Russland und „westliche Muskelspiele“

„Ich wundere mich oft, wie der Westen Russland unterschätzt. Das ist für den Westen nicht ungefährlich. Allerdings besteht im gleichen Zug die Gefahr, dass sich Russland selbst überschätzt. Das ist keine gute Ausgangslage", erklärt Russlandexperte Alexander Rahr.
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Russlands Außenminister Sergei Lawrow (R) und seine Amtskollegin Annalena Baerbock nach ihrem gemeinsamen Treffen am 18. Januar 2022 in Moskau.Foto: MAXIM SHEMETOV/POOL/AFP via Getty Images
Epoch Times24. Januar 2022
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Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau sind auf einem Tiefpunkt. Außenministerin Baerbock traf am 18. Januar in Moskau auf ihren russischen Kollegen Lawrow und warb für den Normandie-Prozess.

Mit Blick auf den russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine erklärte Baerbock, dass die „mehr als 100.000“ russischen Soldaten „ohne nachvollziehbaren Grund“ mit „Panzern und Geschützen“ an der Grenze zur Ukraine durchaus als Drohung angesehen werden. Wie reagiert Russland nun? Die Situation erscheint festgefahren.

Angesichts der aktuellen Lage fragten wir den Russlandexperten Professor Alexander Rahr um seine Meinung. Rahr gilt als einer der erfahrensten Osteuropa-Historiker. Er ist Politologe und Publizist und zudem Projektleiter beim Deutsch-Russischen Forum. 

Annalena Baerbock erklärt, dass es schwer sei, den Truppenaufmarsch nicht als Drohung zu verstehen. Robert Habeck meint sogar: Es sei falsch zu sagen, „wir warnen vor einem Krieg”, denn „da ist ja schon Krieg”. Teilen Sie diese Einschätzung?

Russland will mit dem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze – die möglicherweise einmal eine NATO-Grenze wird – Stärke und Entschlossenheit demonstrieren. Es ist natürlich eine Drohung. Putin hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 in Bezug auf NATO-Erweiterungspläne auf ehemalige Sowjetrepubliken oder „Kernländer“ des alten Russlands eine rote Linie gezogen. Der Westen hat ihn nicht Ernst genommen.

Jetzt fordert Putin vom Westen ein klares Nein zur NATO-Osterweiterung. Ich denke, die russischen Sicherheitsinteressen sind vom Westen nicht ausreichend berücksichtigt worden. Russland ist immer noch eine Großmacht. Eine NATO-Expansion in den postsowjetischen Raum würde den europäischen Kontinent – eben wegen der russischen Gegenwehr – instabiler und unsicherer machen.

Russland und der Westen brauchen eine einvernehmliche Konfliktlösung. Aus meiner Sicht würde die Ukraine mit einem Neutralitätsstatus sicherer leben können als in der NATO, wo russische Atomwaffen gegen sie gerichtet sein würden.

Was meinen Sie, hat das Treffen am 18. Januar überhaupt etwas gebracht?

Bundesaußenministerin Baerbock wollte zunächst mit Russland hart und kompromisslos reden. Sie wollte von einer neuen Ostpolitik nichts hören. Sie wollte aus der Nord-Stream-Pipeline eine ewige Ruine auf dem Meeresboden machen. Sie stand zu hundert Prozent auf der Seite der Ukraine. Doch plötzlich erfuhr sie eine Wandlung. Sie sprach von Annäherung, Kompromisssuche und einem „Entspannungsdialog“ über Umwelt-und Klimaschutz. Sie drohte diesmal nicht, obwohl sie in der Ukraine-Frage kompromisslos blieb. Waffen will sie in die Ukraine aber nicht liefern.

Manchen drängt sich der Vergleich zur Krim auf. Droht so etwas in der Ukraine?

Ich schließe nicht aus, dass Russland – wenn die Gespräche mit dem Westen über eine Korrektur der europäischen Sicherheitsordnung scheitern – die abtrünnigen Gebiete der Ostukraine so wie die Krim nach Russland holt.

Die Bevölkerung dort hat allesamt russische Pässe. Allerdings wären dann Russland und der Westen im Kriegszustand. Gegen Russland würden schärfste Sanktionen erlassen, Russland würde sich um ein Militärbündnis mit China bemühen.

Der Westen würde der russischen Wirtschaft enormen Schaden zufügen, aber die sicherheitspolitischen Gefahren wären für den Westen massiv gestiegen. Die USA und die NATO, die gerade in Afghanistan verloren haben, müssten in Osteuropa massiv aufrüsten, der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang wären zurück. Aber die Ukraine selbst stünde in diesem Falle vor einer existenziellen inneren Zerreißprobe. 

Will Russland tatsächlich einen Krieg mit der Ukraine oder den Donbass teilen? Was wäre Russlands Gewinn?

Russland will keinen Krieg. Er würde der eigenen Wirtschaft enorm schaden. Andererseits: Keine russische Regierung, auch eine von Liberalen geführte, würde eine NATO-Erweiterung auf die Ukraine, Georgien oder der Republik Moldau akzeptieren.

