch darauf an, dass mehrere europäische EU-Partner das 2014 beschlossene Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben noch nicht erreicht haben.

Was in führenden Militärkreisen als „Militärisches Schengen“ bezeichnet wird, nämlich die schnelle transatlantische und transnationale Verlegungsfähigkeit von Truppen und Material, sei wichtig, um einen Vorteil ausgleichen zu können, der Russland oder China schon aufgrund der geografischen Gegebenheiten zukomme.

Schritte in die richtige Richtung habe es diesbezüglich auf europäischer Ebene bereits 2018 und 2019 gegeben. So hat die EU ihren „Aktionsplan für militärische Mobilität“ verabschiedet, der auch der NATO zugutekommen soll. Es wurden zudem die Bestimmungen über die Verbringbarkeit dual nutzbarer Infrastruktur gelockert – und auch eine Reform im Bereich der Zölle und Steuern habe dazu beigetragen, Truppen und Munition schneller über Grenzen bewegen zu können.

Droht nach Corona ein Sparen am falschen Fleck?

Die NATO habe wiederum ihren „Enablement Plan“ und ihre Bereitschaftsinitiative auf den Weg gebracht, zwei neue gemeinsame Kommandostrukturen zur Erleichterung von Bewegungen über den Atlantik geschaffen und viele Mitgliedsländer hätten – auch mit Blick auf „Defender 2020“ – in ihre Infrastruktur investiert.

Sorgen bereiteten hingegen Bestrebungen in der EU, die geplanten Mittel von 6,5 Milliarden Euro zur Verbesserung der militärischen Mobilität aus den Verhandlungen zum Langzeitbudget herauszunehmen – wie es etwa die finnische Ratspräsidentschaft vorgeschlagen hatte. Zudem stehe zu befürchten, dass die Erschütterungen durch die Corona-Krise die Mitgliedsländer in Versuchung bringen könnte, am Militär zu sparen.

Dabei dienten Verbesserungen etwa im Bereich des Ausbaus von Bahnstrecken wie beim „Rail Baltica“-Projekt und damit verbundene Kooperationen zwischen der öffentlichen Hand und privaten Unternehmen auch zivilen Anliegen. Dazu kommen notwendige Investitionen in Cyber-Resilienz, die Sicherung von Telekommunikationswegen und die Verbesserung der Transport- und Energie-Infrastruktur.

Für Starling steht fest: „Eine bessere militärische Mobilität wird es erforderlich machen, dass Europa in groß angelegte Infrastrukturprojekte investiert, die zu realisieren Jahre dauern könnte. Dazu machen die Gegner ihre eigenen Planungen. Russland würde im Fall eines Vormarsches nicht darauf warten, dass in Polen eine bestimmte Brücke gebaut ist. Deshalb sollte militärische Mobilität eine Priorität bleiben und eine Investition von heute für morgen.“



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