Schluss mit den Tränen für Argentinien? Steht das Land vor der großen Wende?

In Argentinien lebt der Staat über seine Verhältnisse: Der Staat gibt mehr aus, als er einnimmt. Kann die Abkehr des Landes angesichts der aktuellen erneuten ökonomischen Katastrophe nun gelingen?
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Ein Mann sucht am 12. Mai 2023 auf dem Zentralmarkt in Buenos Aires nach Lebensmitteln. Das argentinische Nationale Institut für Statistik und Volkszählung gab bekannt, dass der Verbraucherpreisindex im April im Vergleich zum März um 8,4 Prozent gestiegen ist.Foto: Luis Robayo/AFP via Getty Images
Epoch Times22. Mai 2023

Erneut ist Argentinien in den Strudel der Inflation geraten. Im Februar 2023 hat die jährliche Geldentwertung über hundert Prozent erreicht und pro Monat beträgt die Inflationsrate 8,4 Prozent. Der jährliche nominale Zinssatz beträgt derzeit 97 Prozent.

Um die Preisinflation wirksam zu bekämpfen und um die Inflationserwartungen einzudämmen, müsste der Zinssatz beträchtlich höher liegen. Aber das würde die jetzt schon schwache Konjunktur hart treffen.

Im vierten Quartal 2022 schrumpfte die argentinische Wirtschaft um 1,5 Prozent gegenüber dem vorherigen Quartal. Allerdings ist die Arbeitslosenquote mit 6,3 Prozent nicht gravierend hoch, was aber damit zu tun hat, dass ein hoher Anteil der Erwerbspersonen unkündbar im öffentlichen Dienst beschäftigt ist.

Hinzukommt, dass rechtliche Restriktionen auch im Privatsektor die Entlassungen stark erschweren. Besser als die Arbeitslosenquote informiert deshalb die „Beschäftigungsquote“ über die Lage am Arbeitsmarkt. Diese Quote, die den Anteil der Beschäftigten an den Arbeitsfähigen bezeichnet, beträgt in Argentinien seit Jahren im Durchschnitt lediglich 42 Prozent. 

Ein Land, das über seine Verhältnisse lebt

Die hohe aktuelle Inflationsrate in Argentinien ist kein bloßer Zufall. Preisinflation ist der sichtbare Ausdruck dafür, dass das Land über seine Verhältnisse lebt. Der Staat gibt mehr aus, als er einnimmt. Während der letzten zehn Jahre betrug das durchschnittliche Budgetdefizit fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Die überschüssigen Staatsausgaben werden durch Kreditaufnahme finanziert und schlagen sich in der Ausweitung der Geldmenge nieder. In Argentinien ist der Geldumlauf der Zahlungsmittel (statistisch als M1 gemessen) von Januar 2020 bis März 2023 um über das Vierfache angestiegen. 

Alarmierend ist die Schwäche des industriellen Sektors. Die derzeitige Kapazitätsauslastung liegt bei 60 Prozent und das Verbrauchervertrauen erreichte mit einem Indexwert von 37 Punkten im April 2023 einen neuen Tiefstand. 

Wie konnte es so weit kommen? Schließlich war Argentinien von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eines der reichsten Länder der Welt. Aber in den 1940er-Jahren geriet das Land in den Strudel des wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus. Argentinien führte den Wohlfahrtsstaat zu einem Zeitpunkt ein, als es noch nicht voll industrialisiert war.

Chronische Staatsverschuldung, hohe Inflationsraten, Defizite in den Sozialleistungssystemen und eine immer weniger wettbewerbsfähige industrielle Basis kennzeichnen bis heute die wirtschaftliche Lage Argentiniens. 

Die Illusion des Reichtums

Die Politik der Umverteilung und des Interventionismus richtete Schritt um Schritt das Land zugrunde. Daran änderte auch die Militärregierung nichts, die das Land von 1976 bis 1983 beherrschte. Die Ideologie des interventionistischen Wohlfahrtsstaates prägt bis heute das Land. Trotz der desaströsen Ergebnisse dieser politischen Ausrichtung setzte auch der derzeitige Präsident Alberto Ángel Fernández die Politik des wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus mit der ungehemmten Ausweitung der Staatsausgaben und den entsprechenden inflationären Konsequenzen weiter fort.  