Russlands Gewinn in einem ernsten Konflikt mit dem Westen wäre, dass es über das Militärische seinen Großmachtstatus zementieren und eine NATO Erweiterung gewaltsam stoppen würde. Russland würde sich endgültig zum Gegenpol zur EU entwickeln – etwas, was große Teile der russischen Eliten und Gesellschaft wollen.

Warum verlangt Russland in ultimativer Form vom Westen eine Garantie, dass die NATO sich nicht weiter ausdehnen wird?

Putin glaubt, Russland wieder zu einer Großmacht gemacht zu haben. Dafür fordert er Anerkennung. Er sagt, Gorbatschow sei 1990 vom Westen über den Tisch gezogen worden, man habe ihm versprochen, die NATO nicht auszudehnen, doch das sei nirgends schriftlich festgehalten worden.

Putin will das korrigieren, der weiteren NATO Ausdehnung soll vertraglich entgegengewirkt werden. Vor 30 Jahren wurde Russland gesagt: eine NATO-Erweiterung ist nicht gegen Russland gerichtet, ihr Russen braucht keine Sicherheitsängste zu haben.

Jetzt wollen die USA die NATO gerade wegen der russischen „Aggression“ erweitern, sie gießen reinen Wein ein. Russland muss sich angegriffen fühlen. Putin weiß auch, dass Deutschland und Frankreich im Jahre 2008 ein Veto gegen die NATO Erweiterung auf die Ukraine und Georgien eingelegt haben.

Er glaubt, dass in Berlin und Frankreich ein Neutralitätsstatus der Ukraine mit Erleichterung hingenommen werden würde. Ich würde an Putins Stelle jetzt deeskalieren. Sein Ziel hat er erreicht. Der Westen ist gezwungen, sich doch mit Moskau zu arrangieren; er wird die russische Einflußspäre nicht akzeptieren, wirklich leugnen kann er sie nicht.

Sucht Moskau mit seiner unerfüllbaren Forderung nach „Sicherheitsgarantien“ einen Vorwand für eine Invasion, wie einige Medien schreiben?

Warum sind die Forderungen Moskaus unerfüllbar? Ich schließe nicht aus, dass die NATO russische Sicherheitsgarantien jetzt ernst nehmen könnte, ohne sie zu akzeptieren. Man muss ja nicht laut sagen, dass man die Ukraine niemals in die NATO holt. Aber im Stillen tut man genau das – man schiebt das Problem weg.

Eine Invasion Russlands in die Ukraine – die schreiben die westlichen Medien und Hardliner herbei, um Anlass für eine weitere Eindämmung Russlands zu bekommen. Mit dem Abschalten Russlands vom SWIFT Zahlungssystem zu drohen – das sind reine westliche Muskelspiele. So wie Russlands militärische Manöver an der Grenze.

Was mich beunruhigt, ist, dass wir keine Abrüstung und Entspannung mehr fordern. Dabei benötigen wir einen politischen Kompromiss in der NATO-Erweiterungsdebatte, der die europäische Friedensordnung sichert.

Es wird davon gesprochen, dass Moskau den Druck auf die USA und die NATO erhöht. Wodurch geschieht das?

Durch die Demonstration seiner militärischen Stärke. Ein anderes probates Mittel besitzt die russische Diplomatie nicht mehr. Für den Westen hat Russland den Kalten Krieg verloren und hat nichts zu melden. Im Westen glaubt man, Russlands Wirtschaft würde bald einkrachen. Man glaubt auch, Putins Macht sei illegitim und ein Regime Change sei in Russland möglich.

Ich wundere mich oft, wie der Westen Russland unterschätzt. Das ist für den Westen nicht ungefährlich. Allerdings besteht im gleichen Zug die Gefahr, dass sich Russland selbst überschätzt. Das ist keine gute Ausgangslage.

Baerbock sprach von „wirklich fundamentalen Meinungsverschiedenheiten zwischen Russland und Deutschland“, welche sind das?

Russland und Deutschland befinden sich im Werte-Konflikt. Deutschland kritisiert Menschenrechtsverletzungen in Russland, die Verfolgung von Oppositionellen und die Gängelung der Meinungsfreiheit. Die Ukraine ist zu einem Zankapfel zwischen Deutschland und Russland geworden. Deutschland will sich von der Energieabhängigkeit von Russland lösen. Russland verbietet sich die ständige deutsche Kritik an der Innenpolitik und lehnt den westlichen Postmodernismus ab.

Die NATO- und EU-Erweiterung werden als Versuche gesehen, Russland seine traditionelle Einflusssphäre im Osten Europas abspenstig zu machen. Russland erinnert Deutschland an den Vernichtungskrieg Hitlers 1941 und erwartet von Berlin Zurückhaltung bei der Kritik.

Außenminister Lawrow betonte heute nach dem Treffen mit Baerbock, dass sich Russland nicht als Konfliktpartei sieht. Was meint er damit?

Russland besteht darauf, dass die Konfliktparteien im Ukraine-Krieg die Separatisten und die Regierung in Kiew sind. Diese sollen miteinander einen Ausweg aus dem Kriegstreiben suchen.

Russland leugnet seine Rolle bei der Unterstützung der abtrünnigen Gebiete. Das offizielle Kiew weigert sich indessen, die Separatisten als legitime Gesprächspartner anzuerkennen und nennt sie Terroristen. Die Ukraine weigert sich auch, den abtrünnigen ostukrainischen Gebieten eine Autonomie zuzugestehen.

Das Minsker Abkommen, zu dem sich die Ukraine jedoch verpflichtet hat, sieht jedoch eine Autonomie, freie Wahlen und im Endeffekt eine Föderalisierung der Ukraine vor. Deutschland als Vermittler zwischen den Fronten müsste mehr tun, um die Ukraine zur Autonomielösung für den Donbass zu bewegen. Aber Deutschland will die Ukraine nicht kritisieren, um die russische Position nicht zu stärken. Der psychologische Druck auf alle Seiten ist seit Beginn des Konfliktes 2014 sehr groß – er hat das Zeug, noch größeren Schaden in Europa anzurichten.

Wie hoch ist die Chance auf neue Treffen im Normandie-Format, welche die deutsche Bundesaußenministerin immer wieder betont? 

Es gibt keine Alternative zum Normandie-Format (so nennt man die Vierer-Gespräche zwischen Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine) und zu den Minsker Abkommen. Die Alternative wäre ein europäischer Krieg.

Der Konflikt in der Ostukraine verschärft sich, weil keine Seite nachgeben möchte und keine der Seiten schwächer oder stärker wird. Russland machen die westlichen Sanktionen nichts aus. Moskau beharrt darauf, dass die Ukraine nicht der NATO betreten darf.

Die Ukraine wird derweil massiv vom Westen unterstützt, auch militärisch, sodass im Krieg in der Ostukraine eine Patt-Situation entstanden ist. Bei diesem Patt will keine der Konfliktparteien den faulen Kompromiss. Jeder will nur gewinnen. Das verlängert nur den Krisenzustand.

Was könnte ein Ausschluss von Russland von SWIFT bewirken?

Einen Zusammenbruch des gesamten Zahlungssystems in Russland, aber auch eine Beschädigung des Zahlungsverkehrs global. Russland könnte seine Rechnungen im Westen nicht mehr bezahlen, der Westen könnte kein Öl und Gas mehr von Russland kaufen. Die Energiekrise in Europa würde sich verschärfen. Die 4.000 deutschen Firmen auf dem russischen Markt würden pleite gehen, die EU einen wichtigen Exportmarkt in Eurasien verlieren.

Psychologisch wäre die Abschaltung Russlands vom SWIFT eine Kriegserklärung, die schreckliche gegenseitige Beschädigungen politischer, finanzieller und humanitärer Art nach sich ziehen würde.

Welche Rolle spielen die von Lukaschenko an die polnische Grenze gebrachten Migranten aus Syrien?

Das Flüchtlingsproblem an der belorussisch-polnischen Grenze ist entschärft. Die meisten Migranten sind in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Die EU hat an der polnischen Grenze eine unüberwindbare Mauer errichtet, sie wird weitere Flüchtlingswellen vorerst von der EU abhalten. Allerdings ist das Migranten-Problem eines der größten für Europas Zukunft.

Und Lukaschenko hat der EU gezeigt, dass er über Druckmittel auf die EU verfügt, die er bereit ist einzusetzen, wenn ihm westliche Sanktionen missfallen. Anders als Janukowitsch in der Ukraine stellt sich Lukaschenko gegenüber der EU quer und lässt es auf eine Machtprobe mit dem Westen ankommen.

Was haben die Sanktionen gegen Russland bisher erreicht? Welche Karten kann der Westen ausspielen, um Putin von einer weiteren Eskalation abzuhalten?

Die Sanktionen gegen Russland haben Moskau nicht zum politischen Einlenken in der Ukraine gebracht. Im Gegenteil, Russland hat sich wirtschaftlich immer mehr vom Westen abgekoppelt und sich China und Asien angenähert. Westliche Unternehmen, die jahrelang Waren nach Russland geliefert hatten, sind durch russische Gegensanktionen massiv geschädigt worden.

Die EU selbst spaltet sich in Sachen Russland-Sanktionen. Immer mehr EU-Staaten verstehen, dass sie sich durch die Sanktionsspirale selbst geschadet haben. Aus politischen Gründen werden die Sanktionen jedoch nicht gelockert, vermutlich niemals abgeschafft.

Die Frage nach westlichen Möglichkeiten, Putin zu Zugeständnissen zu zwingen, klingt naiv. Sogar kleinere und schwächere Länder wie Iran oder Nordkorea können nicht wirklich zu Zugeständnissen gezwungen werden, sie bauen ihre Atomprogramme trotz Sanktionen weiter aus. Zugeständnisse gewinnt man durch kluge Diplomatie, Kompromisse und erfolgreiche Wirtschaftspolitik.

Spielt Peking in der Sache möglicherweise eine Rolle und welche?

China hält sich aus dem Konflikt Russland-Westen zurück.

Die Fragen stellte Kathrin Sumpf.



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