In den 1990er-Jahren wurde mit der Anbindung der Landeswährung an den Dollar erneut ein fataler Schritt auf dem Weg einer bisher schon katastrophalen Wirtschaftspolitik unternommen. 1991 wurde ein Währungsregime etabliert, das die Konvertierbarkeit des argentinischen Pesos in den US-Dollar zu einem festen Kurs von eins zu eins vorsah. Heute beträgt der offizielle Wechselkurs 231 Pesos für einen Dollar und auf dem Schwarzmarkt zahlt man noch mehr.

Die Währungspolitik der 1990er-Jahre hat den Abwärtstrend nach einer Scheinblüte noch beschleunigt. Zuerst kam es zu massiven ausländischen Kreditzuflüssen. Die Regierung schwamm in Geld und gab es großzügig aus. Der größte Teil der Staatsausgaben entfiel auf Gehälter für Staatsbedienstete. Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor, die traditionell bereits übermäßig hoch war, stieg an, wobei die Gehaltssätze weit über denen des privaten Sektors lagen.

Das Land erlebte erneut die Illusion des Reichtums, den es faktisch nicht mehr gab. Vielmehr beschleunigte dieses Währungsregime die Deindustrialisierung des Landes. Auch in den vergangenen beiden Dekaden ist die Wachstumsrate der industriellen Produktion nahe bei null geblieben. 

„Techno-bürokratischer Klientelismus“

Die überbesetzte und überbezahlte Bürokratie stellt Argentiniens Machtzentrum dar. Die Spitze dieser Hierarchie regiert das Land, indem sie ihre Legitimität aus ihrer Fähigkeit ableitet, ihre Klientel zu versorgen. Das argentinische System des „techno-bürokratischen Klientelismus“ besteht darin, denjenigen Privilegien zu gewähren, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind oder mit ihm verbunden sind, was auch Teile des privaten Wirtschaftssektors umfasst.

Kann die Abkehr des Landes angesichts der erneuten ökonomischen Katastrophe nun gelingen? Ist es möglich, dass sich Argentinien von seinem interventionistischen Wirtschaftssystem mit seiner Abhängigkeit von einem bürokratischen Apparat löst? Wenn schon nicht die Privilegierten der Staatsbürokratie – hat das Volk wenigstens begriffen, dass das Land keine Zukunft hat, wenn es so wie bisher weitermacht?

Für den 22. Oktober dieses Jahres sind in Argentinien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorgesehen. Der gegenwärtig amtierende Präsident Alberto Ángel Fernández hat eine erneute Kandidatur angekündigt. Als Gegenkandidat rückt allerdings immer mehr der 52-jährige Javier Gerardo Milei ins Rampenlicht. Er ist Führer der von ihm geschaffenen La Libertad Avanza und vertritt ein konservativ-libertäres Programm. Milei bezeichnet sich als Anhänger der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und betrachtet sich „philosophisch gesehen“ als Anarchokapitalist.

Javier Milei will einen Reformprozess einleiten, um Schritt für Schritt in den kommenden Dekaden beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu den USA aufzuschließen. Die erste Etappe seines Plans umfasst eine Finanzreform mit Ausgabenkürzungen und Steuersenkungen. Durch eine radikale Währungsreform soll die argentinische Nationalbank aufgelöst werden und die Bürger sollen eine freie Währungswahl erhalten. Langfristig soll das Rentensystem privatisiert werden.

Um die Überbeschäftigung im Staatssektor zu mindern, soll den Bundesbediensteten ermöglicht werden, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, um eine Beschäftigung im privaten Sektor zu finden. Seine Bildungsreform sieht vor, ein Gutscheinsystem für Bildungsausgaben einzuführen, um Anreize für den Schulwettbewerb zu schaffen. Schulen sollen das Recht erhalten, eigenständig Lehrpläne zu entwickeln.

Ein Wahlsieg von Javier Milei wäre eine Sensation. Argentinien hätte endlich die Chance, von der desaströsen Ideologie des wohlfahrtsstaatlichen Interventionismus Abschied zu nehmen, die seit gut 80 Jahren die argentinische Politik beherrscht und aus einem der reichsten Länder der Welt ein Land gemacht hat, in dem heute über vierzig Prozent der Bevölkerung in Armut lebt. 

Zum Autor

Dr. Antony P. Mueller lebt in Brasilien. Er war bis zu seiner Pensionierung Professor an der Bundesuniversität UFS und ist derzeit Dozent an der Mises Academy in São Paulo. Auf Deutsch ist von ihm 2021 „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie“ erschienen und 2023 sein Buch „Technokratischer Totalitarismus“. (Beide erhältlich bei Amazon Deutschland).   

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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